Forschungsdrang stillen via E-Mail

Ny-Ålesund auf Spitzbergen. Die nördlichste menschliche Siedlung der Welt. Zwischen ewigem Eis und Eisbären nutzen hier bis zu 80 Wissenschaftler im Jahr die Koldewey-Station, um die Atmosphäre zu erforschen. Wenn sie für ihre Arbeit Fachliteratur benötigen, wenden sie sich an eine Bibliothek in Bremerhaven. Die schickt ihnen die Beiträge auf eine ganz eigene Weise.

Lang ist der Flur. Rechts und links reiht sich Regal an Regal; verschiebbar nur durch Kurbelräder. Etwa 115.000 Bücher und Zeitschriftenbände stehen hier. Sie sind teilweise über hundert Jahre alt. Marcel Brannemann wacht über sie.

Wir sind im Alfred-Wegener-Institut (AWI), dem Zentrum der deutschen Polar- und Meeresforschung. Die Stiftung besteht seit 20 Jahren, und ihre Mitarbeiter tragen dazu bei, die Beziehungen zwischen Ozean, Eis und Atmosphäre zu verstehen ­ besonders in den polaren Breiten. Arktis und Antarktis haben einen entscheidenden Einfluss auf das Weltklima. Die Erforschung dieser Gebiete ist daher besonders geeignet, mögliche Umweltveränderungen in der Zukunft abzuschätzen. Der Namensgeber Alfred Wegener (1880­1930) formulierte die Hypothese von der Drift der Kontinente.

Die interdisziplinäre Forschungseinrichtung betreibt die Koldewey-Station in der Arktis und die Neumayer-Station in der Antarktis. Letztere ist in den Sommermonaten mit 30 bis 40 Wissenschaftlern besetzt; neun von ihnen überwintern dort. Eine Erdfunkstelle sichert die permanente Übertragung wissenschaftlicher Daten nach Bremerhaven mit 64 kBit/s über Satellit.

Im Dienst des Alfred-Wegener-Instituts steht auch das eisbrechende Forschungsschiff Polarstern, derzeit das leistungsfähigste Polarforschungsschiff der Welt. Seit 1982 war es auf 32 Expeditionen in Arktis und Antarktis. Bisweilen brauchen die Forscher für ihre Arbeit Literatur aus der AWI-Bibliothek. Doch wie lässt sich ein kopierter Fachbeitrag per Post zur Polarstern schicken, wenn sie im Atlantik kreuzt?

Seit Anfang des Jahres setzt das AWI auf eine neue Versandmethode: Die Bücher mit den angeforderten Beiträgen werden herausgesucht, die Seiten gescannt, in pdf-Format umgewandelt und per E-Mail verschickt. "Damit können wir die Außenstationen besser versorgen", freut sich Marcel Brannemann. Er zeigt auf den ausladenden Aufsicht-Scanner mit dem Handelsnamen Bookeye. In Bremerhaven ist das Gerät seit Anfang des Jahres in Betrieb. Anstatt kopieren ­ eintüten ­ adressieren ­ zur Post tragen, erfolgt der Versand jetzt in einem Arbeitsgang.

Der Scanner der Bonner ImageWare Components GmbH eignet sich besonders für gebundene, dicke Bücher. Brannemann zeigt uns die Bibliothek und ein paar seiner Schätze. Seine braunen Augen leuchten angesichts der hundert Jahre alten Bücher.

Der Diplom-Geologe kam eigentlich nur zufällig zum Bibliothekswesen: "Mein Studium gewährleistete nicht gerade die besten Arbeitschancen." So suchte er nach seinem Abschluss nach einem Quereinstieg. "Ich hatte damals keine Ahnung davon, wie und wo man Bibliothekar wird." Über drei Ecken landete er bei der UB der FU Berlin und ließ sich den Alltag schildern. "Das primäre Medium für die Wissensvermittlung ist nach wie vor das Buch. Und Bücher interessierten mich schon immer." Brannemann wählte den Schwerpunkt wissenschaftliche Bibliotheken und trat 1986 seine erste Stelle als EDV- und Fachreferent bei der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart an. Seit August 1999 ist er Leiter der AWI-Bibliothek.

Sorgfältig verstaut er seine Buchschätze im Feuerschrank und steuert die Büros an. Hier ist es luftig und hell. Am Bookeye sitzt Verena Graßmann und scannt einen Beitrag für die Außenstation Helgoland. Sie ist eine von drei Hilfswissenschaftlern, die in der Bibliothek arbeiten. "Ohne studentische Hilfskräfte könnten wir den Literaturversand nicht anbieten," betont Marcel Brannemann.

Und wie geht das jetzt genau? Verena Graßmann streicht das Buch vorsichtig glatt und richtet es aus. Flink drückt sie zwei Knöpfe am Gerät, die Beleuchtung geht an, und die Seite erscheint auf dem Bildschirm. Dann ist die nächste Seite an der Reihe.

"Manche Anforderungen schaffe ich in zwei Minuten, wenn das Papier stimmt," sagt Verena Graßmann. Aufwendiger ist glänzendes Papier, bei dem mehrere Versuche nötig sind. Kritisch sind auch kleine Schriften unter 6 pt oder Fotos. Auch ein zu kleiner Steg macht Probleme. Der entsteht durch das Binden einzelner Zeitschriften zu Jahrgängen. Zum Ablichten muss sie das Buch auf der Unterlagen hin und her schieben.

Die automatische Buchfalzkorrektur der Software rechnet die Verzerrung am Bund heraus. "Damit konnten wir die Qualität erheblich steigern", freut sich Marcel Brannemann. Denn bei den früheren Kopien war der Textrand verzerrt durch die gewölbte Vorlage. Ein weiterer Vorteil ist die schonendere Behandlung der Bücher, die jetzt nicht mehr auf die Scheibe gedrückt werden. Für besonders dicke Bücher bietet ImageWare eine spezielle Buchwippe an, siehe Textkasten mit Technischen Daten.

Technische Daten über Bookeye
  • Digitalisieren von Vorlagen bis DIN A2-Format (z.B. Bücher, Zeitungen, Ordner, gebundenes Beleggut) und bis zu 35 cm Buchdicke.
  • Der Graustufenscanner kann sowohl bitonal, als auch 16 oder 256 Graustufen scannen.
  • Software BCS-2: Bookeye Capturing System zur elektronischen Dokumentenlieferung und Web-Publishing.
  • Scan- und Mail- Anbindung für Microsoft Outlook/Exchange, Lotus Notes und Netscape Communicator.
  • Schnittstellen für Archiv- und Liefersysteme integriert wie Jason, Subito, Easy, Xerox Documentum, ACS Hyparchiv.
  • Deutsche Entwicklung und Produktion.
  • Das AWI gehört der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF) an, in der diverse Forschungsinstitute vertreten sind. Die Bibliotheken der HGF-Mitglieder und die der meereskundlichen Institute im In- und Ausland können auf die AWI-Bibliothek zugreifen, bald auch per Online-Katalog. Mit zehn Universitäten kooperiert das Institut in Lehre und Forschung. Täglich gehen etwa 40 Anfragen für Beiträge ein ­ und das mit steigender Tendenz. Der Hauptteil stammt von den Außenstellen der Biologischen Anstalt Helgoland (BAH) auf Helgoland und Sylt, die seit zwei Jahren dem AWI angehört. Weitere Anforderungen kommen aus der Forschungsstelle in Potsdam.

    Die Beiträge können Text, Tabellen und Grafiken sowie Fotos enthalten. Für jede Art stellt Verena Graßmann die eigene Auflösung ein. Die Fotos scannt sie momentan noch auf einem separaten Flachbett-Scanner von HP, da er Graustufen erfasst. Die Bilddateien sind dann als separate tif-Formate im Netz gespeichert. Verena Graßmann bindet sie in die Gesamtdatei in der richtigen Seitenabfolge ein und speichert den kompletten Beitrag im pdf-Format. Mit der geplanten Erweiterung der Software wird sie die beiden Scanner vom Hauptmenü aus anwählen können. So befinden sich alle erfassten Seiten gleich in der richtigen Reihenfolge im Dokument.

    Mit der Software BCS-2 lässt sich Bookeye in ein PC-Netzwerk unter allen Windows-Plattformen einbinden. Die Vorlagen können bis DIN A2 groß sein, was für die Überformate der AWI-Bibliothek wichtig ist. Sie lassen sich auf ein vorgegebenes Format anpassen. Hier ist DIN A 4 entscheidend, damit sich die Seiten auf herkömmlichen Druckern ausdrucken lassen.

    Marcel Brannemann setzt auf das pdf-Format: "In unseren Standorten arbeitet wir auf vielen verschiedenen Betriebssystemen. Mit dem pdf-Format kommen alle Anwender zurecht." Nach dem Versand werden die Daten wieder gelöscht. Warum? Könnte da nicht ganz nebenbei eine digitale Bibliothek entstehen? "Möglich wäre das schon", erklärt er, "wenn die entsprechenden Lizenz-Verträge mit den Verlagen bestünden." Doch für ihn rechnet sich die digitale Archivierung nicht: "Ein Artikel wird vielleicht ein oder zwei Mal angefordert ­ mehr nicht."

    Erste Verlage bieten wissenschaftliche Nachschlagewerke nur noch elektronisch an. Doch die sind mit beispielsweise 1.000 Mark im Jahresabonnement zu teuer. Das AWI hat allein 211 Fachzeitschriften abonniert. Mit etwa 500 anderen Zeitschriften unterhält die Bibliothek Tauschabos mit der eigenen Zeitschrift Berichte zur Polarforschung. So gelangen auch russische Fachschriften nach Bremerhaven. Die neueren Jahrgänge der Fachzeitschriften sind häufig zusätzlich online im Internet verfügbar.

    Bei älteren Büchern ist das Urhebergesetz nicht wirksam. Solche kann der Bibliotheksleiter auch digital archivieren, wie das Buch über die Beobachtungen der Russischen Polarstation an der Lenamündung. Es stammt aus der Zeit zwischen 1882 und 1884. Mit dem Acrobat Reader blättert er durch das virtuelle Buch. "Das war mein bislang größtes Projekt", freut er sich. Die 378 Seiten an Text und Bildern nehmen 36 MB in Anspruch. Heikel waren die vielen Tabellen und das Überformat.

    Marcel Brannemann hat sich die Auswahl des geeigneten Scanners nicht leicht gemacht. Zur Diskussion stand auch ein Aufsicht-Scanner von Fa. Minolta. "Die Bibliothekswelt ist klein", sagt er: Im letzten Jahr rief er ein paar Kollegen an und fragte sie nach ihren Erfahrungen. "Das waren wichtige Vorabinfos für mich; aber entscheidend waren die Vorführungen."

    Die fanden im Oktober 1999 statt. Zusammen mit einigen Mitarbeitern probierte er die Geräte aus. Dafür lagen einige Problemfälle bereit: Ein Band der Zeitschrift Science mit 8 cm dickem Rücken und extrem kleinem Steg sowie ein Großformat und einige Fotos. Der Bibliotheksleiter resümiert:

    "Beide Firmenvertreter kannten sich mit ihren Geräten sehr gut aus. Und die waren von der Qualität vergleichbar. Aber uns hat die Bedienung von Bookeye besser gefallen."

    Entscheidend war für ihn und seine Mitarbeiter, dass sich die Bedienungsknöpfe direkt am Gerät befinden. Der Konkurrent ließ sich nach Brannemann hauptsächlich per Maus bedienen. Ein weiterer Vorteil war die automatische Formaterkennung bei Bookeye. "Wir arbeiten mit so vielen verschiedenen Buchformaten. Die muss der Scanner erkennen."

    Mitte Juli schaltete das AWI auf der Expo eine Satellitenleitung zur Neumayer-Station in der Antarktis. Eine Großleinwand zeigte die Forscher im ewigen Eis. Die Besucher stellten ihnen unzählige Fragen über ihre Arbeit und die Arbeitsbedingungen in der Station.