Keller, Alice:
Elektronische Zeitschriften. Eine Einführung.


- Wiesbaden: Harrassowitz, 2001. 144 Seiten.
ISBN 3-447-04372-5.(Bibliotheksarbeit Band 9) DM 48,-

Selbst wer wie der Rezensent den fulminanten Einzug des neuen Mediums elektronische Zeitschrift in die Welt der akademischen Bibliotheken innerhalb der letzten vier bis fünf Jahre in vorderster Linie miterlebt hat, wird nicht umhinkönnen, den von Alice Keller an die Spitze ihrer Arbeit gesetzten Hinweis auf das frühe Datum der ersten elektronischen Zeitschrift, die bereits 1980 erschien, mit einem gewissen Maß an ungläubigem Staunen aufzunehmen. Die allgemeine Schnelllebigkeit und die damit verbundene Geschichtslosigkeit scheint auch an der Welt der Bibliotheken nicht spurlos vorübergegangen zu sein, und so tut es gut, dass die Autorin in den ersten beiden Kapiteln ihre Arbeit ganz bewusst auf das solide Fundament einer geschichtlichen Darstellung der Entwicklung des Zeitschriftenwesens allgemein und der elektronischen Zeitschriften im Besonderen aufbaut.

Die wohltuende Übersichtlichkeit der Darstellung dieser äußerst komplexen und durch die rasante technische Entwicklung auch für die Fachfrau/den Fachmann immer unübersichtlicher werdenden Materie wird auch in den weiteren Teilen des Buches beibehalten. Die Absicht der Autorin, eine umfassende Einführung in die Thematik, aber auch Problematik der elektronischen Zeitschriften zu geben, findet ihre Deckung in der langjährigen Berufspraxis, die sie in diesem Bereich als Mitarbeiterin der Bibliothek der ETH Zürich erwerben konnte, wie deren Direktor Wolfram Neubauer in seinem Vorwort erwähnt. Es hieße allerdings Eulen nach Athen tragen, wollte man die Autorin in einschlägigen Fachkreisen noch vorstellen, hat sie doch Fachtagungen und -treffen mit der Fülle ihres Wissens und der Schärfe ihrer Argumentation bereichert. Dennoch soll der ebenfalls im schon erwähnten Vorwort enthaltene Hinweis auch hier nicht verschwiegen werden: Das vorliegende Buch ist Teil einer an der Humboldt-Universität vorgelegten Dissertation, auf deren Erscheinen Insider schon mit Spannung warteten.

Das Warten hat sich gelohnt. In den insgesamt acht Kapiteln ihres Buches ist es Alice Keller gelungen, die Vor- und Nachteile des neuen Mediums punktgenau anzusprechen. Nach der detaillierten Schilderung der mühevollen - und von der noch in den Kinderschuhen steckenden Technologie mehr behinderten als ermöglichten - Pionierprojekte in den 80er und frühen 90er Jahren (Mental Workload, BLEND u.a.), nach der Darstellung des UMI-Projekts auf CD-ROM (ein Speichermedium, auf dessen zunehmende Marginalisierung zu Recht hingewiesen wird), gibt die Autorin dem Anteil der ersten wissenschaftlichen Netzwerke am allmählich einsetzenden Erfolg der elektronischen Zeitschriften breiten Raum. Sie differenziert dabei umso mehr, je näher sie der Gegenwart kommt und weist eindrucksvoll die mit dem Aufkommen des World Wide Web 1996 geradezu explosionsartig einsetzende Vermehrung der online zugänglichen Zeitschriften nach.

Die Gegenwartsieht Alice Keller durch Initiativen verschiedener Player gekennzeichnet: kommerzielle Zeitschriftenverleger, wissenschaftliche Fachgesellschaften, Zeitschriftenagenturen, Bibliotheken. Darüber hinaus werden grundlegende technische Weiterentwicklungen wie Reference Linking und Digital Object Identifier besprochen oder Großprojekte wie JSTOR vorgestellt, das der retrospektiven Digitalisierung älterer Zeitschriftenjahrgänge dient.

Warum wird dann in diesem Umfeld aber auf das - nach Meinung des Rezensenten - ebenso bedeutende britische NESLI-Projekt mit keinem Wort eingegangen? (Es fehlt dementsprechend auch im Sachregister.) Selbst wenn im deutschen Sprachraum manchmal NESLI als Allheilmittel bei allen Problemen mit elektronischen Zeitschriften überschätzt wird, ist die Abstinenz im Rahmen einer so umfassenden Arbeit nur schwer zu verstehen vor allem wenn man bedenkt, welches Erkenntnispotential einer genauen Analyse des britischen Modells und seinem Vergleich mit den Gegebenheiten in den deutschsprachigen Ländern innewohnt.

Obwohl die geschichtliche Darstellung der Entwicklung bis in die Gegenwart nur zwei von acht Kapiteln umfasst, macht sie in Seiten nahezu die Hälfte des Buches aus, sodass sich die restlichen fünf Kapitel mit entsprechend weniger Platz begnügen müssen: Benutzerforschung, Zugang, Nachweis und Erschließung, Archivierung, Kosten, Preisgestaltung sind die Themen der zweiten Hälfte der Darstellung.

Vor- und Nachteile, Anerkennung und Akzeptanz werden im Lichte des Informationsverhaltens von Wissenschaftlern beurteilt, das schon seit den 8oer Jahren Gegenstand von Untersuchungen ist. Natürlich geht es dabei auch um die alte Streitfrage Papierausgabe versus elektronische Zeitschrift, und für Branchenkenner nicht ganz überraschend , ergab eine an der ETH im Winter 1998/99 (also noch zu einem relativ frühen Zeitpunkt!) durchgeführte Umfrage eine Mehrheit von 52% zugunsten eines Verzichts auf die Papierausgabe bei campusweiter elektronischer Verfügbarkeit. (Anmerkung des Rezensenten: Eine Umfrage zum jetzigen Zeitpunkt würde unter Zugrundelegung seiner eigenen Erfahrungen ziemlich sicher einen noch höheren Prozentsatz an Befürwortern bringen.)

Das Zugangsfragen gewidmete Kapitel geht noch einmal kurz auf die unterschiedlichen Netzdienste ein, die im Laufe der Entwicklung genutzt wurden, heute aber weitestgehend vom WWW abgelöst worden sind. Wesentlich ausführlicher beschreibt die Autorin anschließend die verschiedenen Dateiformate, in denen elektronische Zeitschriften angeboten wurden und werden, ehe sie das Kapitel mit einem Vergleich der heute gebräuchlichsten Formate PDF und HTML hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile schließt. Der Rezensent vermisst an dieser Stelle ein genaueres Eingehen auf das vor allem im angelsächsischen Raum immer noch recht beliebte RealPage-Format, von dem im Buch nur im Rahmen der geschichtlichen Darstellung kurz die Rede ist, wenn es heißt, es habe sich nicht durchsetzen können.

Mit den Fragen von Nachweis und Erschließung befasst sich das fünfte Kapitel und begibt sich somit gewissermaßen auf eines der Kerngebiete bibliothekarischen Tuns. Verzeichnisse, Datenbanken, Bibliothekskataloge und Fachbibliographien werden behandelt, wobei zwischen dem Nachweis auf der Ebene der Zeitschriftentitel und auf Artikelebene unterschieden wird. Wie nicht anders zu erwarten, nehmen hier vor allem die EZB der UB Regensburg, die ZDB und die OPACs der einzelnen Bibliotheken breiten Raum ein. Besonders interessant ist im Bereich der inhaltlichen Erschließung der Artikel die Beobachtung, dass bei rein elektronischen Zeitschriften die Nachweissituation im Vergleich zu Printzeitschriften sehr schlecht ist, da sich Herausgeber von Fachbibliographien angesichts der eher unsicheren Verfügbarkeits- und Archivierungsverhältnisse solcher Titel nur sehr bedingt annehmen. Der Forderung der Autorin, hier Abhilfe zu schaffen, ist nichts hinzuzufügen.

Den wunden Punkt des neuen Mediums schlechthin spricht das Kapitel an, das sich mit der Archivierungsproblematik auseinandersetzt. Alice Keller sieht dabei die technischen Maßnahmen, die großen Aufwand erfordern, als zwar komplex aber nicht unlösbar an. Viel umfassender scheinen sich die organisatorischen und rechtlichen Probleme darzustellen, die sie geprägt sieht von der Position der Bibliotheken einerseits und der der Verlage andererseits. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis kann aber zu einem kooperativen Lösungsmodell führen, wie das im Buch angeführte Service Electronic Collections Online (ECO) des Online Computer Library Center (OCLC) und einer Gruppe von mehr als 50 Verlagen mit seinen mehr als 2.500 Zeitschriftentiteln beweist (Stand Mitte 2000). Kritisch steht die Autorin hingegen dem sehr komplexen Archivierungskonzept der Task Force on Archiving of Digital Information gegenüber, dessen Realisierbarkeit ihr problematisch erscheint.

Darüber hinaus spricht Alice Keller im Zusammenhang mit derArchivierung einen Begriff an, dem erst mit dem Entstehen der elektronischen Zeitschriften zentrale Bedeutung zukam: Authentizität. Im Gegensatz zu gedruckten Dokumenten unterliegen elektronisch gespeicherte einer ungleich leichter zu bewerkstelligenden Veränderbarkeit. Seit Mitte der 90er Jahre gibt es daher Überlegungen, entsprechende Sicherungsverfahren einzuführen, die den Erhalt der unverfälschten Information garantieren sollen. Bedauerlicherweise verhindern jedoch hohe Entwicklungskosten, aufwendige Organisation und mangelnde Standardisierung den Routineeinsatz derartiger Verfahren.

Am Schluss des Archivierungskapitels werden schließlich die mit der Speicherung verbundenen Kosten untersucht. Von besonderem Interesse ist die Diskussion einer von der Yale University Library durchgeführten Projektstudie, die zeigt, dass in einer Depotbibliothek sowohl Speicher- als auch Zugriffskosten pro Band im Laufe von 10 Jahren steigen, während das digitale Archiv mit zunehmender Betriebsdauer immer billiger wird.

Damit ist die Diskussion der finanziellen Aspekte des neuen Mediums eröffnet, und so befassen sich auch die restlichen beiden Kapitel mit dem leidigen Thema des ungebrochenen Höhenflugs der Zeitschriftenpreise seit der Mitte der 70er Jahre und der vielleicht möglichen Abhilfe durch die elektronischen Zeitschriften. Produktionskosten von gedruckten und elektronischen Zeitschriften bzw. elektronischen Parallelausgaben werden einander gegenübergestellt und die Einsparung der Druckausgabe als Einsparungsmöglichkeit diskutiert. Um 20 bis 30% könnten dadurch die Herstellungskosten sinken - allerdings nur, wenn tatsächlich kein einziges Heft mehr gedruckt wird. Umgekehrt verteuert die Herstellung einer elektronischen Parallelausgabe die Gesamtkosten um 10 bis 30% . Auch die Kosten retrospektiver Digitalsierungsprojekte - wie z.B. JSTOR - sind gewaltig: Die Seite kann zwischen 0,18 und 2,00 USD kosten, die Aufrechterhaltung des Zugangs und die Administration 25.000 USD pro Zeitschrift und Jahr!

Dementsprechend hoch sind auch die Abonnement- oder Lizenzkosten für elektronische Zeitschriften. Die ganze Palette von Lizenzmodellen mit all ihren Eigenheiten vom freien Zugang bis hin zu komplexen Konsortialverträgen wird im letzten (achten) Kapitel dargestellt und auch auf das neue Zahlungsmodell des Pay-per-use-Verfahrens eingegangen, dessen Nachteile (materielle Einschränkung und weitgehende Kommerzialisierung des Informations- und Publikationswesens) sehr deutlich gesehen werden. Pay-per-use wird daher nach Meinung der einschlägigen Experten das Subskriptionsmodell nicht ablösen, wohl aber ergänzen, was im Zusammenhang mit einzuführenden elektronischen Zahlungssystemen möglich sein sollte.

Abgerundet wird die profunde Darstellung durch eine mehr als vierseitige Auswahlbiographie zu den einzelnen Teilaspekten der Thematik, und ein umfangreiches Sachregister macht das Buch zugleich zu einem Nachschlagwerk in Sachen elektronische Zeitschriften. Alice Keller ist es gelungen, ihren KollegInnen in den Bibliotheken, aber auch allen interessierten BenutzerInnen ein Standardwerk über das neue Medium der elektronischen Zeitschriften zur Verfügung zu stellen, das im deutschsprachigen Raum geraume Zeit richtungweisend bleiben dürfte.


Anschrift des Rezensenten:
Helmut Hartmann
Referent für elektronische Zeitschriften
Universitätsbibliothek der Karl-Franzens-Universität Graz
Universitätsplatz 3
A-8010 Graz
E-Mail: helmut.hartmann@uni-graz.at