Bericht über den Wissensmanagement-Kongress in Baden-Baden Anfang März

von Vera Münch

Abbildung 1: Tagungsleiter Professor Dr. Rudi Studer eröffnet die Konferenz

Erfahrungen und Visionen, wissenschaftliche Ansätze und praktische Lösungen zeigte die 1. Konferenz "Professionelles Wissensmanagement" (WM2001) Mitte März in Baden-Baden. Auf dem Weg von der arbeitsteiligen zur wissensteiligen Gesellschaft gibt es noch viel zu tun. Fachleute betrachten Ansätze, die Informatik mit betriebswirtschaftlichen Methoden kombinieren und den Menschen in den Mittelpunkt stellen, als wichtigste Voraussetzung für erfolgreiches Wissensmanagement.

Im Internet bereitgestellte Informationseinheiten, sogenannte Dokumente, sollen zukünftig automatisch auf Anfragen antworten können. Diese Vision zeichnete Professor Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Maurer vom Institut für Informationsverarbeitung und computergestützte neue Medien (IICM) der Technischen Universität Graz, Österreich, in seinem Hauptvortrag zu dieser ersten Konferenz.

Abbildung 2: Peter Welchering vom Deutschlandfunk befragt Tagungsleiter Professor Dr. Rudi Studer zur 1. Konferenz "Professionelles Wissensmanagement"

Wie jetzt? Nicht besonders visionär? Sie haben das alles schon einmal gehört? Ach ja! Die Zauberformeln "Metadaten" und "XML", die Dokumente so kodieren, dass sie von unterschiedlichsten Programmen gelesen und richtig interpretiert werden können, geistern ja auch schon seit einigen Jahren durch die professionelle Informationswirtschaft und damit auch durch die internationale Bibliothekslandschaft. Neuerdings interessiert sich auch eine breite, interdisziplinäre Öffentlichkeit aus Wissenschaft und Wirtschaft für die Ansätze, die bislang nur dem eingeweihten Zirkel der Informations- und Dokumentationsszene (IuK/IuD) und ein paar wenigen Informatikern und "eCommercern" geläufig waren. Die globale Vernetzung macht die Verwaltung und Bereitstellung von Wissen, die Jahrhunderte Domäne von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren war, zu einem Thema, das alle interessiert. (Über Archivierung und langfristige Bewahrung des Wissens für die Allgemeinheit zerbrechen sich diese Leute ihren Kopf noch nicht. Sie wollen zunächst einmal das irgendwo elektronisch oder in Köpfen von Menschen vorhandene Wissen zusammentragen und bequem jederzeit für autorisierte Benutzergruppen unterschiedlichster Couleur verfügbar machen).

Visionen in Werkzeuge umgesetzt

Hermann Maurer ist einer der Vordenker des alten eingeweihten Zirkels. Mit "Hyperwave", dem von ihm ursprünglich entwickelten, ersten "Web based Knowledge Management System der 2. Generation", und primär elektronisch publizierten Journalen wie "J.UCS" (Journal of Universal Computer Science) sowie Multimediaprojekten ("Images of Austria") hat er sich einen internationalen Namen gemacht. Maurer gehört zur Gruppe derer, die formulierte Visionen per Informatik in brauchbare Werkzeuge und Anwendungen umsetzen. Und während traditionelle IuK-Vertreter noch stark in Katalogisierungs-Schemata denken, ist für ihn die Organisation von unstrukturierten Daten schon fast zu einer reinen Frage intelligenter Agententechnologie, Semantik und verfügbarer Speicherkapazitäten geworden.

Abbildung 3: Pragmatisches und Visionäres zum Thema Wissensmanagement lieferte Branchen-Guru Professor Dr. Dr. h.c. Hermann Maurer

Professor Dr. Rudi Studer, Wissensmanagement-Forscher am Institut für Angewandte Informatik und Formale Beschreibungsverfahren (AIFB) der Universität Karlsruhe (TH) und Leiter des Forschungsbereiches Wissensmanagement am Forschungszentrum Informatik (FZI) in Karlsruhe, verfolgt schon lange das Ziel, Wissenschaft und Praxis des jungen Fachgebietes Wissensmanagement (kurz WM oder Knowledge Management, KM) enger zusammenzubringen. Mit der WM2001 und der parallel dazu veranstalteten Fachindustrieausstellung ist es ihm und seinem Forschungsteam jetzt gelungen. 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, davon rund 140 aus Unternehmen der Privatwirtschaft, fanden den Weg nach Baden-Baden. Die Vorträge und Tutorien der zweitägigen Konferenz wurden je zur Hälfte von Wissenschaftlern und Wirtschaftsvertretern gehalten. "Diese Verbindung herzustellen, war eines unserer größten Bestreben. Die Wissenschaft lernt so die Probleme der Praxis kennen und die Praktiker erfahren von neuen Methoden und Werkzeugen aus der Wissenschaft", begründete Studer. Durch den Konferenzrahmen sei das auf einem höheren wissenschaftlichen Niveau möglich als bei Messen mit Fachvorträgen.

Konferenzteilnehmer aus vielen Disziplinen

Doch nicht nur die hohe Wirtschaftsbeteiligung überraschte an der WM2001. Auch die teilnehmenden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen waren alles andere als typisch für eine Konferenz, die von einem Informatik-Institut ausgerichtet wird. Soziologen, Psychologinnen und Betriebswirtschaftler mit Marketing- und Customer-Relationship-Ausrichtung (CRM) waren in Baden-Baden fast genauso zahlreich vertreten wie Informatiker und Naturwissenschaftler. Eine ähnliche Mischung fand sich auch bei den Wirtschaftsvertretern, die aus IT- und Produktentwicklung, Vertrieb und Marketing kamen. Besonders ins Auge fielen auch die Unternehmensberatungen, die sich offensichtlich immer stärker für Wissensmanagement interessieren.

Abbildung 4: Gisela Schillinger, der gute Geist hinter den Kulissen, ist Sekretärin am Institut AIFB

Das interdisziplinäre Interesse ist bezeichnend für die derzeitige Entwicklung des Fachgebietes. Anders als vor zehn, fünfzehn Jahren, als mittels Künstlicher Intelligenz (KI) und Expertensystemen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Unternehmen ein System übergestülpt werden sollte, das ihnen zunächst ihr Fachwissen entlockte, um danach einige von ihnen genau durch diese systemgestützte Wissensverarbeitung wegrationalisieren zu können, stellen die neuen Wissensmanagement-Ansätze den Menschen in den Mittelpunkt des Geschehens.

Wissende im Zentrum der Aufmerksamkeit

"Wir wollen Wissen so vernetzen, dass es auf vielfältige Weise nutzbar wird. Dazu braucht es nicht nur leistungsfähige Informationstechnik, sondern auch Methodik", erklärt Studer. Gefragt seien Methoden der Betriebswirtschaft und der Informatik, die Informations- und Kommunikationstechnik mit Unternehmenskultur, Betriebsorganisation und Personalmanagement verbinden. Sie müssten bereits zum Entwurf eines Wissensmanagementsystems und erst recht später bei der Einführung kombiniert eingesetzt werden. "Es geht nicht ohne den Menschen, der das Wissen in sich trägt, aber auch nicht ohne Werkzeuge", so Studer.

Modernes Wissensmanagement setzt deshalb auf drei Ebenen an:

  1. Management der Wissenden
  2. Management der Wissensbestände
  3. Intelligente Werkzeuge.

Die WM2001 behandelte alle diese Bereiche, wobei der Schwerpunkt auf organisatorischen Fragen und intelligenten Informatik-Lösungen lag. Die einzelnen Vorträge sind im Konferenzband dokumentiert (siehe Kasten).
Tagungsband/Proceedings

Titel: Professionelles Wissensmanagement - Erfahrungen und Visionen
Serie: Informatik
Herausgeber: Hans-Peter Schnurr, Steffen Staab, Rudi Studer, Gerd Stumme, York Sure
Verlag: Shaker Verlag, Postfach 1290, 52013 Aachen
Tel. 02407/95 96-0
Fax. 02407/9596-9
info@shaker.de
www.shaker.de
Code: ISBN 3-8265-8611-5

QS an KM und Systemeinführung ohne EDV

Wie pragmatisch man an das Thema trotz aller Komplexität herangehen kann, zeigte einmal mehr Hermann Maurer. Einige seiner Tipps sind so naheliegend, dass sie schon fast wieder banal wirken. Als Ausgangspunkt für die Organisation eignet sich laut Maurer beispielsweise die Qualitätssicherung (QS nach ISO9000x), die mittlerweile in fast allen Unternehmen vorhanden ist. Sie repräsentiere die Abläufe und mache Wissensflüsse transparent. QS an KM sei eine gute Grundlage für den Aufbau einer Wissensmanagement-Infrastruktur.

Maurer geht noch weiter. So stellt er anheim, die organisatorischen Veränderungen, die für eine funktionierende Wissensmanagement-Infrastruktur notwendig sind, zunächst völlig ohne EDV einzuführen. Dies hätte den Vorteil, dass die Belegschaft später die Software als Werkzeug zur Reduzierung der Arbeitsbelastung begrüßen würde, anstatt sie - wie häufig bei der Einführung eines neuen Systems - für Mehrarbeit und Probleme verantwortlich zu machen.
Abbildung 5: Industrieausstellung: Das junge Unternehmen ontoprise GmbH ist ein Spin-Off des Institutes AIFB. Rechts im Bild: Firmengründer Hans-Peter Schnurr

Experten beantworten FAQs

An Beispielen illustrierte der Wissensmanagement-Fachmann, wohin die Reise geht und wo die Vorteile wirklich liegen werden. Im Knowledge Management von Motorola etwa gäbe zunächst nicht das System die Antworten auf Fragen, sondern real existierende Experten setzen sich damit auseinander. Pro Wissensgebiet tun sie das maximal 500 bis 1000 mal, denn Untersuchungen haben ergeben, dass nach dieser Anzahl von Fragen keine neuen Fragen mehr gestellt werden, sondern immer wieder die gleichen auftauchen. Das bedeutet bei weltweit 150.000 Motorola-Angestellten, dass vielleicht 1000 Anfrager individuell bedient werden. Aber 149.000 bekommen die Antwort vom System, und zwar eine vernünftige. Denn die expertengeführten Dialoge werden registriert und so kann das System dann anhand von semantischen Netzen und Ontologien erkennen, zu welcher Frage welche Antwort passt. (Die Heinzelmännchen der neuen Systeme sollen schon deutlich höher entwickelt sein als der bislang noch häufig nervende Radfahrer des Microsoft Office-Paketes).

Auch die neuen Wissenslandkarten (Knowledge Landscapes) zur Strukturierung der Wissensbereitstellung basieren auf Semantik und Ontologien. Sie können aus einer Frage ableiten, in welchem thematischen Umfeld sie gestellt wird. Aus dieser Ableitung heraus bieten sie passende Informationsteile aus dem Wissensfundus ihres Informationsnetzes an. Maurer stellte dies anhand des Brockhaus premium dar, für den er und sein Team die Wissenslandkarten mitentwickelt und in Informatik-Lösungen umgesetzt haben.

Aus eMail neues Wissen ableiten

Die Ableitung neuen Wissens aus Systemwissen war denn auch das tatsächlich Visionäre am Vortrag von Maurer. Der Branchen-Guru ist fest davon überzeugt, dass sich durch den Einsatz intelligenter Werkzeuge aus eMails (oder auch anderen elektronisch ausgetauschten Dokumenten) neues Wissen erzeugen lässt.
Abbildung 6: Das Kongresshaus Baden-Baden bietet eine sehr angenehme, funktionelle Konferenzausstattung.
eMail gehöre deshalb in ein zentrales System, wo sie für alle zur Verfügung stünde und so die Effizienz von Arbeitsabläufen erhöhen könne. Auch dafür hatte Maurer bereits ein Beispiel: In einer prototypischen Anwendung konnte aus einer Vielzahl von ausgewerteten eMails abgeleitet werden, dass zwei Projektgruppen am selben Thema arbeiteten. Das System erzeugte daraufhin eine Warnmeldung und weitere Doppelarbeit konnte vermieden werden. Allerdings, so Maurer, stecke die Entwicklung hier noch sehr in den Kinderschuhen. Von 50 abgegebenen Warnmeldungen seien 48 uninteressant. Doch selbst wenn nur zwei Meldungen von hundert verhinderten, dass doppelt geforscht werde oder sich verschiedene Niederlassungen eines Unternehmens bei Angeboten an Dritte gegenseitig unterböten, sei schon sehr viel gewonnen.

Maurer nennt das durch Software aus Dokumenten abgeleitete Wissen "systemisches Wissen"; also das Wissen eines Systems. Der oft philosophisch weit voraus blickende Vordenker erwartet, dass Wissensmanagement das Zusammenleben der Menschen von der derzeitigen arbeitsteiligen Gesellschaft zu einer wissensteiligen Gesellschaft hin verändern wird. So, wie heute in den Industrieländern niemand mehr ohne die Arbeit anderer existieren kann, wird man nach Ansicht von Maurer irgendwann in Zukunft bei der persönlichen Lebensorganisation auf das Wissen anderer angewiesen sein. Und vielleicht sogar auch auf "systemisches" Wissen.
NewsGroup für Wissensmanagement

Auf Initiative der Gesellschaft für Wissensmanagement e.V. (GfWM) in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Wissensmanagement und goin24.de wurde am 15. März 2001 die erste unabhängige und öffentliche NewsGroup für Wissensmanagement im deutschsprachigen Raum eröffnet.
http://www.goin24.de
http://www.wissensmanagement-gesellschaft.de
http://www.wissensmanagement.net

Die 2. Konferenz "Professionelles Wissensmanagement" ist für Frühjahr 2003 geplant. Sie wird von Ulrich Reimer von der Schweizer Lebensversicherung Swiss Life organisiert.

Weitere Informationen zur Baden-Badener Konferenz:
E-Mail: wm2001@aifb.uni-karlsruhe.de
URL: http://wm2001.aifb.uni-karlsruhe.de


Zur Autorin

Vera Münch ist freie Journalistin

Leinkampstrasse 3
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E-Mail: vera.muench@t-online.de