Der Beitrag Öffentlicher Bibliotheken
zur Überbrückung der Digitalen Spaltung

von Klaus Meyer

1. Einleitung

Selten zuvor hat die Entwicklung einer neuen Technologie so weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklung der Gesellschaft gehabt wie das Internet. Das von vielen als "Digitale Revolution" bezeichnete Phänomen weist auf das Veränderungspotential des Internet hin und weckt Assoziationen zu den Auswirkungen der "Industriellen Revolution", deren technische Errungenschaften die Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert völlig veränderten. Innerhalb von 200 Jahren vollzog sich in vielen europäischen Ländern der Übergang zu immer moderneren Industriegesellschaften, deren negative Auswirkungen sich in der Verarmung der Arbeiter und der Entstehung des Industrieproletariats niederschlugen. Die sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Internets können durchaus mit den durch die "Industrielle Revolution" ausgelösten Veränderungen verglichen werden. In vielen Ländern hat die Entwicklung des Internets die Umwandlung von der Industrie- zur Informationsgesellschaft vorangetrieben. Für viele Bürgerinnen und Bürger ist der Einzug des Internets in ihr tägliches Leben zur Normalität geworden. Von Online-Banking über die Abgabe der Steuererklärung bis hin zu Job-Börsen bietet das Internet ein breites Spektrum an Dienstleistungen. Die Vorzüge der vernetzten Gesellschaft, die diesen Bürgern zur Selbstverständlichkeit geworden sind, bleiben großen Teilen der Bevölkerung jedoch vorenthalten. Die Gefahr einer Aufteilung der Gesellschaft in "Informationsarme" und "Informationsreiche" besteht. Genauso vielschichtig wie die Ursachen dieser "Digitalen Spaltung" der Gesellschaft sind, müssen auch die möglichen Lösungsansätze betrachtet werden. Aufgrund der einschneidenden gesellschaftlichen Auswirkungen befassten sich verschiedene Tätigkeitsbereiche der Bertelsmann Stiftung mit dem Problem der Digitalen Spaltung. Dass die Öffentlichen Bibliotheken in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle einnehmen können, soll folgender Artikel zeigen.

2. Digital Divide in den USA

"Schon 1980 wusste ich, dass es einmal eine digitale Kluft geben würde", prophezeite Antonia Stone, damals Lehrerin in Harlem, einem sozial schwachen Armenviertel in New York. Zwanzig Jahre später bewahrheiteten sich ihre Befürchtungen. Während 60 Prozent der Haushalte in den USA mit einem Einkommen über 75 000 Dollar im Jahr über einen Internet-Zugang verfügten, war dieses nur bei sieben Prozent mit einem Einkommen unter 10 000 Dollar der Fall. Die damaligen Ergebnisse einer Studie der National Telecommunications and Information Administration (NTIA) empfahlen die Einrichtung von mehr öffentlichen Zugangspunkten zum Internet in Bibliotheken, Schulen und Gemeinschaftszentren, um den Gefahren des "Digital Divide" zuvor zu kommen. Mit der Gründung eines ersten "Community Technology Center" folgte Antonia Stone der Empfehlung. Heute ist Stones "Community Technology Centers' Network (CTCNet) auf über 300 Zentren landesweit gewachsen. In den von Unternehmen und Staat gemeinsam finanzierten Technologiezentren, die schwerpunktmäßig in sozial schwachen Gebieten angesiedelt sind, können Menschen kostenlos - und bei Bedarf betreut - surfen. Mittlerweile haben solche Initiativen auch in einigen Ministerien zur Nachahmung angeregt. Das US-Wohnungsbauministerium hat seit 1995 über 500 Computer-Zentren errichtet. Während das Ministerium nur als Ansprechpartner fungiert, werden Geld und Technik von privaten Partnern zur Verfügung gestellt. Ein Beispiel der erfolgreichen öffentlich-privaten Zusammenarbeit liefert die Bill & Melinda Gates Foundation. Für das Ziel, alle Öffentlichen Bibliotheken in den USA ans Internet anzuschließen, wurden bisher 300 Millionen Dollar ausgegeben.

3. Die Digitale Spaltung in Deutschland

Die Tendenzen, die sich in den USA bereits in den 80er Jahren anbahnten, die aber erst 1999 auf der Basis des Berichtes "Falling through the Net"1 untersucht wurden, schlugen sich auch bei der Entwicklung des Internets in Deutschland nieder. In Zusammenarbeit mit der "Initiative D21"2 nahm die internationale Management- und Technologieberatung Booz, Allen & Hamilton eine Untersuchung zur Digitalen Spaltung der Gesellschaft in Deutschland vor, die im August des Jahres 2000 vorgelegt wurde.3 Die Ergebnisse der Studie bestätigten die Befürchtungen: in Schlüsselbereichen der I & K-Technologien nimmt Deutschland lediglich einen Platz im Mittelfeld ein. Noch besorgniserregender ist die Prognose, dass bis zum Jahr 2003 21 Mio. Bürger - immerhin ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung - die Nutzung des Internets vorenthalten bleibt.4 Die Digitale Spaltung wird, wenn Politik und Wirtschaft nicht enger zusammenarbeiten, weiter voranschreiten.

Die Untersuchung der Forschungsgruppe Telekommunikation in Zusammenarbeit mit der Universität Bremen bestätigt die Entwicklungen. Seit Mitte der 90er Jahre nimmt die Zahl der Internet-Nutzer kontinuierlich zu. Momentan nutzen zumindest gelegentlich rund 18 Mio. Bundesbürger das Internet. Die Mehrzahl ist männlich, mittleren Alters und verfügt über eine hohe Schulbildung sowie ein gehobenes Einkommen. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind aber - gemessen am Anteil der Gesamtbevölkerung - im Vergleich zu anderen Internet-Nutzern erheblich unterrepräsentiert. Diese Differenz zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen bezüglich gleicher soziodemografischer Merkmale wird als Digital Divide oder Digitale Spaltung bezeichnet.5

Die Ursachen für die Nichtnutzung des Internets sind auf sehr unterschiedliche Gründe zurückzuführen. Als Motive sind die Kosten von Internet-Zugängen (inklusive der benötigten Hard- und Software), unzureichende Fähigkeiten im Umgang mit dem Internet (Mediennutzungskompetenz), fehlende Inhalte für die entsprechenden Nutzergruppen sowie die mangelnde Erschließung von Quellen im Internet zu nennen. Die Öffentlichen Bibliotheken werden sich im Zeitalter des Digital Divide mit neuen Bedingungen und Anforderungen auseinandersetzen müssen. Entscheidend für den Erfolg wird sein, ob den benachteiligten Nutzergruppen der Zugang zum Internet und dessen Nutzung ermöglicht werden kann. Weiterhin muss beantwortet werden, ob sich die Aufgabe der Öffentlichen Bibliotheken geändert hat und neu überdacht werden muss.

4. Neue Anforderungen im Zeitalter der Digitalen Revolution?

Eine der Hauptaufgaben Öffentlicher Bibliotheken ist es, die Informationsbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Aufgrund der im Grundgesetz zugesicherten Meinungs- und Informationsfreiheit müssen die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um jedem Bürger die gleichen Chancen bei der Nutzung - insbesondere der Medien - zu geben. Diese Aufgabe wird nicht einfacher, da die Öffentlichen Bibliotheken seit den 70er Jahren bis heute mit finanziellen und personellen Einsparmaßnahmen konfrontiert werden. Seit den 70er Jahren ist die Anzahl der Öffentlichen Bibliotheken kontinuierlich zurückgegangen.6 Von den rund 12 100 übriggebliebenen Bibliotheken wird lediglich ein Drittel hauptamtlich, d.h. von ausgebildetem bibliothekarischen Fachpersonal geführt. Das Personal aller weiteren Bibliotheken verfügt in der Regel über keine bibliothekarische Fachausbildung. Ob das Personal in den nebenamtlich geführten Öffentlichen Bibliotheken den neuen Anforderungen der Informations- und Kommunikationstechnologien genügt, wird eine zukünftige Frage sein. Eine weitere schwierige Aufgabe besteht darin, unterrepräsentierten Bevölkerungsschichten, die die Angebote Öffentlicher Bibliotheken bislang nicht oder nur kaum nutzten, das Internet näherzubringen. Die genannten Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Großteil der Bibliotheksnutzer über einen formal hohen Bildungsgrad verfügt. Dagegen nutzen Hauptschulabsolventen die Öffentlichen Bibliotheken nur in sehr geringem Umfang. Einen Beitrag könnten die Öffentlichen Bibliotheken leisten, indem sie Schulungen im Umgang mit dem Internet anbieten sowie die Inhalte auf die Interessen der verschiedenen Zielgruppen abstimmen.

Eine Pilotstudie, die die Universität Bremen in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe Telekommunikation durchführte kam zu dem Ergebnis, dass gerade ländliche Regionen häufig wesentlich schlechter mit Zugangsmöglichkeiten zum Internet ausgestattet sind, als städtische Regionen. In Orten bis zu 5 000 Einwohnern befinden sich nur knapp 2 Prozent der in der Untersuchung erfassten Internet-Zugänge. Zur Versorgung dieser Regionen können die Öffentlichen Bibliotheken einen wesentlichen Beitrag leisten. Knapp 60 Prozent der an der Pilotstudie teilnehmenden Öffentlichen Bibliotheken liegen in Orten mit nicht mehr als 50 000 Einwohnern, ein Viertel der Bibliotheken befindet sich sogar in Orten mit nicht mehr als 20 000 Einwohnern.7 Die geschilderten Aufgaben stellen nur einige neuralgische Bereiche dar, an denen die Öffentlichen Bibliotheken ansetzen müssen.

5. Maßnahmen zur Bekämpfung der Digitalen Spaltung

Nach der Untersuchung von Booz, Allen & Hamilton sind es vor allem drei Barrieren, die viele Bürger von der Internet-Nutzung abhalten: die Beschaffung des Zugangsgerätes sowie die laufenden Nutzungskosten sind zu teuer. Die im Internet angebotenen Dienste sind nicht attraktiv genug. Die Fähigkeiten, mit der Technik umzugehen, fehlen. Wie können die Öffentlichen Bibliotheken dem mangelnden Umgang mit dem Internet begegnen? Die Bibliotheksmitarbeiter müssen den professionellen Umgang mit den neuen Medien selber erlernen, um diese Kompetenz an den Nutzer weitergeben zu können. Qualifizierungsangebote machen vor allem die bibliothekarischen Fachstellen. So wurden im Rahmen des Sonderprogramms "Büchereien und Neue Medien" zwischen 1996 und 1999 Schulungsmaßnahmen für 122 Öffentliche Bibliotheken durchgeführt. Die Bertelsmann Stiftung bietet in Zusammenarbeit mit der ekz.bibliotheksservice seit März 2000 das modulare Internet-Schulungssystem "bibweb" an, von dem bereits mehr als 1 700 Bibliotheksmitarbeiter Gebrauch gemacht haben. Zur systematischen Qualifizierung der Mitarbeiter sind aber weitergehende Maßnahmen notwendig. Durch eine Institutionalisierung in allen Bundesländern könnte eine entsprechende Infrastruktur aufgebaut werden. Nur so kann die Qualifizierung der Bibliotheksmitarbeiter an die neuen Anforderungen angepasst werden. Von der Qualifizierung des bibliothekarischen Personals profitieren aber auch die Nutzer Öffentlicher Bibliotheken, an die der Umgang mit den Neuen Medien weitergegeben werden kann.

6. Lernen vom Ausland

Nachholbedarf besteht in der systematischen Ausstattung aller Öffentlichen Bibliotheken mit Internet-Zugängen. Das im Herbst 1999 von der Bundesregierung vorgestellte Aktionsprogramm "Innovation und Arbeitsplätze" zur Förderung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien sah die Öffentlichen Bibliotheken überhaupt noch nicht vor.8 Zumindest hier scheint mittlerweile ein Wandel stattzufinden. Mit der Aktion "Medienkompetenzzentren in Büchereien" stattete das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Kooperation mit dem DBV und der Deutschen Telekom AG alle Öffentlichen Bibliotheken mit Internet-Zugängen aus. Im Zuge dieser Initiative sollen bis zum Ende des Jahres 2001 alle Öffentlichen Bibliotheken an das Internet angeschlossen werden. Die in Deutschland politisch angestoßenen Initiativen werden in anderen europäischen Ländern auf breiter Ebene angegangen. Großbritannien positioniert sich mit seiner 1998 verfassten IT-Strategie "New Library" als europäischer Vorreiter. Führend auf dem Sektor Internet sind jedoch die USA, die bereits seit 1994 große Summen zur Förderung der Internet-Nutzung einsetzen. Mit dem Telekommunikationsgesetz wurde 1996 die weitreichendste Initiative zur Verbesserung von Internet-Nutzungsmöglichkeiten in den USA verabschiedet. Hiernach werden öffentlichen Einrichtungen Nachlässe zwischen 20 und 90 Prozent für Telekommunikationsgebühren und für die zur Internet-Nutzung benötigte Hardware gewährt. Die Erfolge sind beeindruckend: Mitte 1998 hatten rund 84 Prozent der Bibliotheken Zugang zum Internet, 73 Prozent konnten öffentlichen Internet-Zugang anbieten. Die Fortschritte kommen nicht von ungefähr. Die Ernennung von Vizepräsident Al Gore zum "e-Minister" signalisierte bereits Mitte der 90er Jahre die aktive Rolle der Regierung bei der Förderung des Internets.

7. Fazit

Deutschland befindet sich auf dem Weg von der Industrie- in die Informationsgesellschaft. Das erfolgreiche Mitwirken an der Informationsgesellschaft setzt allerdings den Umgang mit den Neuen Medien sowie die Nutzung des Internets voraus. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben, da einem großen Teil der Bevölkerung Kompetenzen und Möglichkeiten der Internet-Nutzung fehlen. Von der Folge - dem Zerfall in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft von "information-have" und "information-have-nots" - ist ein Viertel aller Bundesbürger bedroht. Da immer mehr Öffentliche Bibliotheken die Bedingungen der erfolgreichen Internet-Nutzung erfüllen, können sie einen wesentlichen Beitrag zur Schließung der "Digitalen Spaltung" leisten. Eine Voraussetzung hierfür ist die Schaffung von Internet-Zugängen in allen Öffentlichen Bibliotheken. Die von der Bundesregierung aufgelegten Programme und Initiativen stellen Schritte in die richtige Richtung dar. Erforderlich ist allerdings eine (ministerien-übergreifende) Koordination der Maßnahmen, um die Zusammenarbeit zwischen Staat und Unternehmen zu verbessern. Wünschenswert ist auch ein größeres Engagement der Unternehmen, die sich - bis auf wenige Ausnahmen - bei der Beteiligung an entsprechenden Programmen noch sehr zurückhalten. Die Verhinderung der digitalen Spaltung bleibt angesichts der aktuellen Entwicklungen eine Herausforderung. Jedoch können die Öffentlichen Bibliotheken bei der gezielten Umsetzung aller Initiativen und unter dem Einsatz der eigenen Ressourcen einen wesentlichen Beitrag zur Chancengleichheit leisten.

Eine Link- und Literaturliste zum Thema "Digitale Spaltung" kann von der Homepage der Bertelsmann Stiftung (www.bertelsmann-stiftung.de) heruntergeladen werden. Klicken Sie auf Publikationen, anschließend auf Downloads und wählen Sie dann den Bereich Öffentliche Bibliotheken an.


Fußnoten

1. Falling through the net: defining the Digital Divide. A Report on the Telecommunications and Information Technology Gap in America; Nationale Telekommunikations- und Informationsbehörde, Juli 1999, http://www.ntia.doc.gov/ntiahome/fttn99/fttn.pdf

2. Interessenvereinigung von 226 privaten Unternehmen zur Förderung und Koordination von Maßnahmen rund um das Thema Internet in Deutschland

3. Digitale Spaltung in Deutschland - Ausgangssituation, Internationaler Vergleich, Handlungsempfehlungen, Booz/ Allen/ Hamilton, August 2000

4. ebenda, S. 16

5. Der Digital Divide in der Wissens- und Informationsgesellschaft. Der Beitrag Öffentlicher Bibliotheken zur Verhinderung einer dauerhaften Spaltung der bundesrepublikanischen Gesellschaft in "information-have" und "have-nots" von Stefan Welling; Forschungsgruppe Telekommunikation, Universität Bremen, Dezember 2000

6. ebenda, S. 9

7. Öffentliche Internet-Zugangs- und Lernorte als Sprungbretter in die Digitale Welt. Pilotstudie zum Aufbau einer Online-Datenbank, erstellt für das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie; Von Herbert Kubicek, Stefan Welling, Forschungsgruppe Telekommunikation, Universität Bremen, April 2001

8. Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Aktionsprogramm der Bundesregierung; BMWI, September 1999.


Zum Autor

Klaus Meyer

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