Der Zettelkatalog:
ein historisches System geistiger Ordnung


Hans Petschar; Ernst Strouhal; Heimo Zobernig.
- Wien; New York: Springer, 1999. 174 S. DM 57.00
ISBN 3-211-83273-4

Jahrhunderte dienten Band- und Zettelkataloge den Bibliothekaren und Bibliotheksbenutzern als unentbehrliche Arbeitsinstrumente. Sie waren nach Robert Musil ein "System geistiger Ordnung" (1). Nun heißt es, Abschied zu nehmen, denn fast zeitgleich werden in vielen mitteleuropäischen Bibliotheken Zettelkataloge durch computergestützte Kataloge ersetzt. "1998 wurde die Digitalisierung der Zettelkataloge der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien abgeschlossen. Diese technologische Veränderung, welche die Mehrzahl der kulturellen Archive der Gegenwart vollziehen, ist ein Einschnitt in die Geschichte der Bibliothek und ihrer Benützer, ein Bruchstelle, die zugleich eine Fundstelle ist: Ab diesem Zeitpunkt kann der Buchbestand nur noch per Computer abgerufen werden; die fast gewichtslose Karteikarte, deren Lesen und Finden im Katalog noch an eine gewisse räumliche und taktile Erfahrung gebunden war, wird zur gewichtslosen, allseits abrufbaren Information." (S. 7) Der "Zettelkatalog" ist historisch geworden. Er hat als Arbeitsmittel ausgedient. Er wird zum Möbel. Er wird "erstmals als Skulptur im Raum sichtbar", und der Raum, in dem er als Möbel steht, kann nun "vom Betrachter ästhetisch und historisch "durchmessen" werden." (S. 7) Der Zettelkatalog kann, früher unvorstellbar, ausgestellt werden. Und anläßlich einer solchen Ausstellung in der Österreichischen Nationalbibliothek erscheint eine Sammlung von Texten, Materialien und Fotografien.

Der Band beginnt mit Vorbemerkungen der Herausgeber, dann folgen drei Originalbeiträge: "Zettel, Kasten, Katalog" von Ernst Strouhal, "Einige Bemerkungen, die sorgfältige Verfertigung eines Bibliothekskatalogs für das allgemeine Lesepublikum betreffend" von Hans Petschar, "Vademekum: Zu den Regelwerken, eine Auswahl historischer Titel chronologisch gereiht" von Heimo Zobernig. Das nächste Kapitel enthält Aufnahmen des Nominalkatalogs der Österreichischen Nationalbibliothek in Schwarz-Weiß-Bildern, fotografiert von Octavian Trauttmansdorf.

Den Abschluß bildet eine umfassende Dokumentation von Monika Hoxha, Monika Kiegler-Griensteidl und Hans Petschar in zwei Teilen. Zuerst der "Blick von Aussen", u.a. "Über die Verfertigung eines neuen Verzeichnisses in der Hofbibliothek (1780/81) - Auszug aus: Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781" und "General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein und sammelt Erfahrungen über Bibliothekare, Bibliotheksdiener und geistige Ordnung (1930) - Auszug aus: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften". Dann ein "Blick von Innen" auf bibliothekarische Vorschriften aus drei Jahrhunderten. Das Heft ist ein wundervoller Spaziergang, eine vorzügliche Vorarbeit zu einer historischen Darstellung des Zettelkatalogs. Der Rezensent erinnert in diesem Zusammenhang an Bernd Hagenaus Geschichte des Deutschen Gesamtkatalogs (2). Eine solche Darstellung für den Zettelkatalog ist wünschenswert.

Der Rezensent ist mit Band- und Zettelkatalogen groß geworden, seit er in den 50er und 60er Jahren die Kataloge der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, der Deutschen Staatsbibliothek Berlin, der Deutschen Bücherei Leipzig und der Bibliothek der Bergakademie Freiberg vielfach benutzt hat. Für ihn ist diese Schrift auch ein wehmütiger Abschied von traditionellen Arbeitsgewohnheiten.


Anmerkungen

1. Die Quelle für diese vorzügliche Charakterisierung bleiben die Herausgeber leider schuldig; Musil war übrigens von 1911-1914 Bibliothekar an der Technischen Hochschule in Wien Auf diese Tätigkeit wird in den meisten literaturwissenschaftlichen Darstellungen und Schriftsteller-Lexika hingewisen. Es ist anzunehmen, daß die Äußerungen des General Stumm in Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" auch auf eigenem Erleben Musils in Wiener Bibliotheken beruhen.

2. Hagenau, Bernd: Der Deutsche Gesamtkatalog: Vergangenheit und Zukunft einer Idee. Wiesbaden, 1988. S. 5-57.Vgl. auch: Jochum, Uwe: Der Deutsche Gesamtkatalog. In: Bibliotheksdienst 27 (1993) 7, S. 1054-1060.


Anschrift des Rezensenten
Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Sanddornstraße 8
D-12439 Berlin