Das Dilemma mit der Automatisierung

von Ruth Wüst


1. Einleitung
2. Die Protagonisten

3. Die Systemwahl

4. Der Konflikt

5. Fazit

1. Einleitung

Bibliotheksmanagement war in den letzten zehn Jahren nicht einfach. Das Aufkommen des Internets erfasste die Bibliotheken genauso wie den Rest der Welt wie ein Wirbelsturm. Dem nicht genug, zwang das Jahr-2000-Problem Institutionen mit sogenannten Legacy Systemen, d.h. großrechnerbasierten Systemen, auch noch zum Aufgeben ihrer veralteten Programme. Diese Bibliothekssysteme der ersten Generation, die oft noch mit Softwareeigenentwicklungen arbeiteten, wurden durch moderne Client-Server-Lösungen ersetzt.

2. Die Protagonisten

Bei einem solchen Systemwechsel sind verschiedene Interessengruppen beteiligt. Auf der einen Seite stehen die Bibliothekare, für welche eine Systemänderung oder gar die erstmalige Einführung eines Systems häufig eine traumatische Erfahrung ist. Organisatorisch am selben Ort sitzt die Bibliotheksführung ­ die Entscheidungsträger ­, die jedoch nicht immer mit den Mitarbeitern im gleichen Boot sitzen.

Auf der anderen Seite des Automatisierungsprozesses befinden sich die Systemfirmen. Diese Firmen, deren Mitarbeiter oft selbst ehemalige Bibliothekare sind, bewegen sich in einer kleinen und von extremer Konkurrenz geprägten Nische der Software-Entwicklung. Jeder kennt jeden und viele der Verkäufer haben schon bei mehreren Anbietern gearbeitet. D.h. internes Know-how wandert bei jedem Mitarbeiterweggang mit zur Konkurrenz. Da entsteht schnell Misstrauen gegenüber Konkurrenzfirmen, zumal sich in dieser kleinen Welt alle seit Jahren kennen. Vor allem bei amerikanischen Anbietern herrscht dadurch vor großen Ausstellungen wie der Konferenz der American Library Association regelrechte Kriegsstimmung.

Der Markt ist begrenzt und die Kunden werden von den Firmen als eher schwierig eingeschätzt. Obwohl es ihr einziges Geschäft ist, die komplexen Bibliotheksprozesse zu automatisieren, bringen viele Firmen für die komplizierten und detailorientierten Arbeitsweisen der Bibliotheken wenig Verständnis auf. Vor allem den Programmierern fällt es schwer, zu verstehen, dass Bibliotheken völlig andere Geschäftsabläufe haben als ein privatwirtschaftlicher Betrieb.

Die Schwierigkeit bei der Entwicklung von Bibliothekssystemen liegt vor allem im großen, nicht standardisierten Bereich der Erwerbung und der Zeitschriften. Jede Bibliothek hat ihren eigenen Erwerbungs-Arbeitsfluss und beharrt darauf, dass ein System mit jedem hausinternen Detail umgehen muss. Zeitschriften eignen sich von Natur aus" schlecht für einen Automatisierungsprozess. Ihr unregelmäßiges Erscheinen und insbesondere die dauernden Titeländerungen sind von einem Computersystem schwer in den Griff zu bekommen. Datenmigrationen sind kostspielig und mühsam. In den USA existiert zwar seit Jahren ein USMARC-Zeitschriftenformat; allerdings wird es von vielen amerikanischen Systemen nicht verarbeitet.

Bibliothekare und Systemanbieter begegnen sich, wenn es um die Auswahl eines Systems geht.

3. Die Systemwahl

In der hierarchisch strukturierten Welt der Bibliotheken wird eine Systemwahl nach wie vor vom Management und mit nur geringer Beteiligung des Personals vorgenommen. Dieser Entscheid wird in den USA interessanterweise zunehmend an die IT-Abteilung delegiert, was allerdings die Systemakzeptanz beim Personal nicht erhöht, ganz im Gegenteil.

Das richtige System auszuwählen ist nicht einfach. Befragt man die Bibliothekare, so hätten sie meistens nicht das gerade in der eigenen Bibliothek neu installierte gekauft. Fragt man genauer nach, so votieren die Katalogisierer für den Hersteller mit dem besten Katalogisierungsmodul und die Ausleihspezialisten für das System mit den besten Ausleihfunktionen. Die Zeitschriftenabteilung und die Erwerbung haben es am schwersten. Ihre Auswahl ist klein, denn die meisten Systeme haben Mängel in genau diesen Bereichen. Bibliothekssysteme sind komplexe Gebilde, und wenn man sich aufgrund einer funktionalen Detailanalyse für ein System entscheiden will, zeigt die Analyse häufig, dass eigentlich keines der auf dem Markt verfügbaren Systeme die eigenen Anforderungen erfüllt. Die These muss aufgestellt werden, dass wohl keines der kommerziellen Systeme die Bedürfnisse einer Bibliothek voll und ganz abdeckt.

In eine Systemwahl müssen selbstverständlich auch strategische und bibliothekspolitische Kriterien ­ z.B. die Mitarbeit in einem Verbund ­ miteinbezogen werden. Es obliegt dem Management, den Mitarbeitern diese Kriterien verständlich zu kommunizieren, denn nur ein Entscheid, an dem sich alle beteiligt fühlen, wird langfristig vom gesamten Personal getragen werden.

Informelle Gespräche mit vielen Bibliothekaren haben gezeigt, dass Mitarbeiter sich schnell eine Meinung darüber bilden, warum ein bestimmtes System in ihrer Bibliothek angeschafft wurde. In der Bibliothek A ist man der Überzeugung, dass ihr System gekauft wurde, weil es eine hervorragende Katalogisierung anbietet. Da der Schwerpunkt bei der Systemeinführung auch klar bei der Katalogisierung lag und der Projektleiter ein Katalogisierungsexperte ist, ist sicher mehr als ein Korn Wahrheit an dieser Vermutung. In Bibliothek B meint man zu wissen, dass ihr System nur aus Gründen der Verbundfähigkeit und wegen des guten OPAC gewählt wurde. Das Erwerbungsmodul wird für so schlecht gehalten, dass es überhaupt nicht benutzt wird. Da dort der Entscheidungsverantwortliche aus der Benutzung kommt, muss man auch diese Vermutung ernst nehmen. In der Bibliothek C schließlich herrscht in allen Abteilungen Unmut und jedermann vermutet, dass bibliothekspolitische Gründe, die mit den Machtstrukturen im Verbund zu tun haben, den Systementscheid bestimmten. Die dort Verantwortlichen, die IT-Abteilung und der Direktor, haben wenig mit der täglichen Praxis zu tun. Die Mitarbeiter wurden in die Evaluation nicht einbezogen und sie vermuten wohl zu Recht, dass strategische Gesichtspunkte höher als die funktionalen Kriterien gewertet wurden.

Leider sehen die einzelnen Abteilungen meist nur ihre eigenen Interessen und die wenigsten Mitarbeiter beurteilen ein System mit einem über ihre Abteilung hinausgehenden Blick. Die Stärke eines integrierten Systems liegt aber gerade im Zusammenarbeiten der einzelnen Module. Wenn sich aber die Mitarbeiter beispielsweise in der Katalogisierung weiterhin wenig darum kümmern, wie die Benutzer im OPAC tatsächlich nach Informationen suchen möchten, ist eine Effizienzsteigerung nur mittels eines Computers nicht sehr erfolgreich. Sie würde erst wirklich eintreten, wenn die gesamte Art und Weise einer Titelaufnahme radikaler diskutiert würde.

Natürlich bringt jede Veränderung auch Unsicherheit und die Angst vor Neuem mit sich. Diese Angst findet oft ihren Ausdruck in Frustration und der Suche nach Schuldigen. Die demotivierten Mitarbeiter beschuldigen die Leitung und die Leitung findet, dass ihnen ein System verkauft wurde, welches die versprochenen Funktionalitäten nicht besitzt.

Und alle haben sie auf ihre Art und Weise recht. Es zeigt sich einerseits ein Konfliktpotential innerhalb der Bibliothek, welches vor allem mit dem Führungsstil und der Art und Weise, wie ein System eingeführt wird, zu tun hat. Andererseits bestehen zwischen dem Hersteller und dem Anwender von Bibliothekssystemen klare Interessengegensätze und ein daraus entstehendes Missverständnis, was Systeme leisten können und sollen.

4. Der Konflikt

Die Mitarbeiter werden mit einem System konfrontiert, das sie selbst nicht ausgewählt haben und kritisieren das unbekannte Neue. Gleichzeitig erwarten sie vom neuen System, dass es alle Probleme des alten löst und zugleich in keiner Weise in alte, möglicherweise überkommene Arbeitsabläufe eingreift. Im Widerstand gegen das neue System erscheint das alte System, welches man damals bei seiner Einführung genauso heftig kritisierte, plötzlich in einem neuen, besseren Licht.

Bezeichnend für solche Systemeinführungen ist, dass Arbeitsflussanalysen bei der Implementierung praktisch keine Rolle spielen. Der Konflikt ist somit vorprogrammiert. Neue Technologie, heute handelt es sich um Windows-basierte Client-Server-Systeme, wird auf Arbeitsabläufe aufgesetzt, welche sich mühsam auf ein Großrechnersystem eingespielt hatten. Denn auch bei der Einführung des Großrechners hatte man sich wahrscheinlich nicht die Zeit genommen, zu untersuchen, wie man die Arbeitsschritte verändern könnte, um sie mit einem Computersystem effizient auszuführen, sondern sie haben sich erst im Laufe der Zeit, sozusagen evolutionär, angepasst und eingeschliffen.

Wie bereits bei der Umstellung des manuellen auf einen automatisierten Prozess wird hier wiederum versucht, genau die Arbeitsabläufe, die mit dem alten System gemacht wurden, auf das neue zu kopieren. Erst im Laufe der Jahre passen sich die Prozesse dann langsam an das System an und die Bibliothek gewöhnt sich an das neue Bibliothekssystem. Diese Art von Automatisierung ist verbunden mit sehr viel Reibungsverlust und Fragen der Wirtschaftlichkeit bleiben dabei meist auf der Strecke.

Um Effizienz bei Systemumstellungen zu gewährleisten, werden vergleichbar grundlegende Veränderungen in der Privatwirtschaft von konzeptionellem Projektmanagement und Strukturanpassungen begleitet. Reengineering ist eines der Konzepte, das bei Automatisierungsprojekten angewandt wird. Dieser Ansatz besagt, dass durch das Reengineering von Geschäftsabläufen die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens gesteigert werden kann. Reengineering ist ein Top-down-Ansatz, der auf die Veränderung von Prozessen, d.h. auf veränderte Arbeitsabläufe zielt. Neben dem Reengineering hat mittlerweile ein neues Konzept Fuß gefasst, das sogenannte Knowledge-Management. Dies besagt, dass Unternehmen, welche das vorhandene Wissen innerhalb ihrer Institutionen aufnehmen und vorteilhaft nutzen können, Marktvorteile haben werden.

Beide Managementansätze scheinen an Bibliotheken bis jetzt vorübergegangen zu sein. Mehr noch, die Art und Weise, wie in den letzten Jahren große Systemumstellungen oder EDV-Einführungen implementiert wurden, lässt die Vermutung aufkommen, dass betriebswirtschaftliche Überlegungen und Effizienzsteigerungen bei der Planung kaum eine Rolle spielten.

Jede Systemänderung lässt bei den Bibliothekaren eine hohe Erwartungshaltung aufkommen. Dies führt zur zweiten Konfliktebene, der zwischen der Bibliothek und dem Anbieter. Bei der Ausschreibung werden oft über einhundert Seiten lange Pflichtenhefte erstellt, mit denen die Bibliothek hofft, das beste System auswählen zu können. Systemvorführungen und diese Checklisten helfen bei der Auswahl leider nur bedingt. Nur wenige Bibliothekare verstehen genug von der komplexen Technik im Hintergrund eines Systems, um zu sehen, wo bei einer Präsentation der Anbieter gekonnt über die nichtvorhandenen und schwachen Funktionen hinweggeht. Manchmal kaufen Bibliotheken sogar Systeme auf der Basis eines Prototypen und glauben, zusammen mit der Firma dann das perfekte System entwickeln zu können.1 Andere testen vor dem Kauf sehr genau, aber die Zusammenarbeit mit dem Anbieter gestaltet sich danach trotzdem schwierig.2

Das Ziel des Systemanbieters ist es, den Markt zu dominieren und so viele Kunden wie möglich zu gewinnen. Es gibt auch solche, die gar kein Interesse am Aufbau langfristiger Kundenbeziehungen haben, sondern deren erklärtes Ziel es ist, die Firma so schnell wie möglich mit großem Gewinn weiterzuverkaufen. Was vielen gemein ist, ist die mittlere Unternehmensgröße von ca. 100 bis 200 Mitarbeitern. Diese Firmen sind aus kleinen Start-up-Firmen entstanden und zeichnen sich dadurch aus, dass an ihrer Spitze Automatisierungsexperten stehen. Mindestens drei der erfolgreichsten amerikanischen Anbieter sind so entstanden. Sie alle kämpfen jedoch mit dem Problem, dass sie ­ bedingt auch durch das Mikromanagement der jeweiligen Firmenleitung ­ daran scheitern, ihre Systeme termingerecht auf den Markt zu bringen. Systeme wie z.B. Virtua von VTLS oder Taos von DRA brauchten bis zu fünf Jahren bis zur Fertigstellung oder sind sogar immer noch in Entwicklung. Dadurch kommt es in regelmäßigen Abständen zu Marktverschiebungen. Diejenigen Firmen, die vor fünf Jahren noch führend waren, verlieren große Kunden, werden schließlich aufgekauft und ganz neue Firmen nehmen plötzlich eine dominante Marktposition ein.

Den Bibliotheken bleibt in dieser unsicheren Situation nichts anderes übrig, als sich vertraglich genau abzusichern und schließlich auch ­ wie z.B. die Kansas University ­ bei Nichterfüllung von Vertragsbestandteilen diese auch einzufordern.

5. Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Bibliotheken bei der Einführung von neuen Systemen die Firmen kritischer betrachten und von einem neuen System nicht erwarten sollten, dass es alle Probleme des alten Systems löst. Viele Arbeitsprobleme sind nicht Systemprobleme, sondern haben ihren Grund darin, dass in Bibliotheken nach wie vor Arbeitsabläufe zu einseitig aus der Sicht der einzelnen Abteilungen betrachtet werden.

Nur wenn gleichzeitig mit dem neuen System auch versucht wird, am eigenen Arbeitsfluss Veränderungen vorzunehmen, kann eine Automatisierung langfristig Effizienzsteigerungen bringen. Ansonsten wird sie ­ wie in den meisten Fällen ­ dazu führen, dass man noch mehr Stellen braucht, um die Arbeit zu bewältigen. Eine aufgrund der Automatisierung erforderliche Stellenerhöhung dürfte vor der Haushaltsstelle nur schwerlich erfolgreich durchzusetzen sein.

1. So geschehen bei der Kansas University, welche Virtua von VTLS Inc. kaufte und sich dann ein Jahr später, als das System immer noch nicht fertig entwickelt war, vom Vertrag zurückzog.

2. Z.B. mit amerikanischen Anbietern, welche im deutschsprachigen Raum Schulungen auf Englisch halten wollten.


Zur Autorin

Dr. Ruth Wüst ist Redakteurin und Leiterin der Internetabteilung von MacKinsey & Company Schweiz
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