Parzival und Lohengrin gehen online
Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert Projekt „Digitalisierung spätmittelalterlicher Bilderhandschriften aus der Bibliotheca Palatina“ in der UB Heidelberg

von Maria Effinger

Unter den 848 deutschen Handschriften der Bibliotheca Palatina, die in der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbewahrt werden, befindet sich mit 26 Bänden die bedeutendste Sammlung spätgotischer deutscher Bilderhandschriften. Seit Januar 2001 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit Personal- und Sachmitteln für die Dauer von zwei Jahren im Rahmen ihres Programms „Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen“ 1 ein Projekt zur Erstellung von digitalen Images der Text- und Bildseiten dieses einzigartigen Bestandes an Codices. Die digitalen Bilder sollen zum einen künftig im WWW überregional für die interdisziplinäre Forschung und Lehre im Rahmen einer „Verteilten Digitalen Forschungsbibliothek“ zugänglich sein. Das Projekt umfasst zudem im Rahmen des von der Universitätsbibliothek gepflegten Sondersammelgebiets Kunstgeschichte die wissenschaftliche Erschließung der digitalisierten Illustrationen und die Integration des Bestandes in das für mittelalterliche Handschriften seit 1996 im Aufbau befindliche, zentrale Nachweisinstrument „Handschriftendatenbank“.

Die Realisierung erfolgt gemeinsam durch die Universitätsbibliothek Heidelberg und den Lehrstuhl Mittelalterliche Kunstgeschichte (Prof. Dr. Lieselotte E. Saurma) des Kunsthistorischen Instituts der Universität Heidelberg.

Abbildung 1:
Bibel, Altes Testament
(Cod. Pal. Germ. 19) aus der
Werkstatt Diebold Laubers
(1441-1449) Fol. 1v: Der hl.
Ambrosius schreibt am Pult.

 

Die reich illustrierten 26 Papierhandschriften – entstanden zwischen 1417 und 1477 – lassen sich drei Herstellungsprovenienzen im deutschsprachigen Südwesten zuweisen: Sieben Handschriften entstammen der sogenannten „Werkstatt von 1418“, die wahrscheinlich in Straßburg anzusiedeln ist. Eine weitere Gruppe von elf Manuskripten wurde von Diebold Lauber und seinen Mitarbeitern im elsässischen Hagenau gefertigt. Sie repräsentieren das berühmteste und mit über 80 erhaltenen Codices wohl auch produktivste Scriptorium dieser Zeit. Die übrigen acht Bilderhandschriften können einer Stuttgarter Werkstatt zugeschrieben werden, die nach Ludwig Henfflin, dem einzigen namentlich bekannten Mitarbeiter benannt wird. Von ihr haben sich außerhalb Heidelbergs nach heutigem Kenntnisstand keine weiteren Erzeugnisse erhalten. Die Heidelberger Handschriften dieser drei oberdeutschen Werkstätten sind vermutlich sämtlich durch die pfälzischen Kurfürsten gesammelt und über die alte Bibliotheca Palatina in den Besitz der UB Heidelberg gekommen.

Der Bestand umfasst inhaltlich mit Wolframs „Parzival“, Heinrich von Veldekes „Eneit“ oder dem Briefroman „Willehalm von Orlens“ und anderem mehr nicht nur das gesamte Spektrum volkssprachlicher Literatur dieser Zeit, sondern enthält auch einige naturkundliche und erbauliche Werke. Besonders bemerkenswert für die Forschung wird die erstmalige Bereitstellung der mehrbändigen deutschen Bibel aus der Werkstatt Diebold Laubers sein, die zu den wenigen Zeugnissen von volkssprachlichen Vollbibeln des Mittelalters gehört (Abb. 1). Neben den teilweise nur unzulänglich in älteren Editionen zur Verfügung stehenden Texten, die in der Regel die Papierhandschriften nicht mit einbezogen haben, sind die Bilder von ebenso großer Bedeutung. So haben neuere Untersuchungen ergeben, dass mit den zwar seriell hergestellten, gleichwohl sehr differenziert eingesetzten Bildern eine Vermittlungs- und Interpretationsschicht eingeflochten wird, die dem damaligen Leser und vor allem dem Auftraggeber die meist ja wesentlich älteren Texte näherbringt. Nicht nur als belehrendes Angebot zum Verständnis haben diese Bilder gedient, sondern sie sprachen eine dem Betrachter vertraute Sprache, führten seine eigene Welt, seine Familie oder seinen Stand zurück in jenen Kreis berühmter Vorfahren, deren Taten die Texte schildern. Infolgedessen liefern die Bilder als Ausdruck des Selbstverständnisses recht verschiedenartiger Kreise, die vom Landadligen, Stadtpatrizier, Schreiber bis zu den Nassauer, Pfälzer und Württemberger Höfen gereicht haben, eine Fülle von Informationen zu unterschiedlichen Lebensbereichen, wie sie in keinem anderen Bestand deutscher Kunst im Spätmittelalter zu finden sind. Aktuelle theologische Fragen sind ebenso ins Bild gebracht, wie juristische Abläufe (z.B. Eidesformeln, Ankündigung von Streit, Beilegung von Streitigkeiten), Differenzierung von Standesverhalten usw. Besonders reich sind die Darstellungen in der Schilderung von Alltagsgegenständen und den zeremoniellen Abläufen zu Liebe, Gastfreundschaft, Abenteuer und Tod. Die Bücher der Natur von Konrad von Megenberg, von denen sich eines der bedeutendsten Exemplare in Heidelberg befindet, liefern mit ihrer Mischung von tradierten und innovativen Bildern einen Einblick in die Geschichte des Wissens, insbesondere der Naturwissenschaften.

Infolgedessen stellen die Illustrationen dieser Handschriften nicht allein für den Kunsthistoriker einen wichtigen Bestand spätmittelalterlicher Buchmalerei dar, sondern bergen darüber hinaus einen für weitere Forschungsbereiche unschätzbaren Fundus an Informationen. Dem Rechtshistoriker, dem Realienkundler, dem Literaturwissenschaftler, der sich mit Rezeption von Texten befasst, wie auch dem Alltagsforscher, dem Theologen und dem Naturwissenschaftler werden mit diesem Bildmaterial Daten zur Verfügung gestellt, die zweifellos zu neuen, weiterführenden Forschungen Anlass bieten.

Die in den letzten Jahren zunehmend häufiger werdenden Anfragen auf Nutzung der spätmittelalterlichen Handschriften durch Wissenschaftler, lässt auch unter dem Aspekt der Bestandserhaltung die Digitalisierung dieser Codices als konservatorisch dringend notwendig erscheinen. Nur so können die in hohem Maße gefährdeten und z.T. bereits wegen ihres schlechten Erhaltungszustandes für die Benutzung gesperrten Dokumente für die überregionale, interdisziplinäre Forschung in zeitgemäßer Form und auf lange Dauer zur Verfügung gestellt werden.

Schon seit 1996 wird der Gesamtbestand der 848 deutschen Handschriften der UB Heidelberg neu erschlossen, um die veralteten Kataloge von Karl Bartsch (1887) und Jakob Wille (1903) zeitgemäß zu ersetzen. Die anfänglich allein aus Mitteln der UB begonnene Arbeit wird seit Anfang 1998 durch die Unterstützung der Stiftung Kulturgut Baden-Württemberg und seit Januar 2001 durch die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf der Grundlage von insgesamt zwei Stellen fortgeführt. Fünfzehn der zu digitalisierenden Handschriften waren somit zu Projektbeginn bereits katalogisiert, die fehlenden elf Beschreibungen werden projektbegleitend erstellt.

Grundlage und Ausgangspunkt für die Indexierung der Illustrationen sind die Forschungen von L.E. Saurma. In ihrer Habilitationsschrift 2 wird erstmals der gesamte Bestand des Skriptoriums D. Laubers und der „Werkstatt von 1418“ erfasst sowie eine Primärverschlagwortung der Einzelbilder unter kunsthistorischen Gesichtspunkten vorgenommen.

Im Rahmen des Projektes werden die 26 Handschriften vollständig, d.h. Texte und Bildmaterial, in Farbe digitalisiert. Insgesamt handelt es sich um ca. 14.500 Seiten; auf ca. 2.000 dieser Seiten finden sich halb- bis ganzseitige kolorierte Federzeichnungen. Die Digitalisierung wird derzeit durch die Universitätsbibliothek Graz, Abteilung Sondersammlungen, vor Ort in Graz durchgeführt. Die Universitätsbibliothek Graz hat sich in den letzten Jahren im Rahmen ihres Projektes „Digitalisierung des steirischen Dokumentenerbes“ 3 als Kompetenzzentrum für die Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften etabliert und verfügt somit über entsprechende Erfahrungen mit der Verarbeitung derartiger größerer Datenmengen. Durch den Einsatz des eigens durch das Grazer Digitalisierungsteam entwickelten und konstruierten Kameratisches („Grazer Modell“), wird die Belastung der wertvollen Handschriften während der Aufnahmen minimiert.

über die reine Bereitstellung von Images hinaus werden die einzelnen Illustrationen ikonographisch erschlossen. Mittels eines nach dem ikonographischen Klassifikationssystem ICONCLASS 4 erstellten Registers, sollen differenzierte Zugriffe auf Bild und Text ermöglicht werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei den Darstellungsinhalten der Federzeichnungen, da diese trotz ihrer Bedeutung für alle historischen Disziplinen seitens der Kunstwissenschaft noch nicht vollständig und systematisch erfasst worden sind. Ziel ist daher, nicht nur möglichst viele Informationen zu den dargestellten Personen, Gegenständen und szenischen Zusammenhängen elektronisch recherchierbar zu machen, sondern auch weitere Suchmöglichkeiten, wie etwa nach Bildunterschriften, nach dem sonstigen Buchschmuck – wie etwa Initialen –  oder nach dem Bild-Text-Verhältnis und anderem mehr zu schaffen. Diese stark differenzierte Indexierung ermöglicht dem Benutzer nicht nur festzustellen, wie und in welchen Zusammenhängen bestimmte Personen oder Gegenstände usw. dargestellt sind. Er erhält auf diese Weise vor allem auch eine breite Basis zur näheren Bestimmung von verwandtem Vergleichsmaterial.

Aufgabe der aus den Mitteln der DFG eingestellten Kunsthistorikerin ist es, dem Realienkundler die Information zu liefern, welche Themen der Sachkultur in den Bildern zu finden sind. Eine Erfassung der Illustrationen nach dem Klassifikationssystem ICONCLASS, bei der mindestens ein Item pro Fachgebiet eingesetzt wird, wird pro Bild in der Regel vier bis acht Stichwörter verlangen: christliche Ikonographie, Mythologie, Theologie, Szenentyp, juridische Handlung, zeremonielle Handlung, Naturphänomene, Gestentypen pro Person, Realien (Waffen, Rüstungen, Kostüme, Heraldik, Gebrauchsgegenstände), Personennamen.

Die so aufbereiteten digitalen Images werden zum einen gemeinsam mit den Katalogisierungs- und Erschließungsdaten über die von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, dem Bildarchiv Photo-Marburg und der Bayerischen Staatsbibliothek München entwickelte „Handschriftendatenbank“ 5 mittelalterlicher Handschriften angeboten. Zum anderen werden sämtliche Daten im Rahmen der Virtuellen Fachbibliothek Kunstgeschichte lokal aufbereitet und ebenfalls über das World Wide Web angeboten, um so eine weitere Zugangsmöglichkeit für den Benutzer zu schaffen.

Abbildung 2:
Sigenot (Cod. Pal. Germ.  67)
aus der Werkstatt Ludwig
Henfflins (um 1470) Fol. 27v:
Aus Dankbarkeit für
seine Errettung aus der
Gewalt eines „wilden Mannes“
übergibt der Zwerg Baldung
(rechts) dem Helden Dietrich
von Bern (links) einen
schützenden Wunderstein.

 

Die Kooperation mit der „Handschriftendatenbank“ und die so realisierte Einbindung des Projekts in eine nationale, kooperative Erschließung ermöglicht den einheitlichen, stark detaillierten Zugriff auf die Datenbestände über die dort gebotenen Suchhilfen und Retrievalmöglichkeiten nach dem aktuellen Stand der Technik. Recherchierfähig sind dort die wesentlichen Angaben zur äußeren Beschreibung (Format, Einband, Wasserzeichen, Schrift, Provenienz, Datierung) und dem Inhalt (Textidentifikation, Textzuschreibung, Referenzen zur Forschungsliteratur). Normierte Ansetzungen und Verweisungsformen für Personen- und Ortsnamen, für Texttitel und Initien ermöglichen hier ein effizientes Retrieval.

Die Universitätsbibliothek gewährleistet dauerhaft angemessene Zugriffsbedingungen für die digitalen Dokumente. Sie entwickelt, neben dem Zugang über die „Handschriftendatenbank“ in Eigenleistung eine eigene World Wide Web-Präsentation, in die auch die Ergebnisse weiterer Digitalisierungsvorhaben einfließen werden. Diese eigene Präsentation wird auf nicht-proprietären Systemen basieren und soll auf XML für die Datenbeschreibung aufbauen. Um bereits jetzt erste Ergebnisse der öffentlichkeit vorstellen zu können, werden die Handschriften in einer vorläufigen Webdarstellung aufbereitet. Hierfür findet eine modifizierte Version der von der University of California in Berkeley entwickelten Software Ebind (Electronic Binding DTD) Anwendung. 6 So können bereits drei Monate nach Projektbeginn unter http://palatina-digital.uni-hd.de die ersten vollständigen Handschriften am Bildschirm durchgeblättert werden. Dabei handelt es sich beispielsweise um das Heldenepos „Sigenot“, entstanden um 1470 in der Werkstatt Ludwig Henfflins. Diese Handschrift zeichnet sich durch den prachtvollen Ottheinrich-Einband und die große Anzahl halbseitiger Miniaturen aus. (Abb. 2).

Die digitale Bereitstellung von Text und Bild eröffnet gegenüber der bisherigen Nutzung derartigen Quellenmaterials als Original oder Film beträchtlich erweiterte Bearbeitungsmöglichkeiten durch die Wissenschaft und auch für die breitere öffentlichkeit. Einen wesentlich erleichterten Zugang zu den Quellen bietet der standort- und zeitunabhängige Direktzugriff auf das Material. Quellenübergreifende Untersuchungen werden zum einen durch die gemeinsame Erschließungsdatenbank und zum anderen durch erstmaliges virtuelles Zusammenführen dieser Bestände ermöglicht.

So wäre es zukünftig wünschenswert, auch weitere Handschriften aus der Produktion des Diebold Lauber und der „Werkstatt von 1418“ im Besitz anderer Bibliotheken in das Projekt zu integrieren und so eine virtuelle Gesamtedition der oberdeutschen Bilderhandschriften zu verwirklichen. Auch die Ausweitung des Projekts auf sonstige Bilderhandschriften der Heidelberger Bibliotheca Palatina wäre denkbar.


Anmerkungen
1. http://www.dfg.de/foerder/biblio/vdf/vdf_3.html
2. Saurma-Jeltsch, Lieselotte E., Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau (2001, im Druck).
3. Vgl. http://www-ub.kfunigraz.ac.at/SOSA/digitalisierung.html sowie Zotter, Hans, Die Digitalisierung des Steirischen Dokumentenerbes, Bibliotheksdienst 3, 2000, S: 365-371.
4. http://www.iconclass.nl
5. http://www.fotomr.uni-marburg.de/hs-bank.htm
6. http://sunsite.berkeley.edu/Ebind/


Zur Autorin

Dr. Maria Effinger ist Leiterin der Abteilung Informationsdienste und Fachreferentin für Kunstgeschichte an der

Universitätsbibliothek Heidelberg
Postfach 105479
D-69047 Heidelberg
E-Mail: effinger@ub.uni-heidelberg.de