Ein Platz für Bibliotheken und andere Institutionen des intellektuellen und kulturellen Erbes im IST Programm der Europäischen Kommission

von Hans-Georg Stork

Dr. Hans-Georg Stork
Europäische Kommisson
Generaldirektion XIII/E-5
EUFO 1280
rue Alcide de Gasperi
L-2920 LUXEMBOURG

E-Mail: Hans-Georg.Stork@LUX.DG13.cec.be

Mit Ablauf des vierten Rahmenprogramms für Forschung und technologische Entwicklung der Europäischen Kommission (4. RP, 1994 - 1998) endet auch eine fruchtbare Zeit für die Bibliotheken Europas. Das europäische Bibliotheksprogramm, bekannt zuletzt als Sektor (Telematik für Bibliotheken) eines der großen Teilprogramme des 4. RP, konnte in den etwa zehn Jahren seines Bestehens (1988 - 1998) Mittel für immerhin nahezu 100 Projekte und sonstige Aktionen zur Verfügung stellen (vgl. den Aufsatz Offene Grenzen für die Bibliotheken Europas in B.I.T. online, Heft 3/98).

Nun hat das 5. Rahmenprogramm (5. RP, 1999 - 2002) begonnen - mit einigen Neuerungen auch in einem der größten Bereiche, der traditionell von den europäischen Rahmenprogrammen abgedeckt wird, dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien. Bisher gab es hier drei getrennte Förderungsschienen, ESPRIT, ACTS und TELEMATIK-Anwendungen, mit teilweise unterschiedlichen Teilnahmeregeln und jeweils eigenem Management. Diese drei werden nun durch eine einzige ersetzt: durch das Programm Technologien für die Informationsgesellschaft, kurz IST (Information Society Technologies) genannt.

Wie die übrigen vier thematischen Programme unter dem 5. RP, gliedert sich auch IST in

Den Leitaktionen wird der Löwenanteil des verfügbaren Budgets von etwa 3,6 Milliarden Euro zugeteilt. Sie beziehen sich auf:

Vertretern von Institutionen des intellektuellen und kulturellen Erbes (Bibliotheken, Museen, Archive, ...), die beabsichtigen, sich um Projektmittel zu bewerben, sei empfohlen, die Beschreibungen dieser Leitaktionen genau zu studieren, um ihre Projektideen so passend wie möglich einzuordnen. Während es bisher beispielsweise für Bibliothekare relativ einfach war, das ihnen angemessene Angebot zu orten (eben in jenem Sektor Telematik für Bibliotheken), sind die neuen Leitaktionen und die ihnen untergeordneten Aktionslinien noch weniger klientelspezifisch als es einzelne Sparten der Vorgängerprogramme je gewesen sein mochten.

Dennoch: Der gewissermaßen natürliche Hafen für Projekte zum Beispiel aus der Welt der Bibliotheken wird Leitaktion III sein, Multimedia-Inhalte und -Werkzeuge, mit ihren Aktionslinien:

Von diesen Aktionslinien ist in unserem Zusammenhang vor allem die zweite, Digitales Erbe und kulturelle Inhalte, von Interesse. Der offizielle Text weist darauf hin, daß es hier vornehmlich darum geht,

Damit sind aber offenbar keineswegs nur Bibliotheken eingeladen, geeignete Projekte vorzuschlagen oder sich an solchen zu beteiligen. Die Aktionslinie ermutigt vielmehr ausdrücklich zu Partnerschaften zwischen Institutionen, welche - in den meisten europäischen Ländern - traditionell eher separaten Welten angehören. Mit dem auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinendem Etikett "digitales Erbe" soll deutlich gemacht werden, daß mit den heute verfügbaren Technologien ohne weiteres Brücken zwischen jenen ehedem getrennten Welten geschlagen werden können. Durch solche Querverbindungen könnten beispielsweise die Potentiale von Bibliotheksbeständen, musealen Sammlungen und Archiven aller Art dazu genutzt werden, nicht nur neue Wege der Wissensvermittlung zu erproben, sondern auch die Entdeckung bisher verborgener Sachverhalte zu erleichtern oder gar erst zu ermöglichen. Sowohl interessierte Bürger als auch Fachleute der verschiedensten Disziplinen und Berufsgruppen könnten hieraus beträchtlichen Gewinn ziehen.

Erbe ist nicht nur etwas, das wir bekommen. Auch manche Produkte unserer eigenen kulturellen und intellektuellen Kreativität mögen es wert sein, an nachfolgende Generationen weitergegeben zu werden. Und so verweist "Digitales Erbe" auch auf die immer wichtiger werdende Bewahrung und Bereitstellung von originär digitalen Publikationen. Dabei gibt es zweifellos schwierige technische, organisatorische und rechtliche Probleme, deren Lösung nicht nur die Zusammenarbeit der schon genannten Institutionen erfordert, sondern auch und gerade die Mitarbeit einschlägiger Industrien.

Insgesamt führt die Aktionslinie in ein weites Feld für die Anwendung und Erprobung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen, die etwa seit Beginn der neunziger Jahre dem Oberbegriff "digital libraries" zugeordnet werden, einem Begriff, der mit "digitale Bibliotheken" nur ungenau übersetzt ist. Auf der einen Seite sind "digital libraries" strukturierte Kollektionen digitaler Objekte (einschließlich digitaler Surrogate konkreter Gegenstände), welche im allgemeinen über mehrere miteinander vernetzte Loci verteilt sind. Andererseits bezeichnet Digital Libraries (man beachte die Großschreibung) ein multidisziplinäres Forschungsgebiet, in dem sich vorwiegend Informatiker, aber in zunehmendem Maße auch Informations-Wissenschaftler und -Praktiker (einschließlich Bibliothekare, Archivare, Dokumentalisten, etc.) tummeln. Es bezieht seine Substanz aus klassischen Teilgebieten der Informatik, wie etwa Information Retrieval, Datenbanken und Dokumentenverwaltungs-Systemen. Rasante Fortschritte unter anderem in den Speicher-, Scanning-, Netzwerk- und Interfacetechnologien haben wesentlich zu seiner Entstehung beigetragen. Und natürlich die Notwendigkeit, mit einer beständig wachsenden Produktion von Dokumenten aller Art, gestützt auf eine Vielzahl von Medien, fertig zu werden. Eine Notwendigkeit, die auch und gerade für die traditionellen Gedächtnisinstitutionen (Bibliotheken, Museen und Archive) immer drängender wird. Dabei bietet - wie gesagt - die digitale Konvergenz diesen Institutionen eine vortreffliche Gelegenheit, gemeinsam neue Dienste sowohl für ein breites Publikum als auch für spezielle Nutzergruppen zu entwickeln.

Tatsächlich wurde im Rahmen des bisherigen Bibliotheksprogramms bereits einiges an Vorarbeit in diese Richtung geleistet. Es wurden - und werden noch - Projekte gefördert, welche durch wesentliche Stichworte des neuen Programms zumindest teilweise charakterisiert werden können:

Die neue Aktionslinie unter dem IST Programm garantiert also eine gewisse Kontinuität in Bezug auf den Sektor Telematik für Bibliotheken des abgelaufenen Programms Telematik-Anwendungen. Tatsächlich hatte jener Sektor allenfalls in seinen Anfängen einen eher puristischen Anstrich, und besonders in den letzten drei bis vier Jahren sind seine "Außenbeziehungen" erheblich intensiviert worden. Außer in einer breiter angelegten Projektförderung zeigte sich dies in Bemühungen, die Grundlagen für gemeinsame Anstrengungen aller Institutionen des intellektuellen und kulturellen Erbes in Europa zu eruieren und zu präsentieren. Beispielsweise haben die nationalen Verbindungsstellen des Bibliothekssektors Beiträge geliefert zu einem ausführlichen Bericht über die Situation der Bibliotheken, Museen und Archive in den Mitgliedstaaten der EU und der EFTA. Und in Verbindung mit der IFLA-Konferenz 1998 organisierte der Sektor ein vielbeachtetes zweitägiges Seminar zum Thema "Convergence in the Digital Age: Challenges for Libraries, Museums and Archives".

Natürlich können digital libraries nicht nur für die Bewahrung, Weitergabe und Erschließung von intellektuellem und kulturellem Erbe eingesetzt werden, sondern ganz allgemein für die Befriedigung von Informationsbedürfnissen auf vielen Gebieten menschlichen Wirkens. Und in diesem Maße wird es auch Chancen für entspechende Projekte in anderen anwendungsorientierten Teilen des IST Programms geben, zum Beispiel im Rahmen der Leitaktionen I (Systeme und Dienste für den Bürger) und II (neue Arbeitsverfahren und elektronischer Geschäftsverkehr). Hierauf an dieser Stelle detaillierter einzugehen, würde freilich zu weit führen.

Die kreative Anwendung der unter der Überschrift Digital Libraries zusammengefaßten Forschungs- und Entwicklungsergebnisse ist eine Sache und ihre Gewinnung eine andere. Und obwohl das eine nicht strikt von dem anderen zu trennen ist, wurde im IST Programm auch Raum für solche Projekte geschaffen, die eher auf die Gewinnung denn auf die Anwendung von Ergebnissen ausgerichtet sind. Auch damit werden alte Fäden weitergesponnen: So wurde aus Mitteln des ESPRIT Programms (1994 - 1998) eine Initiative des ERCIM (European Research Consortium for Informatics and Mathematics) gefördert, die darauf abzielte, die technologischen Grundlagen von digital libraries durch geeignet zusammengesetzte Arbeitsgruppen untersuchen zu lassen (DELOS Workshops).

Im IST Programm ist die Förderung der Entwicklung neuer Technologien für digital libraries ebenso wie die Förderung ihrer Anwendung im wesentlichen Teil von Leitaktion III, Multimedia-Inhalte und -Werkzeuge. Insbesondere in den Arbeitsplänen der Aktionslinien Informationszugang, -filterung, -analyse und -handhabung (AL5) und, mit etwas weniger Gewicht, Sprachtechnologien (AL4), werden einschlägige allgemeine und anwendungsübergreifende Themen angesprochen, welche die weitere Entwicklung von Digital Library Technologien anregen können:

Die Durchführung des Programms folgt im Prinzip bewährten Mustern. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen werden - im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - Calls for Proposals (Aufforderungen zur Einreichung von Projektanträgen) veröffentlicht, die jeweils speziellen Themen gewidmet sind. Die Auswahl und genaue Definition dieser Themen erfolgt jährlich, in Abstimmung mit einer Gruppe externer Berater. Dadurch ist eine gewisse Flexibilität gewährleistet, die die Anpassung an aktuelle Entwicklungen auf den jeweiligen Fördergebieten erlaubt. Anträge werden dem üblichen Begutachtungsprozeß unterzogen. Positiv begutachtete Anträge werden in aller Regel in Vertragsverhandlungen eingebracht.

Die zentrale Anlaufstelle für alle das IST Programm betreffenden Informationen (offene Calls und ihre Themen, Teilnahmebedingungen, Begutachtungsverfahren und Bewertungskriterien, etc.) lautet: "http://www.cordis.lu/ist/home.html".

Für die Belange der Aktionslinie 2, "digitales Erbe und kulturelle Inhalte", der Leitaktion III wurde inzwischen eine eigene Website (http://www.echo.lu/digicult/home.html) eingerichtet. Hier finden sich weitere, das spezielle Arbeitsprogramm dieser Aktionslinie betreffende Erläuterungen, Querverweise zu früheren und teilweise noch laufenden Projekten mit Bezug zur Thematik dieser Aktionslinie, Hinweise auf einschlägige Publikationen und vieles mehr.