72. Deutsche Archivtag in Cottbus

von Christian Keitel

Vom 18. bis 21. September fand in Cottbus der 72. Deutsche Archivtag statt. Neben den regionalen, zumeist auf einzelne Bundesländer bezogenen Archivtagen, bietet der Deutsche Archivtag das Forum schlechthin für die deutschen Archivarinnen und Archivare. Gäste aus anderen Ländern sind dabei ausdrücklich willkommen. Trotz der etwas randständigen Lage der gastgebenden Stadt war der Archivtag wie gewohnt gut besucht.

Archive und Herrschaft

In diesem Jahr stand der Archivtag unter dem Rahmenthema "Archive und Herrschaft". Passend hierzu hielt Professor Dr. Jochen Frowein, Heidelberg, den Eröffnungsvortrag zum Thema "Archive und Verfassungsordnung". Ausgangspunkt der Überlegungen war eine Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates aus dem Jahre 1981 (Nr. R (81) 19), den Bürgern der Mitgliedsländern ein Akteneinsichtsrecht einzuräumen. Mittlerweile sind die meisten europäischen Staaten dieser Empfehlung nachgekommen. In Deutschland liegt ein Gesetzentwurf vor, dessen Verabschiedung für die Archive erhebliche Konsequenzen zeitigen würde. Wie sind die in den Archivgesetzen vorgeschriebenen 30jährigen Sperrfristen für Sachakten mit einem Recht auf freien Zugang zu Informationen zu vereinbaren? Bislang wurde von archivarischer Seite zumeist betont, dass erstens bereits die heutigen Archivgesetze die Verkürzung von Sperrfristen ermöglichen, zweitens einem entsprechenden Antrag zumeist stattgegeben würde und drittens die Archivgesetze dem geplanten Gesetz auf Informationszugang übergeordnet seien. Dieser Ansicht widersprach Frowein ausdrücklich. Bereits der Gleichheitssatz in Art. 3 GG verhindere es, dass Schriftgut in der Behörde nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens zunächst frei zugänglich, später aber nach seiner Abgabe ans Archiv für 30 Jahre gesperrt sei. Die Regel sei künftig also der freie Zugang zu Sachakten, während eine Sperrung die Ausnahme sein müsse. Frowein stellte damit die bisherigen Sperrfristenregelungen auf den Kopf und leistete einen nicht unerheblichen Beitrag zur Belebung des Archivtags.

In den vier Sektionen wurde das diesjährige Rahmenthema des Archivtags dann weiter vertieft. Im Mittelpunkt der Erörterungen standen die beiden deutschen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts und die mit ihnen verbundenen archivischen Probleme. Die Sektion I ging hier zunächst der Rolle nach, welche die Archivare in der Zeit des Nationalsozialismus spielten. Neben der Ausbreitung biographischer Details wurde dabei auch über die Konsequenzen für die heutige Archivwissenschaft diskutiert. Schließlich waren mit Brenneke und Papritz zwei heute noch einflussreiche Autoren bereits während der Zeit des Nationalsozialismus archivarisch tätig. Andere Vorträge beschäftigten sich mit den Folgen, die sich für einzelne Archive aus der territorialen Neuordnung Europas nach dem 2. Weltkrieg ergaben. Beispielsweise wurde die frühere preußische Provinz Pommern zwischen dem Gebiet der Sowjetischen Militäradministration und Polen aufgeteilt. Noch heute befinden sich daher Archivalien derselben Bestände sowohl im Landesarchiv Greifswald als auch im Staatsarchiv Stettin.

Zu den Folgen des Nationalsozialismus zählt auch der Beschluss des Deutschen Bundestags zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter. Die Sektion IV widmete sich diesem Thema unter dem Titel "Archive und Wiedergutmachung". Nach Dr. Frank M. Bischoff (Münster) dürfte die Wiedergutmachungsüberlieferung allein in den alten Bundesländern 40 lfd. km übersteigen. Die vollständige Archivierung dieser Akten würde die verantwortlichen Archive vor erhebliche finanzielle, personelle und organisatorische Probleme stellen. Die Archivreferenten des Bundes und der Länder haben daher 1998 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die einen einheitlichen und begründeten Umgang mit dieser Überlieferung ermöglichen soll. Für die Erstattung dieser Ansprüche kommen auch die Unterlagen der AOKs in Frage. Für Zwangsarbeiter wurden nämlich ebenso wie für gewöhnliche Arbeiter Sozialversicherungsbeiträge abgeführt. Jürgen Treffeisen berichtete über die Verhandlungen zwischen AOKs einer- und Staatlicher Archivverwaltung Baden-Württemberg andererseits. Eine rasche Bearbeitung der Anfragen ehemaliger Zwangsarbeiter ist nach übereinstimmender Einschätzung der Beteiligten eher in den AOKs möglich. Die geplante Übernahme dieser Unterlagen in die Staatsarchive wurde daher um 2 Jahre verschoben. Neben den staatlichen und kommunalen Archiven tragen auch die Wirtschaftsarchive zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter bei. Dr. Horst A. Wessel vom Mannesmann-Archiv (Mülheim) berichtete, dass allein in seinem Archiv etwa 3.500 Einzelanfragen für über 60 Konzernwerke bislang beantwortet wurden.

Der zweite Schwerpunkt des diesjährigen Rahmenthemas lag auf der DDR. Dr. Klaus Schwabe (Schwerin) berichtete über "SED-Archive zwischen Realität und Wunschdenken". Die SED-Bezirksparteiarchive wurden aufgebaut, um die "Erfolgsgeschichte des real existierenden Sozialismus" zu dokumentieren. Politbüro und Sekretariat der Partei legten daher auf höchster Ebene fest, welche Unterlagen in diese Archive zu gelangen hätten, wie sie zu bearbeiten seien und welchen Benutzern sie schließlich offenstehen sollten. Das Schriftgut dieser Archive sollte eher das Parteiprogramm der SED als das tatsächlich Geschehene widerspiegeln. Auf der anderen Seite geben die Akten auch eine sozialistische Wirklichkeit wieder, die sich oft nicht mit den Richtlinien der Partei in Deckung bringen ließ. Heute sind diese SED-Archive in den Besitz der Landesarchive übergegangen und unterliegen einer regen Nachfrage. Die Spannung zwischen intendiertem und realem Inhalt der Akten stellt an einen angemessenen quellenkritischen Zugang besondere Ansprüche. Für den betreuenden Archivar ist es daher unerlässlich, diese Bestände neu zu bewerten und detailliert zu erschließen. Erst eine intensive archivarische Betreuung schafft so die Rahmenbedingungen, in denen eine angemessene Benutzung möglich wird.

Dr. Dagmar Unverhau (Berlin) bot einen Einblick in die Probleme, die mit den Unterlagen der Staatssicherheit verbunden sind. Bekanntlicherweise versuchte die Stasi in den letzten Tagen der DDR, ihre Akten in großem Umfang und zum Teil unter Zustimmung einzelner Bürgerkomitees zu vernichten. 20.000 Säcke vorvernichteten, d.h. "nur" zerissenen Materials konnten 1990 sichergestellt werden. Es ist aber unbekannt, welche Mengen an Schriftgut zuvor bereits vernichtet werden konnten. Auch fehlen entsprechende Aktenverzeichnisse, die eine Ordnung des Schriftguts ermöglichen würden. Die vernichteten Unterlagen machen es heute den bearbeitenden Archivaren schwer, angemessen mit dem erhaltenen Schriftgut umzugehen.

Weniger bekannt dürften im Vergleich mit der Stasi die von Birgit Richter (Leipzig) dargestellten Folgen der Wiedervereinigung auf die Archivalien aus Rittergutsbeständen sein. Teile der Rittergutsbestände wurden nach 1945 enteignet und gelangten im Rahmen der "Schlossbergungsaktion" in die Staatsarchive. Dort wurden sie im Zuge der archivischen Bearbeitung mit den im 19. Jahrhundert verstaatlichten Akten der Patrimonialgerichtsbarkeit vereinigt. Das Vermögensgesetz vom 3. August 1992 sowie das Ausgleichleistungsgesetz vom 1. Dezember 1994 ermöglichen es nun den heute Berechtigten, das Eigentum ihrer Familien wieder zurückzufordern. Die in der Nachkriegszeit gebildeten Bestände müssen daher auf Antrag getrennt werden, eine Aufgabe, die nicht immer einfach zu lösen ist. Einen möglichen Ausweg aus dieser Situation bietet das Verwaltungsverfahren insofern, als es eine gütliche Einigung zwischen Staatsarchiven und Berechtigten fordert.

Von diesen großen und übergreifenden Fragestellungen wich nur die Sektion II ab. Ihr Augenmerk galt der "Überlieferung von Minderheiten". Welche Quellen geben über die Sorben, die Friesen und die dänische Minderheit Aufschluss, und wie können sie gesichert werden? Schließlich verfügen diese Gruppen weder über einen eigenen (Bundes-)Staat noch über eine eigene Verwaltung, in der aussagekräftiges Schriftgut entstehen könnte. Dass die Minderheiten zu solchen erst durch eine entsprechende Mehrheit werden, machte auch der Vortrag von Dr. Hanna Krajewska (Warschau) deutlich. Sie berichtete über protestantische Akten in polnischen Archiven. Der VDA und seine Fachgruppen Der Deutsche Archivtag wird vom Verband deutscher Archivarinnen und Archivare, kurz VDA ausgerichtet. Er versteht sich als Koordinationsstelle zwischen den unterschiedlichen archivarischen Gruppierungen und als Interessensvertretung der Archivarinnen und Archivare insgesamt. Der VDA untergliedert sich in acht Fachgruppen:

Die einzelnen Sitzungen der Fachgruppen stellen den zweiten großen Veranstaltungsblock der Archivtage dar. In Cottbus wurde dabei u.a. über Probleme bei der Archivierung von Bahnunterlagen, den historischen Industriefim, Gewerkschaftsakten in deutschen Archiven und die Situation der Privatarchive in der ehemaligen DDR diskutiert. Die gemeinsame Arbeitssitzung stand unter dem Titel "Archive und Öffentlichkeit".

Die drei dargebotenen Vorträge beleuchten einige zentrale Bereiche, denen sich heute Archive gegenübergestellt sehen. Zunächst gab Dr. habil. Volker Wahl (Weimar) einen Erfahrungsbericht zu dem nicht mit dem Archivtag zu verwechselnden Tag der Archive ab. Er wurde auf Initiative des VDA erstmalig am 19. Mai 2001 ausgerufen und von über 500 Archiven befolgt. Wahl stellte fest, dass ein solcher Tag der Archive dazu beitragen könne, den Stellenwert der Archive in der Gesellschaft zu heben. Kulturgut bewahren und historische Forschung erst möglich zu machen, diese genuine Aufgabe der Archive sei durch den Tag der Archive einer breiteren Öffentlichkeit nähergebracht worden. Dem anschließenden Vortrag hatte Dr. Clemens Rehm (Karlsruhe) den Titel "Vom Haushaltstropf zur Sponsorenquelle. Spenden - Freunde - Fördervereine" gegeben. Die Archive sollten sich mehr als bisher um die Aufnahme von Fremdmitteln bemühen. Dabei müsse auch bereits im voraus über die Interessen des potentiellen Sponsors und diejenigen des Archivs sowie einen notwendigen Ausgleich zwischen beiden Seiten nachgedacht werden. Abschließend referierten Dr. Karl-Ernst Lupprian und Dr. Lothar Saupe (beide München) über "Das Internet als Form archivischer Öffentlichkeitsarbeit". Besonderes Augenmerk galt der Frage, wie sich gerade kleinere Archive im Internet darstellen könnten. Die Referenten plädierten für einen pragmatischen Ansatz. Man solle sich zunächst Grundwissen über das Internet erwerben und danach den Umfang des Internetauftritts näher definieren. Die Suche nach den organisatorischen und technischen Umsetzungsmöglichkeiten und eine genaue Planung schließen sich an. Weitere Hinweise galten der praktischen Umsetzung: Schlicht gestaltete Seiten mit dezenten Farben, kurze Texte und wenige Bilder, Browserunabhängigkeit und der Verzicht auf Javascript seien zu empfehlen.

Neben den einzelnen Vorträgen und den in ihnen präsentierten Inhalten wurden auf dem Archivtag auch die internen Angelegenheiten des VDA auf einer Mitgliederversammlung verhandelt. Der bisherige Vorsitzende Dr. Norbert Reimann (Münster) stellte sich nach dem Ende seiner Amtszeit nicht mehr zur Wahl. Zu seinem Nachfolger wurde Dr. habil. Volker Wahl vom Hauptstaatsarchiv Weimar gewählt.

Die Fachmesse Archivistica

Zeitgleich zum Archivtag findet alljährlich auch die Fachmesse Archivistica statt. In diesem Jahr hatten sich 42 Aussteller angekündigt. Zahlenmäßig am stärksten vertreten war der Bereich "Restaurierung / Konservierung" mit 13 Ausstellern. Jeweils 10 Aussteller fanden sich in den Bereichen "Mikroverfilmung / Reprotechnik / Digitalisierung" sowie "Softwareentwicklung". Der interessierte Besucher konnte sich fünf unterschiedliche Regalsysteme zeigen lassen und an den Ständen der Archivschule Marburg sowie der Fachhochschule Potsdam die Erinnerungen an seine Ausbildungszeit wieder aufwärmen. Gerade hier wurde deutlich, wie stark das Berufsbild des Archivars bereits durch die digitale Revolution verändert wurde. Die Archivschule stellte das in Kooperation mit der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg und dem Bundesarchiv entwickelte Erschließungsprogramm Midosa-Online vor. Das Programm basiert auf einer Datenbank für die Erfassung der Verzeichnungsangaben einschließlich einer Klassifikationstabelle für die Strukturierung der Bestände. Zwei Generatoren ermöglichen die Erzeugung von HTML- und XML-Dateien einschließlich der notwendigen Navigations- und Orientierungsframes. Die Daten können auch in das RTF-Format oder von XML in EAD (Encoded Archival Description) konvertiert werden.

An dem Stand der Archivschule war auch die Landesarchivdirektion Baden-Württemberg vertreten. Sie stellte das bereits realisierte Internet-Portal "Archive in der ARGE ALP" (http://www2.lad-bw.de/argealp/home.php) und die Portalprojekte "Internet-Portal für Bibliotheken, Archive und Museen" (http://www.bam-bw.de) sowie "Internet-Portal für Archive in Baden-Württemberg" vor. Präsentiert wurden auch die neuen Online-Beständeübersichten für die baden-württembergischen Staatsarchive und ein im Rahmen eines DFG-Projekts erarbeiteter Workflow zur rationellen Bearbeitung digitalisierten Archivguts.

Bei den kommerziellen Software-Ausstellern stießen die Anbieter einer übergreifenden Archivsoftware auf besonderes Interesse. Für die nordrhein-westfälischen Staatsarchive entwickelt derzeit die Firma startext das System VERA. Neben der klassischen Erschließung soll dieses Programm sämtliche innerarchivischen Arbeitsabläufe effektiv unterstützen. Die einzelnen Module sollen sich u.a. der Akzession von Archivalien, der Magazinverwaltung, den Modalitäten der Benutzung, der Verwaltung von Reproaufträgen und der Erstellung von Statistiken widmen.

Aus Basel war die Firma scope angereist, um ein in Zusammenarbeit mit dem Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt entwickeltes vergleichbares Programm vorzustellen. Auch das ursprünglich als Erschließungssoftware gestartete AUGIAS entwickelt sich immer mehr in diese Richtung. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch bei anderen Ausstellern beobachten. Offenbar sehen die Anbieter archivischer Software damit einen neuen fachspezifischen Markt entstehen, der bislang nicht durch vergleichbare Produkte bedient wurde. Die Beobachtung, welche Produkte zur Serienreife gelangen und ob diese sich dann auch auf dem doch recht kleinen Markt behaupten können, dürfte sich in der nächsten Zeit sehr interessant gestalten.


Zum Autor

Dr. Christian Keitel ist Referent in der

Landesarchivdirektion Baden-Württemberg
Eugenstr. 7
D-70182 Stuttgart
E-Mail: keitel@lad-bw.de
URL: http://www.lad-bw.de