Von verantwortungsbewusster Informationspolitik bis zur "passenden Kopie"
Konferenzbericht über die EUSIDIC 2001, Baden-Baden

von Vera Münch

Bis die Informations-Wertschöpfungskette wirklich lückenlos sein wird, müssen noch viele Glieder geschmiedet werden. Zwar hat es noch nie zuvor ein besseres System für die Bereitstellung und den nahtlosen elektronischen Zugriff auf weltweit publizierte Literatur gegeben, sagte die Software-Entwicklungsleiterin des Fachinformationszentrum (FIZ) Karlsruhe, Leni Helmes, in Baden-Baden, doch sei die Information Value Chain vor allem an ihrem Anfang noch stark fragmentiert. Nicht so sehr die Technik, vielmehr die Organisation stellt die Informationsvermittlungsbranche vor immense Aufgaben. In ihrem Vortrag nahm Leni Helmes Stellung zu einer der aktuellsten Fragen, die es derzeit technisch und organisatorisch zu lösen gilt, dem Problem der Bereitstellung der "appropriate copy", zu deutsch: der "passenden Kopie". Dahinter steht die Aufgabe, ein elektronisches Volltextliefersystem anzubieten, welches in der Lage ist, dem Kunden jene Kopie des Volltextes zu übermitteln, die sein Unternehmen ihm - aus welchen Gründen auch immer - zur Verfügung stellen lassen will. Das heißt, das Informationssystem muss dem Systembetreuer die Möglichkeit bieten, Lieferanten zu definieren, mit denen das Unternehmen Verträge abgeschlossen hat, sowie den Bestand der eigenen Firmenbibliothek über das System verfügbar zu machen. Darüber hinaus gilt es noch, irgendwie einzugrenzen, wann welcher Nutzer welche Aufsätze im Pay-per-View-Verfahren kaufen darf und - weil es auf dem freien Markt ja auch Mehrfachangebote gibt - auch noch, aus dem verfügbaren Material die preiswerteste oder eben die am besten zu den Firmenverträgen passende Kopie herauszufiltern. Und das Ganze dann am besten auch noch mit der Möglichkeit, Prioritätsreihenfolgen vorgeben zu können.

Terror gegen die USA überschattet Konferenz

Neben ihrem eigenen Vortrag lieferte Leni Helmes in Baden-Baden noch zwei weitere Beiträge zur Konferenz - in Vertretung amerikanischer Vortragsrednerinnen, die ihre Teilnahme kurzfristig abgesagt hatten. Der Terroranschlag auf die Vereinigten Staaten am 11. September warf seine Schatten auch über die Jahreskonferenz der EUSIDIC. Angesetzt vom 29. September bis zum 3. Oktober, fiel die Veranstaltung mitten hinein in die Folgen der Katastrophe, die das öffentliche Leben in Amerika massiv durcheinander brachte und Auswirkungen auf das öffentlichen Lebens der ganzen Welt hat. In den letzten zwei Wochen vor der Konferenz sagten alle amerikanischen Vortragsredner und Delegierten ihre Teilnahme ab. Als dann noch der niederländische Guru der Informationswissenschaft, Hans E. Roosendaal von der University of Twente wegen akuter Erkrankung in letzter Minute ausfiel, galt es für das Organisationsteam im EUSIDIC-Büro im FIZ Karlsruhe für fast ein Drittel der geplanten Präsentationen - acht von 25 - Ersatzsprecher zu finden. Es gelang bis auf zwei Vorträge, so dass alle für die Konferenz geplanten Themenfelder behandelt werden konnten. Die Präsentationen bzw. die Power Point Folien sind über die EUSIDIC Homepage unter http://www.eusidic.org verfügbar, soweit die Vortragenden ihre Zustimmung gegeben haben.

Das Teilnehmerfeld des EUSIDIC-Treffens war trotz des Fehlens der Amerikaner wie immer sehr international besetzt. Rund 120 Delegierte, 45 davon Frauen, repräsentierten 17 europäische Länder zwischen Norwegen und Portugal. Baden-Badens Oberbürgermeisterin Dr. Sigrun Lang war vom hohen Frauenanteil sehr angetan. So viele Frauen hätte sie bei einer Fachkonferenz noch nie erlebt, staunte sie in ihrem Grußwort und freute sich dabei ganz besonders über die EUSIDIC "chair-woman" Daphne Tomlinson "Es ist gut, dass immer mehr Frauen in verantwortliche Positionen vorrücken", so Lang.

MdB Tauss mahnt Sicherung des freien Zugangs zur Information an

Foto: Eike Hellmann, FIZ Karlsruhe
Jörg Tauss, MdB und Daphne Tomlinson, Vorsitzende der EUSIDIC
Jörg Tauss, Sprecher der SPD-Fraktion für den Bereich Bildung und Forschung im Deutschen Bundestages, nutzte sein Grußwort, um seiner Meinung nach wichtige politische Weichenstellungen anzumahnen. Er stellte in Baden-Baden die Notwendigkeit von gesetzlichen Regelungen heraus, die zum Ziel haben müssten, "der deutschen und europäischen Wirtschaft im globalen Umfeld die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern sowie der Wissenschaft, der Politik und der Administration auf Dauer effizientes Arbeiten zu ermöglichen". Verantwortungsbewusste Gesellschaften, so der Bundestagsabgeordnete, dürften die Organisation des Wissens nicht dem freien Markt überlassen. "Das oberste Ziel einer verantwortungsbewussten Informationspolitik sollte sein, alle Mitgliedern der Gesellschaft in die Lage zu versetzen, im Bezug auf Informationsfragen autonom agieren zu können sowie sicherzustellen, dass sie jederzeit zu fairen Konditionen Zugang zu relevanten Informationsquellen haben". Die Ansprache liegt im vollen Wortlaut auf der Homepage http://www.tauss.de.

Massimo Garriba, Mitglied der Europäischen Kommission in der Generaldirektion DG XIII Information Society wies darauf hin, dass Europa beim elektronischen Publizieren deutlich hinterherhinke. Zwar hätte es reiche Vorräte an Informationsinhalten, eine lange Tradition in professioneller Publikation und ausgeprägte Kenntnisse im Bezug auf Anpassung an sprachliche und kulturelle Eigenheiten der Völker, nutze diesen Vorteil aber zu wenig aus. Mit einem eContent Programm will die EU nun die Entwicklung vorantreiben. Für das Jahr 2002 stehen laut Garriba unter anderem die Unterstützung von mobilen Anwendungen (3G applications) und die Ausweitung der Teilnahme an den Programmen auf Bewerberländer ganz oben auf der Prioritätenliste. Weitere Informationen unter: http://www.cordis.lu/econtent.

British Library sieht Bibliotheken als Teil eines "globalen Netzwerkes für Wissen"

Die British Library setzt auf zwei Schlüsselstrategien, um das "intellektuelle, wissenschaftliche und kulturelle Erbe der Welt zugänglich zu machen." Dies berichtete der Direktor für das Digital Library Programm der British Library, David Inglis in Baden-Baden. Die erste Strategie trägt den Titel "Collections" (Sammlungen), die zweite "Access" (Zugang). Collections beinhaltet unter anderem die Verabredung von Vertriebspartnerschaften, die digitale Sammlung und Web-Archivierung, Access die Verbesserung des Zugangs zu den Kollektionen, eine bessere Unterstützung für Unterhaltungsangebote und Lernprogramme sowie die ständige Überprüfung und Überarbeitung der angebotenen Services und die Entdeckung neuer Chancen der Digitalisierung. Beide Strategien sind in ihrer Umsetzung ausgerichtet auf den Nutzer, der in den Mittelpunkt des Geschehens gestellt wird, sowie auf das Web und auf nationale und international Partnerschaften. Nach der Darstellung von Inglis werden Bibliotheken in Zukunft Teil eines immer weiter expandierenden, verteilten Netzwerkes für Wissen sein und zwar in dem Maße, in dem sie "ihre eigenen Sammlungen in ein weiteres nationales und internationales Rahmenwerk kultureller und wissenschaftlicher Ressourcen stellen". Er ist überzeugt, dass sie dabei auch weiterhin ihre Rolle als "major powerhouse for scholarship, research and innovation" - Zentralstellen für humanistische Bildung, Forschung und Innovation - beibehalten werden.

EPO fürchtet sich vor der Datenflut

Gérard Giroud, wissenschaftlicher Direktor des European Patent Office EPO brachte nicht nur fachinterne, sondern auch dringende allgemeinpolitische Probleme aufs Tapet, mit denen sich die europäischen Regierungen seiner Meinung nach sehr schnell auseinandersetzen müssten. Sein Vortrag trug den Titel "Challenges for the Patent System in Europe and in the World", doch korrigierte sich Giroud hier gleich zu Beginn seiner Rede: Statt "Challenges" - Herausforderungen - hätte es besser heißen müssen "Troubles" - Ärger, Schwierigkeiten, Probleme - für das Patentsystem. Giroud berichtete, dass es einen massiven Anstieg von Patentanmeldungen und einen ebensolchen Anstieg an Anfragen zu Patenten gibt und zwar "in einer Geschwindigkeit, die wir nicht besonders mögen". Das EPO hofft, den wachsenden Ansprüchen solange gerecht werden zu können, bis politische Entscheidungen getroffen werden - zumindest, was die Menge der Daten betrifft, die verarbeitet werden müssen. Er forderte ein dringende Überarbeitung des Europäischen Patentrechtes im Sinne einer Harmonisierung ein und erklärte, darüber hinaus gäbe es einen dringenden Bedarf, Kooperationswege mit den USA und Japan zu finden. Weil es "vermutlich noch länger dauern wird, bis entsprechende Regelungen gefunden sind", will das EPO in der Zwischenzeit "große Anstrengungen unternehmen, seine Arbeit zu rationalisieren".

Copyright- und Security-Fragen werden immer wichtiger

Foto: Eike Hellmann, FIZ Karlsruhe
Daphne Tomlinson, Vorsitzende der EUSIDIC und Professor Schultheiß, Geschäftsführer des Fachinformationszentrums (FIZ) Kalrsruhe, der als ehemaliger EUSIDIC-Vorsitzender einen Teil der Konferenz leitete.

Eine Vielzahl von Detailfragen bestimmten den weiteren Verlauf der Konferenz; der Großteil der Fragen noch ungelöst oder zumindest noch nicht implementiert. Professor Thomas Dreier vom Institut für Rechtsforschung der Universität Karlsruhe stellte die Frage, ob Copyright im eCommerce überleben wird und gab sich alsdann sogleich selbst die Antwort: "Ja, das Copyright an sich wird überleben". Aber es werde deutliche Veränderungen durchlaufen, unter anderem, weil die EU Copyright Directive weitreichenden Einfluss auf Nutzer, Hersteller und Vermittler von Information habe. Dreier ist überzeugt, dass das Copyright sich von seiner ursprünglichen Funktion der Alimentierung (des individuellen Autors) zu einem Werkzeug zum Schutz von Investitionen (des Erzeugers) verändern wird.

Neben den "digitalen Rechten" und ihrem "Management" gewinnen auch Informations- und Datensicherheit mit der zunehmenden globalen Vernetzung immer mehr an Bedeutung. Dirk Fox vom Karlsruher Unternehmen Secorvo Security Consulting berichtete, dass die Gefahren in diesem Bereich deutlich ansteigen. Gegenmaßnahmen müssen nach seiner Aussage "systematisch, konsistent und zum technischen Umfeld passend ergriffen werden". Fox forderte die Zuhörer auf, "einem nicht vertrauenswürdigen Umfeld grundsätzlich nicht zu trauen". Mehr Infos unter: http://www.secorvo.de.

Diskussion um CrossRef und DOI

Der Beitrag von Amy Brand "CrossRef - The Reference-Linking Backbone for Scholarly Communication", den Leni Helmes in Vertretung vortrug, erklärte das proprietäre, auf DOI-Identifikationsnummern basierende System, mit dem die Verlage die Volltextbeschaffung vergleichbar dem heutigen ISSN- und ISBN-System weltweit durchorganisieren wollen. Der DOI-Ansatz von CrossRef wurde in Baden-Baden heftig diskutiert. Sowohl Nutzer, als auch Produzenten und Anbieter bevorzugen zur Erschließung digitaler Information offene Standards (z.B. OpenURL, Dublin Core, Open Archive Initiative). Die "closed shop" Mentalität von CrossRef, so ein Vorwurf, ginge zu wenig auf die Forderungen des wissenschaftlichen Informationsmarktes ein. Die Diskussion und die daraus abgeleitete Forderung nach offenen Standards entwickelte sich zu einem Haupttrends der EUSIDIC Konferenz. (Mehr zu CrossRef unter - http://www.dlib.org/dlib/may01/brand/05brand.html, zu DOI unter http://www.doi.org)

Die "expandierenden Horizonte der STM Landschaft" behandelte der Vortrag von Eileen Shanbrom von Chemical Abstracts Service (CAS), ebenfalls präsentiert von Leni Helmes. Danach wollen die traditionellen Datenbankanbieter durch eScience Partnerschaften (von wissenschaftlichen Informationsprovidern wie CAS mit STM Verlagen, Subskriptionsagenturen und Partnern des Datenbankverbundes STN International) den Nutzern künftig direkt aus kommerziellen Datenbanken heraus einen "integrierten Weg zu freien und kostenpflichtigen Inhalten im Web bieten". Dafür wollen sie die kommerzielle Datenbankwelt und die freie Web-Welt technisch und organisatorisch verbinden.

Der Einfluss gedruckter Fachzeitschriften soll schwinden

Harvey Shoolman von BioMed Central, einem neuen elektronischen Publikationsservice für biologische, medizinische und biotechnologische Veröffentlichungen, sieht gedruckte Wissenschaftszeitschriften durch das Aufkommen der Electronic Journals deutlich an Bedeutung verlieren. Nach Ansicht von Shoolman werden elektronische Publikationsdienste den sogenannten "Impact Factor" eliminieren, der in der Vergangenheit die Frage, wo man einen Fachaufsatz publizierte, wichtiger machte, als die Frage, was man denn publizierte. Der Inhalt stand hinter dem Ort der Publikation nach, weil das Publizieren in einer renommierten Fachzeitschriften großen Einfluss auf die Karriere von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gewonnen hatte (hat). Über Services wie BioMed soll nun "gute Wissenschaft publiziert werden - bei offenem Zugang, voller Suchbarkeit und Retrievalmöglichkeit über die Datenbank PubMed". Die Aufsätze sollen alle von anerkannten Wissenschaftlern des jeweiligen Fachgebiets im Peer-Review-Process begutachtet und bewertet werden. Die Copyrights verbleiben beim Autor und BioMed sorgt für die permanente Archivierung. Wer die Einhaltung der Copyrights überwachen wird und wie und wo das Archiv aufgebaut werden soll, darauf ging Shoolman nicht näher ein. Wohl aber auf das geplante Finanzierungskonzept. Derzeit finanziert sich BioMed über Anzeigen. In Zukunft soll der Dienst sich über Gebühren finanzieren. Der Autor soll für die Publikation seiner Arbeit bezahlen, der Nutzer für das Lesen des Aufsatzes. Irgendwie klingt das stark nach Geschäftsmodellen, von denen man bereits in Gesprächen mit Verlagen im ePublishing Bereich gehört hat. Weitere Infos: http://www.biomedcentral.com.

Rahmenprogramm bringt unerwarteten Einblick in Bilddokumentation

Foto: Eike Hellmann, FIZ Karlsruhe
Erstmals wurde das EUSIDIC Jahrestreffen von einer Ausstellung begleitet

Im Rahmenprogramm, das den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der EUSIDIC-Konferenzen die Schönheit und Besonderheiten des jeweiligen europäischen Veranstaltungsortes nahe bringen soll, führte in Baden-Baden unter anderem zum SWR, der zweit größten Fernsehstation der ARD. Dabei gab es zwischen einer spannenden Führung durch Requisitenkeller, Kulissenwerkstätten und Sendestudios einen unerwarteten Einblick in die Probleme der Bilddokumentation, mit denen sich der SWR in mehreren Forschungsprojekten auseinandersetzt. Um einzelne Bilder aus Filmen für die Illustration späterer Beiträge verfügbar zu machen, versucht man, ein Dokumentations- und Identifikationssystem aufzubauen, dass eine eindeutige Beschreibung und Zuordnung von Filmbildern ermöglicht. Ein unglaublicher Aufwand, der sich jedoch sehr schnell amortisieren soll, wenn dadurch das Drehen jeweils neuer Filme zur Illustration von Beiträgen ersetzt werden kann. Eine Demonstration dessen, was der SWR auf dem Gebiet der Dokumentation und Informationsbereitstellung tut, kann man sich unter http://www.schaetze-der-erde.de ansehen.

Zum ersten Mal wurde die EUSIDIC-Konferenz in diesem Jahr von einer Fachausstellung begleitet. Ob es auch beim nächsten Jahrestreffen wieder eine Ausstellung geben soll, will der EUSIDIC-Vorstand anhand der Fragebogen entschieden werden, mit denen die Meinung der Aussteller und Teilnehmer abgefragt wurde.

EUSIDIC
Spring Meeting 2002

Paris, France
11.-12. März 2002
Konferenzthema:
"eContent: Divide or Rule"

EUSIDIC
Annual Conference 2002

Lissabon, Portugal
22. - 25. September 2002
Thema:
"Virtual Communities"

Foto: Eike Hellmann, FIZ Karlsruhe

Mit diesen Themen soll sich die nächste EUSIDIC-Konferenz nach Wunsch der Delegierten auseinandersetzen.


Zur Autorin

Vera Münch ist selbstständige Journalistin und PR-Beraterin mit Schwerpunkt Informations- und Kommunikationstechnologie


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E-Mail: vera.muench@t-online.de