Wegmann, Nikolaus: Bücherlabyrinthe:
Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter.


- Köln; Weimar; Wien: Böhlau, 2000. XII, 368 S.
ISBN 3-412-15499-7, DM 68,00

Das Buch von Nikolaus Wegmann ist als Reise- oder Bettlektüre völlig ungeeignet. Die ungewohnte andere Sicht auf die Bibliothek und die Bibliothekswissenschaft und die vielgestaltigen philosophischen, ideengeschichtlichen, literaturwissenschaftlichen und bibliothekswissenschaftlichen Exkurse verlangen die ganze Aufmerksamkeit des Bibliothekars.

Für eine ausführliche Besprechung dieser Habilitationsschrift müsste der Rezensent den Autor vielfach zitieren und seine Texte und Belege interpretieren. Dies ist allerdings in einer Zeitschrift, die sich nicht primär mit der Lehre und Forschung in der Bibliothekswissenschaft beschäftigt, unangebracht. Die folgenden Bemerkungen sind deshalb nur als erster Versuch einer Einschätzung zu verstehen. Sie sind gleichzeitig ein Appell an die Leser von B.I.T. online und insbesondere an die Lehrkräfte des Instituts für Bibliothekswissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und an den Fachhochschulen mit bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Studiengängen, sich mit dieser anregenden Lektüre und den z.T. provokativen Ansichten des Autors auseinanderzusetzen.

Schon die Überschriften der Kapitel - wie "Die Bibliothek als Moloch", "Die Bibliothek als Mülldeponie", "Ist der Katalog der Schlüssel zur Bibliothek?", "Bibliothek als Passion" und "Über die Schnittstelle ins Labyrinth" - verraten die Auseinandersetzung mit bisherigen Sichten.

"Dieses Buch ist ein Plädoyer, die Bibliothek in die Grundbegriffe der Literaturwissenschaft aufzunehmen. Schließlich ist die Bibliothek als das Macro Literary System - so die weniger traditionsbesetzte Terminologie der Library Science - Voraussetzung für Literatur wie Literaturwissenschaft. Warum dem Bibliothekar oder der Informationswissenschaft überlassen, worauf weder der literarische Autor noch der Wissenschaftler noch der gemeine Leser verzichten kann?" (S. 4) Der Autor sieht seine Schrift nicht als "Konkurrenz zur Bibliothekswissenschaft oder zu deren aktuellen, von der Digitalisierung und Quantifizierung getragenen Spin-offs wie Info-Science oder Bibliometrics" (S. 5). Für ihn ist die Bibliothek "weder bloße Büchergelehrsamkeit noch Magazin oder Museum. Sie ist vielmehr ein Feld, wo konkrete Probleme der Wissens-Praxis auf hochkomplexe Formen des Wissens stoßen. Die Bibliothek rückt in dem Maße, wie die regulierende Macht der Methoden- und Theorieschulen ebenso nachlässt wie die Verbindlichkeit historischer Entwicklungs- und Epochenbehauptungen, in das Zentrum des Wissens und der Wissenschaften" (S. 6).

Nach Wegmann gibt die Bibliothek bereitwillig Auskunft über die Welt. Sie hat aber noch eine andere Realität. Das ist nicht der obligatorische Ort des positiven Wissens, der Ordnung und der Transparenz, sondern das Irrsal einer unermesslichen Menge von Büchern, in der es schwierig ist, sich eine Auskunft zu verschaffen. Wegmann geht in zahlreichen Fallgeschichten dieser Dauer-Irritation vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach und erkundet die "Lesbarkeit" der Bibliothek. So sind weder die Bibliothek noch die Geschichte des Buches das eigentliche Thema. "Beides sind vielmehr Bezugsrahmen, um die Literatur in Szene zu setzen." (S. 7) Die Fallgeschichten berichten "von der Fähigkeit der Literatur, sich in den Magazinen der Bibliothek, ihren Literaturen und Schriften, orientieren zu können, obwohl die Unüberschaubarkeit der vielen Bücher die Lesbarkeit der Bibliothek unwahrscheinlich macht. Literatur, so die Arbeitshypothese für das Folgende, ist Bibliotheksliteratur" (S. 7).

Zu den Fallgeschichten gehören u.a. die Tätigkeit von Gotthold Ephraim Lessing in Wolfenbüttel, das Journal einer Reise im Jahr 1769 von Johann Gottfried Herder, eine philosophisch-gelehrte Abhandlung von Arthur Schopenhauer über Bücher und Bibliothek, die Utopie von Louis Sebastian Mercier über "Das Jahr Zwey tausend vierhundert und vierzig" (1), der Beitrag Ortega y Gassets über die Aufgaben des Bibliothekars (2) und Henry Millers "Kunst des Lesens".

Fazit: Nicht die Politik, die über die entsprechenden Gelder verfügt, nicht die Existenz allgemein akzeptierter Werte wie Bildung und Tradition und auch nicht die Auf- und Umrüstung mit Hochtechnologien sind ausschlaggebend, ob die Bibliothek als ein Medium von Rang weiterbesteht. Die Frage stellt sich als "Frage der Formen, der Modi und Schemata des Suchens und Findens: Der Rang der Bibliothek, ihr sprichwörtlicher Reichtum, entscheidet sich auf der Ebene der Operationen, in denen sie betätigt wird" (S. 322). Wegmann verwendet den Begriff "alexandrinisches Zeitalter". Seine Bezugnahme ist die Große Bibliothek von Alexandria, "Alexandrinismus ist nicht an eine exakte historische Datierung gebunden. Stets gilt nur, dass sich das Wissen ungeheuer ausgedehnt hat, ohne jedoch - und das ist bedingt durch die bibliotheksgestützte Form dieses epochentypischen Wissens - zu originalen Leistungen fähig zu sein. Was immer ein Zeitgenosse dieser alexandrinischen Kultur bei seinem ihm zum Habitus gewordenen Gang in die Bibliothek finden wird," - und nun nimmt Wegmann eine Anleihe bei Friedrich Nietzsche - "er bleibt doch der ewig Hungernde, der 'Kritiker' ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Korrektor ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet". Eine Kultur aus der Bibliothek als verflachte Kultur? Anregungen zur Diskussion gibt nicht nur dieses Beispiel.

Das Buch ist ein faszinierender Ansatz zur Betrachtung der Bibliothek und der Bibliothekswissenschaft - ein Glückwunsch an den Autor (3)! Auch die Leser von B.I.T. online werden von Wegmanns Sichten und Ansichten profitieren. Aber leider ist das Buch mit vielen, sicher sehr nützlichen Informationen überladen, gespickt mit Zitaten und mit weiterführender Literatur. Darunter leidet die Lesbarkeit des Buches, allerdings in einem anderen Sinne als sie der Autor unter dem Begriff "Lesbarkeit der Bibliothek" versteht.


Anmerkungen:

1. Hierher gehören auch die Visionen von Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887. Leipzig, 1890. (RUB 2660-2662) Zu den Bibliotheken: S. 128-137. Dazu auch die Antwort von Richard Michaelis: Ein Blick in die Zukunft. Leipzig, 1890. (RUB 2800)

2. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Ortega auch zur Zitatanalyse herangezogen wird. Vgl.: Hoerman, Heidi Lee: Secondary and tertiary citing: a study of referencing behavior in the literature of citation analysis deriving from the Ortega hypothesis of Cole and Cole. In: The library quarterly 65 (1995) 4, S. 415-434. - Reizvoll wäre auch eine Auseinandersetzung mit den Äußerungen von Barnabe Rich, der 1613 behauptet haben soll: "One of the diseases of this age is the multiplicity of books; they doth so overcharge the World that it is not able to digest the abundance of the idle matter that is every day hatched and brought forth into the world." So in: Price. D.J. de Solla: Little science, big science. London, 1963. S. 63.

3. Zur neueren, sehr statischen Definition einer Bibliothek aus der Sicht der Bibliotheksverwaltung nimmt der Autor leider nicht Stellung. Vgl. Ewert, Gisela: Die Definition der Bibliothek / Gisela Ewert; Walther Umstätter. In: Bibliotheksdienst 33 (1999) 6, S. 959-971. Dortige Definition: "Die Bibliothek ist eine Einrichtung, die unter archivarischen, ökonomischen und synoptischen Gesichtspunkten publizierte Information für die Benutzer sammelt, ordnet und verfügbar macht" (S. 966).


Anschrift des Rezensenten:
Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
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