"Glad we came here"

Bericht vom 2. ACRL/Harvard Leadership Institute in Cambridge/Mass./USA vom 31.7. bis 4.8. 2000

von Irmgard Lankenau und Andreas Anderhub

Am Anfang stand der Wunsch, die eigene Fortbildung einmal so zu gestalten, dass sie neben dem Individualinteresse von Anfang an auch dem Ziel einer Umsetzung unter Kooperationsbedingungen in der Region dienen sollte.

Die Widener Library, Zentralbibliothek der Harvard
University Library


Durch das Internet auf das gemeinsame Seminarangebot der American College and Research Library Association (ACRL) und der Harvard Graduate School of Education aufmerksam geworden, stand für uns schon zu Beginn des Jahres fest: an dieser Veranstaltung möchten wir teilnehmen, zumal ja die Harvard Bibliotheken und die altehrwürdige Widener Library als Hauptbibliothek schon immer das Mekka deutscher Bibliothekare waren. Der nun an dieser historischen Stätte annoncierte Kurs, der speziell für Bibliothekare in leitenden Positionen angeboten wurde, hatte vor allem deshalb unser Interesse geweckt, da bereits in der Ankündigung wesentliche Fragen, die uns tagtäglich beschäftigen, angesprochen wurden, wie z.B.:

Die Verknüpfung von Fragen der Organisation, Planung, Personalführung und Wirtschaftlichkeit in diesem Seminar erschien uns ein besonderer Ansatz, der uns in unserer jeweiligen Arbeitssituation besonders ansprach:

An der Universität Mainz hat bislang, ungeachtet aller bedeutsamen Änderungen in den letzten Jahren, das zweischichtige Bibliothekssystem vieles abgedämpft oder relativiert, was lokal an Problemen oder Konflikten existierte. Zentralbibliothek und wichtige andere Bibliotheksstandorte müssen nunmehr zu einer neuen Ordnung und Orientierung finden. Bei vielen Fragen ist mit Händen zu greifen, dass es außer um das sachlich Richtige auch um das heute und morgen wirtschaftlich Erreichbare, psychologisch Zustimmungsfähige und politisch Richtungsweisende geht. Für das Informations- und Bibliotheksystem der größten Universität des Landes Rheinland-Pfalz sind Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen, bei der die vorhandenen Basiswerte im Innen- und Außenverhältnis: Vertrauen und Kooperationsbereitschaft ­ wahrscheinlich ihre volle Belastbarkeit unter Beweis zu stellen haben.

An der Universität Koblenz-Landau: Zur Zeit werden an beiden Standorten Bibliotheksneubauten errichtet, die neben der baulichen Seite auch eine Fülle von organisatorischen Fragen aufwerfen, die möglichst effektiv gelöst werden müssen. Parallel dazu soll ein einheitliches Bibliothekssystem eingeführt werden, das es erstmals ermöglicht, den gesamten Bestand der Universitätsbibliothek für die Benutzer in einem Katalog zusammenzuführen. Auch hier ist ein großer Planungs-, Abstimmungs- und Realisierungsaufwand nötig. Gleichzeitig wird die derzeitige Situation von allen Beteiligten als große Herausforderung in einer unglaublich aktiven und innovativen Zeit wahrgenommen.

Diese wenigen Anmerkungen machen deutlich, warum es für uns wichtig war, ausgetretene Pfade, auch in unserer eigenen Fort- und Weiterbildung zu verlassen. Nicht verschwiegen werden sollte, dass die Teilnahme einer kleinen deutschen "Delegation" an einer solchen US-amerikanischen Veranstaltung auch heute noch eine gewisse Exotik verspricht und als Herausforderung besonderer Art einen großen Reiz ausübt.

Da die Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen nicht von Dritten gefördert werden konnte, bestand die erste Hürde für uns darin, unsere Präsidenten zu überzeugen. Schon an dieser Stelle sei erwähnt, dass wir beide von unseren jeweiligen Universitäten große Unterstützung und Ermunterung für dieses Vorhaben erhielten. Kaum angemeldet, wurden wir aus Harvard bereits mit den nötigen organisatorischen und inhaltlichen Informationen versorgt und erhielten unsere ersten "Hausaufgaben", u.a. die Anfertigung einer case study aus unserem täglichen Berufsleben. Außerdem gab es noch einigen Lesestoff, der bis zur Abreise zu bewältigen war.

Derart gerüstet machten wir uns dann auf den Weg nach Harvard und waren besonders gespannt auf unsere Mitstreiter. Am Sonntagnachmittag war es dann endlich soweit und die 87 Teilnehmer des Kurses, der im Vorjahr zum ersten Male stattgefunden hatte, versammelten sich. Neben uns beiden waren nur noch zwei Ausländer aus Kanada und Costa Rica angemeldet, die übrigen Teilnehmer kamen nicht nur aus allen Himmelsrichtungen der USA sondern auch aus ganz verschiedenen Einrichtungen: aus großen Universitäts- und kleinen Collegebibliotheken, aus konfessionellen Bibliotheken und sogar aus Universitätsverwaltungen und Rechenzentren. Nach einer kurzen Einführung durch den Leiter des Instituts, Cliff Baden, der uns nachdrücklich aufforderte: "Enjoy being a student again", wurden die Ziele des Seminars vorgestellt und wir hatten eine erste Gelegenheit, mit unseren Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren und Kontakt aufzunehmen.

Überhaupt standen Gespräche und Gedankenaustausch unter den Teilnehmern mit an erster Stelle, und u.a. durch die Unterbringung in einem der Dormitories der Harvard University wurde dies hervorragend befördert. Schnell wurden gemeinsame Unternehmungen ­ je nach Interessenlage ­ organisiert. So traf man sich morgens früh zum joggen, laufen oder nach den Kursen auch zum Abendessen. Auch wir "Ausländer" waren sofort integriert und konnten von vielerlei Kontakten und Bindungen unserer Kollegen nach Deutschland erfahren. Als besonders positiv wurde die Unterbringung in einem der Studentenwohnheime Harvards empfunden: zwar war der Standard ­ zumal für amerikanische Verhältnisse ­ recht einfach, aber das gemeinsame Wohnen in einem größeren Appartment erleichterte die Kontaktaufnahme erheblich und man bekam auch einen Eindruck vom normalen amerikanischen Studentenleben.

Es wurde sofort klar, dass wir es mit einer erstklassigen, auf anspruchsvolle Kurse spezialisierten Harvard School zu tun hatten. Der Tagesablauf während des Kurses war streng organisiert, und es wechselten sich didaktisch hervorragend organisierte Vorträge und Präsentationen im Plenum mit Gruppendiskussionen und Arbeit mit zwei oder drei Personen ab. Die Trainer und Vortragenden agierten alle sehr professionell als souveräne Selbst- und Themendarsteller ohne den Eindruck zu erwecken, ihr Programm abzuspulen. Vielmehr reagierten alle sehr sensibel auf die Gruppenstimmungen und variierten ihre Präsentationen entsprechend.

Dass es hier nicht etwa um die soundsovielte langweilige Präsentation irgendwelcher Management-Techniken ging, war sofort klar. Denn alle Dozenten gingen mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass die Bibliotheken und die Bibliothekare nicht etwa zu Organisationen mit möglichst vielen Parallelen zur Unternehmenswelt sondern in vollem Umfang zur educational world gehören, also einem besonderen Auftrag mit Zielen von allgemein hoher Wertschätzung verpflichtet sind. Bibliothekare sind und bleiben teachers! Das klang in deutschen Ohren doch ziemlich "anstössig".

Methodisch wurde nach zwei Schwerpunkten vorgegangen: zum einen nach der sog. "Case-study-methode", d.h. in unserem Falle wurden anonymisierte Situationen aus dem echten bibliothekarischen Leben vorgestellt und zum anderen nach der sog. Frametheorie (Grundlage ist das auch in Deutschland recht bekannte und viel gepriesene Werk von Lee G. Bolman und Terrence E. Deal: Reframing Organizations. Artistry, Choice, and Leadership. 1997).

Kurz gesagt geht es dabei um die Feststellung, dass folgende vier Rahmenbedingungen bei Managemententscheidungen nicht aus den Augen verloren werden dürfen, nämlich:

Strukturelle, Politische, Personelle und Symbolische. Dabei steht strukturell für die formale Autorität, politisch für die Sicherung von Vorteilen, personell für Kommunikation und symbolisch für das gemeinsame Handeln und die Ausrichtung auf gemeinsame Ziele.

Die Arbeit mit Case-Studies und Frametheorie beruhen auf folgenden Schritten, die helfen sollen, Diskussionsbeiträge und Lösungsmöglichkeiten zu bündeln:

Gerade bei Teilnehmern aus dem Bildungssektor rechnen die Dozenten erfahrungsgemäß mit Einstellungen, bei denen die geforderte Vielfalt der Rahmendingungen zu wenig Berücksichtigung findet. Zu oft noch wird der structural frame zu viel Bedeutung beigemessen, damit dem Glauben an "authority in power", der Neigung zur Kontrolle und auch Spezialisierung, nicht zuletzt auch zur starken Betonung von Soll-Zuständen. Demgegenüber fehlt es an der Arbeit mit politischen und symbolischen frames. Dazu passen die Bemerkungen, wie sie in den Diskussionen zu hören waren: Die klassischen physischen Objekte, an denen die Bibliotheken bisher ihre Arbeit gegenüber den Benutzern festmachten, kommen ersatzlos abhanden ­ und die amerikanischen Kolleginnen/Kollegen spüren deutlich, dass es an "icons", Symbolen für ihre derzeitige Arbeit, fehlt.

Nicht nur die intensive Beschäftigung mit diesen "Fällen", sondern auch die engagierten Diskussionen machten den Teilnehmern klar, dass es gelingen kann, auf dieser Basis kritische Situationen besser einzuschätzen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Auch wenn vieles auf den ersten Blick als "selbstverständlich" erscheint, so erinnerten wir uns alle an Situationen, wo wir bessere oder zufriedenstellendere Ergebnisse hätten erzielen können, wenn wir uns an diesem Ablauf orientiert hätten. Da es hier, um es nochmals zu sagen, um die Tiefenstruktur von Führungsproblemen ging und Führung nicht ­ wie es heutzutage in Deutschland vorkommen kann ­ etwa mit der Bewältigung von EDV-technischen Problemen gleichgesetzt wird, war im gesamten Kurs eine große Nähe zu den angesprochenen, überall ja gleichen Problemen spürbar.

Daneben konnte man natürlich auch weitere Erfahrungen machen, die hier weitergegeben werden sollen und die unbedingt positiv sind:

Ein weiteres Ergebnis ist die Erkenntnis, dass es uns in einer deutschen Universitätsbibliothek so schlecht nicht geht, wenn man die z.T. doch erheblichen organisatorischen und administrativen Hindernisse kennenlernt, die in amerikanischen Einrichtungen bestehen. Die offenkundig enorm bedeutende Rolle der Gewerkschaften als stete Mit-Entscheider gerade im Bildungsbereich fand öfter Erwähnung. Und der Frust wegen unzulänglicher technischer Lösungen oder nach fehlgeschlagenen Reorganisationen ist in den Staaten bei vielen Kollegen enorm! Für uns bestand und besteht der hauptsächliche Gewinn darin, dass uns im positivsten Sinne klar wurde "There is Hope": d.h. es gibt substantielle Möglichkeiten, Dinge zu verändern ­ vor allem durch eigenes Handeln. Was wurde hier nicht alles angesprochen: Besserer Umgang mit den eigenen Defiziten; Grundsätze für Strategien-Entwicklung, Bewältigung einer Position, die uns typischerweise in der Mitte gefangenhält zwischen hierarchisch "unten" und hierarchisch "oben".

Man mag natürlich einwenden, ob man, um zu diesen Einsichten zu gelangen, tatsächlich in die USA fahren muss. Zunächst ist selbstverständlich klar, dass das Ziel nicht sein kann etwas "lernen" zu wollen, sondern Dinge, die man seit langem kennt und weiß, zu überdenken und in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Das Seminar hat uns auch gezeigt, dass man trotz vielfacher Arbeitsbelastungen mehr Möglichkeiten hat als man gemeinhin denkt, Dinge analytisch und ergebnisorientiert zu betrachten und umzusetzen. So sind wir nicht nur mit guten Vorsätzen, sondern auch hoch motiviert und zufrieden zurückgekehrt.

Wir sind im Übrigen mit der nachdrücklichen Aufforderung verabschiedet worden, diesen Kurs nicht als einmalige Veranstaltung abzuhaken, sondern bewusst für Feedback zu sorgen und mit ausgewählten Partnerinnen/Partnern in Kontakt zu bleiben.

Aus diesem Grunde wünschen wir vielen Kolleginnen und Kollegen, dass sie gleichfalls die Möglichkeit haben werden, solche positiven und motivierenden Erfahrungen zu machen, die sich mit Marcel Proust zusammenfassen lassen: "The real act of discovery consists not in finding new lands but seeing with new eyes."

Für Interessierte stehen wir mit weiteren Informationen gerne zur Verfügung.

Last not least: Wir wissen, dass es nicht selbstverständlich ist, auf diese Weise gefördert zu werden. Und deshalb sind wir unseren Universitäten sehr dankbar für diese einzigartige Möglichkeit, die man uns in diesem Sommer geboten hat. Wir werden sicherlich noch lange an diese ereignisreiche und schöne Woche zurückdenken, nicht zuletzt wegen der vielen Kontakte, die z.T. im Zeitalter von Internet und E-Mail sicherlich bestehen bleiben.


Anmerkung:

Das ACRL/Harvard Leadership Institute ist unter folgender WWW-Adresse zu finden:
http://www.gse.harvard.edu

Auszug aus der Leseliste:


Zu den Autoren

Dr. Irmgard Lankenau
Universitätsbibliothek Koblenz-Landau
Im Fort 7
D-76829 Landau
E-Mail: Lankenau@uni-koblenz-landau.de

Dr. Andreas Anderhub
Universitätsbibliothek Mainz
Postfach 4020
D-55030 Mainz
E-Mail: Anderhub@ub.uni-mainz.de