Die Zukunft der Vergangenheit ­ Unikate gehen Online:
5 Jahre Erfahrungen an der UB Graz

von Hans Zotter

Die letzten Jahrzehnte brachten uns ein in der Mediengeschichte einzigartiges Phänomen, nämlich den gleichzeitigen Wechsel von Substrat, Code und Kanon. Bisher gab es solche Wechsel nur für einen oder zwei dieser drei Aspekte, oder auch nur für Teile der Aspekte oder gar nur für scheinbar nebensächliche Details ­ die ungeachtet dessen oft nachhaltige und weitreichende Veränderungen der Medienlandschaft bewirkten. Wir alle begreifen, dass ein Umbruch bisher unbekannten Ausmaßes begonnen hat, ohne dass irgend jemand die Auswirkungen ­ und sei es auch nur für das nächste Jahrzehnt ­ seriös vorhersagen könnte. Jeder richtet sich in diesem Katastrophenszenario seinem Naturell entsprechend ein: als Verweigerer und Kulturpessimist, als zukunftsbetrunkener Enthusiast, als Prophet oder Orakelverkünder. Am sympathischsten erscheinen noch die coolen Pragmatiker, die unaufgeregt die neue Medienkonstellation in ihre Arbeit einbauen, im Computer nur eine Verbesserung ihrer altgewohnten Schreibmaschine sehen. Diesen Pragmatikern ist habituell aber auch die geringe Neigung zu Spekulationen die mittel- und längerfristige Zukunft der Bibliotheken und Dokumentensammlungen betreffend ­ zu unsicher sind die Prognosen über die Marktfähigkeit der Produkte der informationssammelnden Institutionen.

Die Bibliotheken setzen ihren Ehrgeiz nicht nur darein, die jeweils neuesten und aktuellsten Informationen zu haben, möglichst viele, wenn schon nicht alle Informationen zu sammeln, sondern auch darauf, diese Informationen gewissermaßen unbeschränkt zu speichern und zur Verfügung zu halten. Auch ephemeren Dokumenten wie Flugblättern und Zeitungen haben die Bibliotheken so zu dauerhaftem Quellenwert verholfen. Ob ihnen das auch bei den digitalen Dokumenten gelingen wird, die Kurzlebigkeit anscheinend als genuines Merkmal in sich tragen? Internetseiten leben statistisch nur ein paar Tage, und jeder der bei seinen schriftlichen Arbeiten Internetreferenzen angibt, täte besser daran, nicht nur die Zitate (URLs) zu speichern, sondern gleich die ganzen Dokumente in Kopie mitzuliefern ­ sonst mutieren die Referenzen bald zu Wegweisern in den grauen Sumpf der verlorenen Gedanken.

Mit dem Wechsel des Substrats, vom Papier zum Magnetspeicher, zum optischen Speicher oder auch zu derzeit noch Exotischem, wie dem elektronischen Papier, verändern sich natürlich auch die klassischen Wechselbeziehungen zwischen Substrat und Information ­ Verfügbarkeit, Preiswürdigkeit und Dauerhaftigkeit. An den beiden ersten Parametern wird eifrig gearbeitet; Anstrengungen in Richtung Dauerhaftigkeit werden ­ wie schon im Mittelalter ­ vor allem als materialtechnische Aufgabe verstanden; Datensicherheit bietet aber wahrscheinlich nur die Vielzahl der Kopien, die Erhöhung der Reichweite, was wohl bedeutet, wir brauchen viele regionale und lokale Sicherungsarchive, so wie es bisher unzählige öffentliche und private Bibliotheken gab, deren Datenbestand auch durch den zweiten Weltkrieg nicht wesentlich reduziert wurde. Unikale Dokumente sind immer gefährdet gewesen. Das Erlebnis des zweiten Weltkrieges brachte den europäischen Bibliotheken zahlreiche betonstarrende Schutzbauten und die Schutzverfilmung, die einen mehr oder minder guten Schutz der Kerninformation bietet. Auch diese Schutzfilme wurden verbunkert, für den Fall der Fälle.

Aus dieser Logik heraus wurden, sobald das Stichwort Digitalisierung fiel, unikale Dokumente als erste Kandidaten benannt, gefolgt von den Dokumentengruppen, die von akutem Verfall bedroht sind. Bei frühen Tondokumenten, alten Filmen, bei Dokumenten auf schlechtem Papier bedeutet Digitalisierung tatsächlich Rettung in letzter Minute, denn in zwanzig, dreißig Jahren wird es da nicht mehr allzuviel zu retten geben. Bei den meisten mittelalterlichen Kodizes wird der Datenverlust in den nächsten Jahrzehnten im Bereich des Unmerklichen bleiben. Zusätzliche Sicherungskopien, bunkergesichert aufbewahrt, sind nicht das Gebot der Stunde.

Digitalisierung ist nicht das Ziel, ist nicht Selbstzweck ­ Digitalisierung ist das Mittel der modernen Informationsarbeit, ein Zwischenschritt zur Erstellung von digitalem Rohmaterial. Die Erwartung, alle Funktionalitäten eines Surrogat-Dokuments vom elektronischen Datenfile geliefert zu bekommen, ist naiv. Der Auftrag Bestandssicherung ist einfach neu zu definieren: der für alle offene Online-Zugang entspricht einer Erhöhung der Reichweite, stellt damit eine schier unschlagbare Form der Datensicherung dar; der demokratische elektronische Zugang zu allen unikalen Dokumenten ist nunmehr das langfristige Arbeitsziel der Verwalter des historischen Dokumentengutes.

Spätestens an dieser Stelle stellt sich dann die Frage, ob wir uns Bibliothekare damit nicht letztendlich überflüssig machen, aber diese Frage kam ja auch schon bei der Fertigstellung der ersten gedruckten Kataloge.

Die Qualität digitaler Bilder wird sich in den nächsten Jahren ständig erhöhen. Das heißt aber weder, dass man deshalb noch ein paar Jahrzehnte zuwarten soll, noch dass die derzeit höchste erreichbare Qualität für alle Anwendungsformen ein unabdingbares Muss darstellt. Wenn man Druck in Faksimilequalität anstrebt, braucht man unkomprimierte Dateiformate, für die normale Bildschirmarbeit oder für die Projektion mittels Beamer an die Wand genügen komprimierte Bilddateien. Der "durchschnittliche" Handschriftenbenutzer bringt ja auch kein Mikroskop in den Lesesaal mit. Im Alltagsbetrieb ist man dann auch immer wieder mit der Situation konfrontiert, dass die Geräteausstattung unseres wissenschaftlichen Publikums erst in einigen Jahren gut genug für die jetzt produzierten Bildfiles sein wird.

Wenn die Digitalisierung konservatorisch einwandfrei abläuft, ist die Vorstellung, in einigen Jahrzehnten noch einmal mit ganz anderen technischen Parametern zu digitalisieren, durchaus akzeptabel ­ die Mikroverfilmung der österreichischen Handschriftenbestände liegt ja auch erst 30 Jahre zurück.

Die Abteilung für Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Graz konnte heuer ein Jubiläum feiern: vor fünf Jahren wurden die ersten Handschriften digitalisiert und im Herbst des gleichen Jahres auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Wenn es dann auch noch etwas dauerte, bis das große Projekt "Digitalisierung des Steirischen Dokumentenerbes" ins Laufen kam, stehen wir heute schon im vierten Jahr der Produktion von Handschriften-CDROMs. Die Fragestellungen der Anfangszeit konnten inzwischen alle weitgehend gelöst werden, die konservatorischen Bedingungen sind erfüllt ­ die Aufnahme einer Handschrift nach unserem Verfahren belastet diese weniger als die Benützung durch Leser im Lesesaal. Da wir nie eine Sicherungskonversion nach dem Gedankenmodell einer Sicherheitsverfilmung anstrebten, konnte der CDROM-gefüllte Stahlschrank auch nicht unsere Zielvorstellung sein.

Wir sprechen dennoch der Einfachheit halber von Archiv-CDROMs, da es sich dabei nur um digitales Rohmaterial handelt, das einer geeigneten ONLINE- oder OFFLINE-Präsentation harrt. Die Produktion solcher "Archiv-CDROMs" läuft selbstverständlich ständig weiter, wenn auch inzwischen andere Produktionslinien entstanden sind.

Eine der Zielvorstellungen war es ja von Anfang an, marktfähige digitale Produkte zu kreieren, sich ein Stück vom vielversprechenden Kuchen des elektronischen Publizierens abzuschneiden. Dahinter steckt natürlich auch die von den politischen Instanzen geförderte Ideologie, dass sich die Universitätsbibliotheken mit Teilrechtsfähigkeit und zukünftiger Vollrechtsfähigkeit zu marktorientierten Betrieben mausern und zumindest einen Teil ihrer Kosten selbst verdienen sollten. Die aktuellen Budgetkürzungen können ja durchaus als Motivationshilfen verstanden werden, denn Not macht bekanntlich erfinderisch, sagt der Volksmund und nach den Erkenntnissen des Gehirnforschers DeBono steigt die Kreativität durch die Reduktion der Ressourcen.

Als besonders marktfähig erschienen uns sogenannte elaborierte CDROMs; darunter verstehen wir Aufbereitungen bestimmter Teilaspekte, verbunden mit dem Komfort einer graphischen Bedienungsoberfläche und angereichert mit verschiedenen Features wie Animation, Video, Tondateien. Solche elaborierten CDROMs sind natürlich sehr arbeitsintensiv in der Herstellung; je nach Aufwand ist mit mehreren Monaten zu rechnen. Im Vergleich dazu ist eine Archiv-CDROM in zwei bis drei Arbeitstagen abgeschlossen. Als Beispiele können wir mittlerweile sogenannte Miniaturen-CDROMs vorweisen, auf denen der gesamte Buchschmuck aus den Handschriften der Universitätsbibliothek Graz zugänglich gemacht wird. Zugriffsoptionen über die Lokation, den Miniaturentyp, die Ikonographie und die Maltechnik erfordern aufwendige Verlinkungen ­ auch zu den entsprechenden Handschriftenkatalogisaten im CDROM-Katalog.

Eine weitere Spielart stellt eine CDROM dar, die wir für die Steirische Landesausstellung 2000 als Auftragsarbeit realisierten. Der Auftrag lautete, mit elektronischen Mitteln die künstlerische und wissenschaftliche Vernetzung der Residenzstadt Graz zu Beginn des 17. Jahrhunderts darzustellen. Als "Rohmaterial" dienten hierbei großformatige Kupferstiche der Stadt Graz beziehungsweise einzelner Bauten der Zeit, wie auch die Bücher einer Gelehrtenbibliothek, die ein Grazer Universitätsprofessor zu Beginn des 17. Jahrhunderts zusammentrug. Auf einer interaktiven CDROM ("Vernetzungen") wurden die Beziehungen des führenden Hofkünstlers de Pomis und des Universitätsprofessors Paul Guldin zur europäischen Kultur, zu den steirischen Bauten der Zeit und untereinander dargestellt. Aus den Stadtansichten wurde von einem beigezogenen Architekturbüro ein dreidimensionales virtuelles Modell erstellt, das in einem Dreiminutenvideo überflogen wird, hin bis zu dem vor den Toren der Stadt liegenden Schloss Eggenberg, das auch einer der Ausstellungsorte ist.

Ein weiteres Projekt, das nunmehr schon weit fortgeschritten ist, betreibt die elektronische Publikation des Urkundenmaterials der Universitätsbibliothek Graz. Als Einbandmakulaturen haben sich fragmentarisch, aber oft praktisch ohne Informationsverlust zahlreiche Pergamenturkunden aus ganz Europa erhalten ­ je nachdem, an welchem Ort das Trägerbuch gebunden wurde. Möglicherweise lassen sich aus solchen Forschungen auch Rückschlüsse auf einen möglichen Handel mit Pergamentmakulaturen ziehen. Die Bildfiles der Urkunden werden der Textedition gegenübergestellt; ein wissenschaftlicher Apparat wird die nötigen Hintergrundinformationen liefern.

Eine weitere Auftragsarbeit entstand aus einem wissenschaftlichen Projekt des historischen Instituts der Universität Graz ­ eine Edition der Regensburgischen Stadtrechenbücher. Als Basis dieses Projektes dienen die von uns digitalisierten Handschriften des Stadtarchivs. Ebenso übernahmen wir die Digitalisierung der handschriftlichen Protokolle der historischen Tonaufnahmen des Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, das gerade eben seinen hundertjährigen Bestand feierte. Diese Protokolle werden zusammen mit den Tondokumenten derzeit publiziert.

Die Herstellung des digitalen Rohmaterials für wissenschaftliche Projekte und die Zusammenarbeit mit Forschungsinstitutionen wird so zunehmend zum wichtigen Arbeitsbereich der Grazer Digitalisierung. Eine zunehmend selbstfinanzierte Ausweitung unserer Kapazitäten geht mit der Vielzahl der laufenden Arbeiten einher. Ein wesentlicher Aspekt blieb bisher unerwähnt; gleichzeitig mit der Digitalisierung der unikalen Dokumente wurde konsequent das Online-Angebot an Metadaten ausgeweitet. Neben dem ONLINE-Handschriftenkatalog, mit dessen Implementierung bereits 1993 begonnen wurde und der seit seiner Fertigstellung ständig weitergeführt und aktualisiert wird, steht seit 1999 die Faksimilebibliographie von Hans und Heidi Zotter im Netz. Basis war die Diskettenausgabe von 1995, die seit ihrer Implementierung ständig aktualisiert wird.

Als neuestes ONLINE-Katalog-Angebot steht seit Frühjahr 2000 der neu erstellte Inkunabelkatalog der Universitätsbibliothek Graz auf der Homepage der Abteilung für Sondersammlungen für unsere Leser bereit. Die erste Hälfte des Autorenalphabets steht bereits zur Verfügung, bis zum Jahresende werden die Buchstaben bis inklusive P zur Konsultation bereitstehen.

Die durch die Digitalisierung ausgelöste Dynamisierung unseres Berufsbildes ist noch lange nicht an ein Ende gekommen, im Gegenteil, sie steht erst am Anfang. Die Einrichtung von Dokumentenservern, die unikale Dokumente, wie auch die Forschungsdokumentation, vielleicht auch Zugangshilfen wie Übersetzungen und ähnliches bieten können, steht unmittelbar bevor. Eine bisher nicht gekannte Intensivierung der Forschung am Dokumentenerbe mit Hilfe der elektronischen Datenfiles steht zu erwarten.

Die Bilanz, die wir nun vorlegen können, ist das Ergebnis einer mehrjährigen Teamarbeit, der Bereitschaft der MitarbeiterInnen sich auf neue Arbeitsgebiete einzulassen und auch auf den zunehmenden Arbeitsdruck. Die Integration unterschiedlichster Kompetenzen und Fähigkeiten ist das Lebenselixier solcher Projekte. Das neuerungsfreundliche Milieu an der Universitätsbibliothek Graz und die tatkräftige materielle und ideelle Unterstützung durch die Fachabteilung des Wissenschaftsministeriums schufen ein kreatives Biotop, in dem die neuen Medienideen nur so wuchern ­ das einzige Bedauern, das bleibt, ist, dass nur Bruchteile des Angedachten realisiert werden können.


Zum Autor

Hofrat Dr. Hans Zotter ist Leiter der Abteilung Sondersammlungen an der Universitätsbibliothek Graz

Universitätsplatz 3
A-8010 Graz
hans.zotter@kfunigraz.ac.at