Die öffentliche Bibliothek in der Zivilgesellschaft *

von Thomas Meyer

Öffentliche Bibliothek und Demokratisierung

*) Festvortrag auf den 11. Gemeinsamen Bibliothekstagen für Sachsen-Anhalt und Niedersachsen am 14./15. September 2001 in Salzwedel.
Öffentliche Bibliotheken sind öffentliche Instanzen zur Demokratisierung des Zugangs zu Bildung und Kultur.

Im folgenden wird es nicht darum gehen, die vorzüglichen Reflexionen von Bibliotheks-Insidern vorzutragen oder zu überbieten. Ich werde jedoch darauf Bezug nehmen. Was mich als Außenstehenden interessiert, ist der Wandel der kulturellen Grundlagen unserer Kommunikationsgewohnheiten und seine gesellschaftlichen Folgen, insbesondere natürlich auch - aus der Sicht von außen - für die öffentlichen Bibliotheken. So viel steht freilich von vornherein fest: Das Zeitalter der Globalisierung und der Informationsrevolution, in das wir seit kurzem eingetreten sind, kann gerade eine Institution, wie die öffentliche Bibliothek die im Zentrum der Informationsspeicherung und Vermittlung wirkt, am allerwenigsten unbehelligt lassen. Aber das ist sie ja, wie ein kurzer Blick zurück zeigt, seit längerem gewohnt. Obgleich es ja Bibliotheken überhaupt seit Jahrtausenden gibt, sind die öffentlichen Bibliotheken unserer Zeit Produkt eines Wandels von Grund auf in jüngster Zeit.

"Es würde gewiss dem Bibliothekar zu viel zugemutet sein, wenn man verlangen wollte, dass er jedem beliebigen Müßiggänger, der um sich die Bürde der Zeit mit Hilfe der Lektüre zu erleichtern, seine Zuflucht zur Bibliothek nimmt, mit einladender Dienstfertigkeit entgegenkomme und dadurch die große Menge in dem allzu gewöhnlichen Wahne noch mehr bestärke, als sei die Bibliothek eine aufgehäufte Masse einzig Papier, und allein bloß dazu da, um Mittel gegen Langeweile zu gewähren".

So lange ist es eigentlich noch gar nicht her, dass Julius Petzholdt 1856 in seinem Katechismus für Bibliothekslehre diese Weisungen gab; immerhin ein Jahrhundert nach dem Beginn der Aufklärung, geraume Zeit nach dem Beginn der demokratischen Bewegung und der Revolution in Deutschland.

Heute, so denke ich, wäre das, wogegen Petzoldt polemisiert - bis auf die abschätzige Wortwahl freilich - wohl genau das, wozu die öffentlichen Bibliothekare aufgefordert werden dürften. Eine Institution - und ein Beruf - im Fokus der sozialen Kultur und eben darum auch im Zentrum ihres Wandels - ehedem und künftig.

Lesen, lesen zu können und der Zugang zu Büchern war viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende lang ein rares Privileg. Der Zugang zu Wissen und Information, den Quellen der Überlieferung und den Schätzen der Weisheit war wenigen vorbehalten. Das Volk, in jedem Falle, war davon ausgeschlossen. Es ist kaum anderthalb Jahrhunderte her, dass noch ein deutscher Kaiser die Anfänge der Volksalphabetisierung mit der Bemerkung eher entschuldigte als erklärte: auch das gemeine Volk müsse ja nun wenigstens so viel lesen und schreiben können, dass es versteht, Gehorsamkeit zu üben.

Dass heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts in Europa so gut wie alle lesen können, und alle, die es wollen, Zugang zu allen Büchern haben, die sie interessieren, ist das Verdienst von zwei Einrichtungen, die uns allen vorkommen, als hätte es sie immer gegeben und die doch nicht sehr viel älter sind als ein Jahrhundert: Die Volksschulen und die öffentlichen Bibliotheken. Beide sind Leuchtpunkte der sogenannten Gutenberg-Galaxis, wie der Medienpionier Marshall McLuhan, das Zeitalter des Vorrangs von Lesen und Schreiben als Volksfähigkeiten genannt hat. Beide sind aber auch, oder vielleicht mehr noch, Kinder einer anderen kulturellen Macht der Moderne: nämlich der Demokratie.

Zwischen der Gutenberg-Galaxis, der Welt des sich verallgemeinernden Lesens, Schreibens, Gedruckt- und Verbreitet-Werdens und der Demokratie besteht eine enge Wechselwirkung. Die Gutenberg-Galaxis überwand erst im Maße der Durchsetzung des Demokratieprinzips seit dem Ende des 18., vornehmlich dann im 19. Jahrhundert, die ihrem Wesen und Anspruch eigentlich fremden Beschränkungen als soziales Klassenprivileg. Sie hat, im Gegenzug, Demokratie zuerst als Volksbewegung und dann als politische Lebensform erst möglich gemacht.

Der Kulminationspunkt in der Verschränkung beider war in Europa ohne Zweifel die Aufklärung. Ihre ebenso real wirkmächtige wie symbolisch zwingende Hervorbringung war ein Buch in der Mitte des 18. Jahrhunderts: die berühmte Enzyklopädie mit Autoren wie Diderot, d' Holbach, D' Alembert, Voltaire. Autoren von Büchern, die ein Appell an die Öffentlichkeit waren.

Die Enzyklopädie führte das gesamte verfügbare Aufklärungswissen in einem großen Text zusammen, der in Buchform dem lesenden Teil des Volkes zugänglich war, und die Vorurteile des mittelalterlichen Weltbildes, des feudalistischen Ungleichheitsdenkens und des absolutistischen Machtanspruchs zerschmetterte, und einen wesentlichen Beitrag zur Durchsetzung des demokratischen Imperativs und seinem historischen Triumph, der französischen Revolution, leistete.

Gutenberg-Galaxis, Aufklärung und demokratischer Imperativ verlangten und schufen die moderne bürgerliche Öffentlichkeit als rationalen Diskussionszusammenhang eines lesenden Publikums. Jürgen Habermas hat in seiner Geschichte dieses Vorgangs, dem Buch "Strukturwandel der Öffentlichkeit" nachgezeichnet; dass dabei die soeben entstehenden Zeitungen und Zeitschriften, aber gleichermaßen auch die Club-Bibliotheken der Lesegesellschaften, eine entscheidende Rolle spielten. In diesem Sinne gehörten Bibliotheken zu den Geburtshelfern des demokratischen Zeitalters. Zugänglichkeit zu den maßgeblichen Büchern und die gemeinsame öffentliche Erörterung des Gelesenen oder allgemeiner: der öffentlichen Belange im Lichte des Gelesenen, waren und sind konstitutive Prinzipien der modernen Demokratie.

Wilhelm Liebknechts
"Wissen ist Macht"
wurde zum Leitwort
der Arbeiter-
bildungsbewegung.
Die Bibliotheken der Lesegesellschaften waren also Selbsthilfeeinrichtungen gebildeter Bürger. Ihnen folgten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Leih-Bibliotheken als Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiterbewegung und ebenso der anderen kulturell-politischen Grundströmungen der deutschen Gesellschaft (konfessionelle u.a.). Wilhelm Liebknechts Satz "Wissen ist Macht" wurde zum Leitwort einer sehr eindrucksvollen Arbeiterbildungsbewegung, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik das kulturelle Rückgrat der Arbeiterbewegung bildete, die ihrerseits als zentrale Triebkraft der Demokratisierung in Deutschland wirkte. Im Zeitalter vor der kulturellen Machtübernahme des Fernsehens, also solange die alte Gutenberg-Galaxis noch am Medienhimmel leuchtete, waren die genossenschaftlich organisierten Leihbibliotheken der Arbeiterbewegung ein kulturelles Zentrum zur Demokratisierung von Wissen, Information und Bildung. Auch die gewerblichen Leihbibliotheken trugen für die sozialen Schichten, die wie Handwerker, viele Dienstboten oder Kleingewerbetreibende nach Bildung drängten, aber die Mittel für eine Privatbibliothek nicht hatten, zur Demokratisierung von Bildung bei. Mit dieser Entwicklung war im Kern das Jahrhunderte alte Privileg des Lesens gebrochen. In Deutschland trug seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die Bücherhallenbewegung nachhaltig zur Durchsetzung des Anspruchs einer öffentlichen Bibliothek für alle Bürger bei.

Das Thema hier ist aber nicht Geschichte des öffentlichen Bibliothekswesens, sondern die moderne Mediengesellschaft und ihre Auswirkungen auf unser Leben. Ich kann daher nicht auf die Einzelheiten der Herausbildung eines öffentlichen Bibliothekswesens eingehen, das sich, zumal in den einzelnen Ländern des europäischen Kulturkreises, in höchst unterschiedlicher Weise entwickelt hat. In Deutschland war diese Entwicklung ja, was die Volksbüchereien anbetrifft, lange Zeit von Zweispältigkeiten geprägt: Einerseits die demokratisierende Öffnung des Zugangs zu Bildung und Wissen für das Volk, andererseits die dünkelhafte Abwertung der Sachbücher als angeblich bloß instrumenteller Bildung und die Bevorzugung von Lesestoff für die seelische Bildung. Mächtig war allzulange der verhängnisvolle deutsche Kulturdünkel, der gegen Zivilisation und öffentliche Orientierung der europäischen Nachbarn gerichtet war und stattdessen propagierte: Innerlichkeit, Wesenstiefe und Politikferne als überlegene Kulturform.

Dies ganz im Unterschied etwa zu den Public Libraries im anglo-amerikanischen Bereich, die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gerade darauf bedacht waren - als Einrichtungen der staatlichen Vorsorge - die für die Modernisierung der Gesellschaft und die Chance der Selbstbehauptung des Einzelnen in ihr nötige instrumentelle Bildung und Selbstbildungskompetenz zu fördern.

Ich werde später auf dieses Thema zurückkommen, möchte aber an dieser Stelle vorgreifend schon anmerken: Es wäre verhängnisvoll, würden Teile unserer Kultureliten, zu denen ja auch alle rechnen, die an der Produktion und Verbreitung von Literatur mitwirken, etwa zur Abwehr der ja immer auch bedrohlichen und ungewissen Entwicklungen der modernen Medienwelt auf den alten deutschen Kulturdünkel zurückgreifen, vielleicht auch nur in angepasster moderner Form.

Die öffentlichen Bibliotheken sind auf jeden Fall und über alle derartigen Differenzen hinweg von ihrem ausdrücklichen Gründungszweck und ihrem gesellschaftlichen Funktionssinn her verstanden: öffentliche Instanzen zur Demokratisierung des Zugangs zu Bildung und Kultur. Sie leisten einen deutlichen materiellen Beitrag bei der Verringerung von Chancenungleichheit im Zugang zu Information. Insofern dienen sie nicht lediglich beliebigen individuellen Unterhaltungsbedürfnissen, sondern einem übergreifenden Legitimationszweck der demokratischen Gesellschaft, übrigens natürlich auch dann, wenn sie "bloß" unterhalten.

Medialität

Dem wäre ja eigentlich wenig mehr hinzuzufügen, befänden sich unsere Gesellschaft und ihre Kommunikationskultur nicht seit etwa zwei Jahrzehnten in einem tiefgreifenden und raschen Umbruch, weg von der Kultur der Gutenberg-Galaxis, dem Monopol des Buches, hin zu einer neuen visuellen Kultur der globalen Vernetzung. Für diese stehen nicht nur symbolisch, sondern gleichermaßen materiell-real vor allem zwei Kommunikationsmedien: Das Fernsehen und das Internet und die sich abzeichnenden Verknüpfungen von Video-Kultur und Internet, (Multimedia).

Es gibt kundige Beobachter, die meinen, nichts von dem, was im Zeitalter des Buches und der darauf gestützten rational diskursiven Kultur gültig war, wird im Zeitalter von Fernsehen und Internet noch gültig bleiben. (Ein Paradox am Rande: Bücher zum Ende des Buches gibt es schon seit den siebziger Jahren.)

Und in der Tat, es gibt Anzeichen, die dafür sprechen, sogar bei der Veränderung des Leseverhaltens selbst. Worum geht es also? Was heißt Mediengesellschaft konkret? Und welche Regeln herrschen in ihr? Verlieren wir die Fähigkeit zum konzentrierten Lesen? Bleibt das Interesse am Buch auf der Strecke? Ich möchte meine Analyseskizze unter vier Leitbegriffe stellen:

  1. Die Renaissance der Bildlichkeit, die Revisualisierung der Kultur.
  2. Internet und Media-Literacy
  3. Inszenierung als Kommunikationsprinzip und Zivilgesellschaft.

Zwei dieser Tendenzen entspringen der paradigmatischen Rolle des Fernsehens und der Art, wie es Gesellschaft und Kultur, besonders auch die Politik, prägt - und im übrigen auch das Leseverhalten. "Mediengesellschaft" als sozialwissenschaftlicher Begriff bezeichnet nicht eine Gesellschaft, in der es im übrigen auch Medien gibt, und sei es sehr viele und gänzlich neuartige. Mit dem Begriff Mediengesellschaft soll vielmehr der Sachverhalt zum Ausdruck gebracht werden, dass die moderne Gesellschaft in wesentlicher Hinsicht durch die für sie charakteristischen Medien geformt und geprägt, durch und durch durchdrungen wird (Gutenberg-Galaxis, Video-Kultur).

Es war Marshall McLuhan, der uns in seinen "Magischen Kanälen" vor Augen geführt hat, dass dem Fernsehen als Kommunikationsmedium nicht etwa ein selber leerer Kanal ist, über den die Gesellschaft ansonsten unverändert, nun sehr viel effektiver, ihre Informationen austauscht. Das paradigmatische Medium etabliert sich vielmehr als ein eigenständiges Sinnzentrum: Das Medium ist selber die Botschaft "the medium is the message". Die Inszenierungsform, derer das Fernsehen bedarf, um als Medium zu wirken, ist in ihrer sinnenfältigen Unterhaltungsoberfläche, nicht nur die Bedingung für alle, die Zugang zu ihm suchen, sondern auch sein Hauptinhalt.

Das Medium schafft sich eine Gesellschaft nach seinem Ebenbild. Von der Unterhaltung bis zur Politik, dem täglichen Lebensrhythmus bis zu den Wahrnehmungsgewohnheiten, ja bis hin zu Lebensformen und individuellen Identitätsentwürfen übernimmt das Fernsehen eine nachhaltige Prägerolle, unterhalb der Schwelle bewusster Aufmerksamkeit und - sozusagen - ohne jede Absicht.

Die Hauptwirkung des Mediums Fernsehen besteht, wie die Forschung zeigt, in seiner Selbstverleugnung als Medium. Es wirkt wie ein Teil der Lebenswelt. Das Zeichensystem des Fernsehens ist die Bildlichkeit. Die Logik des Bildes, seine Unterhaltsamkeit, Eindrücklichkeit und Rhetorik verdrängen Text und Sprache an den Rand, zuerst der medialen Darstellung und dann der Kommunikationsgewohnheiten seiner Rezipienten. Bildrhetorik ersetzt Diskursivität.

Wir merken es schon beim flüchtigen Blick, an der Art, wie sich Zeitungslayouts und auch die Ausstattung vieler Bücher verändern. Der Comic rangiert bei Kindern und Jugendlichen oft weit vor dem mühevollen Buchtext. Es ist ja mittlerweile auch zur eigenständigen Kunstgattung erklärt worden. Es soll daher die sehr viel tiefergreifende Revisualisierung der Kommunikationskultur der Mediengesellschaft in vier Dimensionen wenigstens in der hier gebotenen Kürze skizziert werden, weil ich glaube, dass es sich dabei um einen epochalen Vorgang handelt - mit weitreichenden Auswirkungen auf die Zukunft von Kommunkation, Kultur, Gesellschaft und Politik, und natürlich auch auf das Buch und die soziale Ökologie des Buches.

Revisualisierung der Kultur

Als der ungarische Künstler und Intellektuelle Bela Balazs, in dem das neue Medium Film seinen ersten großen Theoretiker fand, angesichts der Triumpfe des Stummfilms im Jahre 1924 den Beginn einer neuen visuellen Kultur mit leidenschaftlicher Zustimmung begrüßte, war vom Fernsehen kaum eine erste Ahnung möglich und die Werbung kam noch in sonntäglicher Anmut einher. Er glaubte, dass nun, ohne die falschen Vermittlungen durch die Sprache mit ihren hartgesottenen Konventionen und ideologischen Mustern, und ohne ihre Umwege über Texte, die nicht für jeden zu erreichen waren, eine neue Kommunikationskultur anbrechen würde, die durch die Unmittelbarkeit der Bildwirkung auch die Unterschichten direkt erreicht und keine Grenzen mehr kennt.

"Die Erfindung der Buchdruckkunst hat mit der Zeit das Gesicht der Menschen unleserlich gemacht. Sie haben so viel vom Papier lesen können, dass sie die andere Mitteilungsform vernachlässigen konnten. Victor Hugo schreibt irgendwo, das gedruckte Buch habe die Rolle der mittelalterlichen Kathedrale übernommen und wurde zum Träger des Volksgeistes. Doch die tausend Bücher haben den Geist der Kathedrale zu tausend Meinungen zerrissen. Das Wort hat den Stein (die eine Kirche zu tausend Büchern) zerbrochen. So wurde aus dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen Kultur eine begriffliche. Nun ist eine andere Maschine an der Arbeit, der Kultur eine neue Wendung zum Visuellen und dem Menschen ein neues Gesicht zu geben. Sie heißt Kinematograph. Sie ist eine Technik zur Vervielfältigung und Verbreitung geistiger Produktion, genau wie die Buchpresse, und ihre Wirkung auf die menschliche Kultur wird nicht geringer sein."

Balasz ging es dabei um drei Dinge: Die Teilhabe aller an der Kommunikation, ihre Globalisierung und eine neue Authentizität jenseits der in der Sprache versteckten Vorurteile.Diese Vision einer neuen Kultur als Kultur der Visualität ist heute unter dem Einfluss von Fernsehen und Werbekommunikation im Begriff, sich in unserer Gesellschaft zu erfüllen, in einer Weise, die äußerlich betrachtet alles in den Schatten stellt, was der Begründer der Filmtheorie für möglich gehalten haben dürfte, obgleich kaum anzunehmen ist, dass er die Hoffnungen, die er mit seiner Vision verband, in der neu entstandenen Welt wiederfinden würde.

Die Ästhetisierung der sozialen Welt

Unsere Kultur ist auf dem Weg zu einer visuellen Kultur in genau dem Sinne, den Balasz im Auge hatte und sie ist es genau infolge des Mechanismus, den er beschrieben hat. Aber die Folgen scheinen - bislang - eher das Gegenteil dessen, was er sich von dieser kulturellen Revolution erhofft hatte, zu bewirken. Die Ästhetisierung der sozialen Welt ist im Kern eine umfassende Dominanz des Visuellen. Sie vollzieht sich in vier verbundenen Dimensionen, deren jede die Voraussetzungen für die anderen schafft und erfüllt: 1. die Lebenswelt, 2. die Politik, 3. die Lebensstile, 4. die soziale Segmentierung.

Die Ästhetisierung der Lebenswelt

Seit einigen Jahren wird die Diagnose aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Blickwinkeln immer wieder gestellt, die Lebenswelt der Gegenwart sei in ausschlaggebender Weise ästhetisch verfasst. Damit ist nicht gemeint, dass in ihr nun die Kunst und das Künstlerische Fuß fassen und das Schöne zum beherrschenden Gesetz werde, sondern der prosaische Sachverhalt, den Wolfgang Welsch untersucht hat: "Zunehmend entstehen Lebensformen, die durch Wahrnehmungen konstruiert sind und auf Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit und -relevanz zielen". Ästhetik bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Kunst oder Theorie der Kunst, sondern wie im ursprünglichen klassischen Gebrauch des Wortes den Bedeutungszuwachs und die Thematisierung von "Wahrnehmungen aller Art". Im Zentrum dieser Prozesse steht der Bedeutungszuwachs des durch und durch problematischen, bislang in seinen Folgen kaum reflektierten Sachverhalts der zunehmenden "Bildlichkeit dieser medialen Welt". Es geht um eine neue Dimension der visuellen Versinnlichung von Kommunikationsformen, Lebensweisen und Sozialbeziehungen, die zwar auch neue Chancen für eine umfassendere Welt- und Selbsterfahrung eröffnet, in ihrer gegenwärtigen Realität aber zunächst einmal vor allem ungewohnt hohe Risiken der Blendung, des Distanzverlustes und der Unmündigkeit schafft.

Dieser Befund stützt sich auf die beiden Voraussetzungen, dass die mediale Welt der Gegenwart eine Welt ist, in der das Fernsehen zur alles prägenden Kulturmethapher wird und dass es als Medium, nach dem Klassiker gewordenen Urteil McLuhans selber schon die Botschaft ist. Es wirkt nicht nur als Medium in der soziale Welt, sondern prägt die soziale Welt neu und nimmt damit den Rang eines Zweckes in der Lebenswelt ein.

Eine bestimmte Form der Visualisierung von Informationen, Deutungen, Botschaften, Normen, Elementen von Weltbildern, Vorbildern und was sonst noch in diesen Bildproduktionen stecken mag, wird zum prägenden Element der Erfahrung der sozialen Welt und der Gestaltung der Lebenswelt. Zum anderen, und das ist für die politische Kultur von ausschlaggebender Bedeutung, verdrängt dieser Stil der visuellen Eindrücklichkeit die diskursive Erfahrung der sozialen Welt, die rationale Verständigung und den kritischen Diskurs aus dem Kernbereich der sozialen Welterfahrung. Die stupende Wahrnehmung vornehmlich des Auges, die zugleich überraschend, eindrücklich, unterhaltsam und anspruchslos, und zumeist auch fraglos ist und sozusagen direkt unter die Haut geht, wird zum bevorzugten Paradigma von Erlebnissen, Erlebnisfähigkeit und der Produktion von erlebnisfähigen Kommunikationsangeboten.

Die Verdrängung der diskursiven Realitätsdeutung und der Gesprächsorientierung durch unterhaltsame und scheinbar jederzeit für sich selbst sprechende Abbildlichkeit lässt auch die Sprache oder dasjenige, was von ihr bleibt, nicht unberührt. Sie wird verkürzt und verformt, als wenn sie sich selber an den herrschenden Stil kontextloser, eindrücklicher Bildlichkeit anpassen müsste, um in der Welt der Bilder noch Überlebensrecht beanspruchen zu können. Die Logik der bildgeprägten Information und Unterhaltung, wie sie im Medium des Fernsehens kultiviert wird, entwickelt sich zunehmend zur Logik von Massenkommunikation und Welterfahrung im ganzen. Sie prägt die Wahrnehmungsformen und Kommunikationsgewohnheiten vieler. Neil Postman spricht keineswegs übertrieben vom Triumpf der "Guck-Guck Kultur" über die Kultur der Diskussion, der Sprache und der Reflexion.

Denken kommt auf dem Bildschirm nicht gut an. Der Eindruck zählt, nicht das Argument. Das ist auch das Geheimnis der dargestellten Dialoge in den Talkshows. Gegebenenfalls ist die Darstellung von Nachdenklichkeit wirkungsvoller als eine Redeweise, in der sie sich verkörpern könnte. Es herrscht die Wahrnehmung, nicht die Sprache oder das Denken. Geschichte und Zusammenhänge, Erörterungen, Differenzierungen und Begründungen langweilen eher, erscheinen als unbestimmt und problematisch. Sie lenken ab, verscherzen Aufmerksamkeit, vergraulen die Gunst des Publikums, verderben das Geschäft. Sie passen nicht zum Bildmedium und seinen Möglichkeiten. Es gilt vielmehr jederzeit, sekundenschnell und im raschen Wechsel starke Eindrücke zu wecken, notfalls auch noch unter dem Anspruch des Diskurses wie beim "Heißen Stuhl". Es ist aber am Ende immer die "Logik" der Bilder, was den Ausschlag für Arrangement und Wirkung gibt.

Die "Logik" der Seheindrücke erzeugt eine amüsante, erregende oder auch schockierende, jedenfalls stets unterhaltsame, sinnliche Bruchstückwelt, die den Zusammenhang, in dem sie jeweils präsentiert wird, nicht dem Vorbild verdankt, als dessen Abbild sie auftritt, und erst recht nicht den Gesetzen der Aufklärung, sondern einzig dem Willen der Regie.

Empirische Untersuchungen zum Unterschied von Bild- und Sprachwirkungen belegen diesen Befund. Beispielhaft sei auf die Experimente Hans M. Kepplingers verwiesen, der in seinen Untersuchungsreihen gefunden hat, dass bereits fotografische Abbilder das im Falle der Sprachwahrnehmung zuverlässig funktionierende Gesetz der "kognitiven Dissonanz" unterlaufen, indem Fotografien im Gegensatz zu sprachlichen Behauptungen nicht zurückgewiesen werden, wenn sie fest geprägten Erwartungen zuwiderlaufen, sondern als eine unkritisierbare Realinstanz auftreten, an der sich Erwartungssysteme brechen. Kepplinger nennt diese eigentümliche Fähigkeit der Bilder, die Potentiale distanzierter und kritischer Wahrnehmung zu unterlaufen, den "essentialistischen Trugschluss", eine Art naturalistischer Illusion.

Wer also argumentiert oder erzählt, setzt den Zweifel voraus und muss sich auf ihn einlassen. Wer fotografische Bilder zeigt, kann auf die metyphysische Gewissheit des Augenscheins bauen, Realität ohne Mittlerdienste fremder Urheberschaft zu erfahren. Das Abbild, das unweigerlich stets ebenso gemacht ist wie sprachliche Weltdeutung, verschweigt nicht nur seinen Urheber, sondern sogar die Tatsache, dass es unvermeidlich stets einen solchen hat. Das Wort, seit es nicht mehr nur die liturgische Reproduktion des göttlichen Logos ist, verweist seinem Wesen nach auf Urheberschaft und Urheber. Abbilder hingegen treten auf, als kopiere sich die objektive Welt in der technischen Apparatur von selbst. Das Sagen wirkt immer wie etwas, das zwischen uns und die Sachen tritt. Das Zeigen hingegen wirkt, als würde lediglich ein Vorhang beiseite geschoben. Dabei kann es gleichgültig sein, von wessen Hand. Und es ist immer spannend, unterhaltsam, zumeist auch amüsant.

Diese Form einer Revisualisierung unserer Kultur verändert die Kommunikationsfähigkeit vieler, indem sie in Bildform präsentierte Behauptungen über die Welt und wie sie sein soll durch die naturalistische Suggestion der Bildwirkungen immunisiert und gleichzeitig die diskursive Kultur aushebelt.

Die Ästhetisierung der Lebensweisen

Die jüngsten soziologischen Untersuchungen über die Bedeutung der Alltagsästhetik für Identitätsbildung und Gruppenzuordnung der Individuen demonstrieren die gewichtige Rolle der Ästhetisierung von Lebensweisen für die Kultur der Gegenwart. Die ästhetischen Symbole der Lebensführung werden Zug um Zug aus Ornamenten des Alltagslebens zu Bausteinen der personalen Identität. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Darstellung der eigenen Lebensführung nach außen in ihren für jedermann sichtbaren Zeichen und Symbolen wie nunmehr auch - in zunehmenden Maße - nach innen, im Hinblick auf den Aufbau der jeweils eigenen Identität. Die Zeichen und Symbole selbst übernehmen dann die Rolle der Sinngebung in der Lebensführung und im Selbstverständnis des Einzelnen. Sie werden in der Tendenz aus Signalen einer Identität zu Elementen ihrer Struktur.

Das gilt für die unterschiedlichen sozialen Gruppe offenbar in unterschiedlichem Ausmaß und jedenfalls in sehr verschiedener Weise. Diese Unterschiede markieren die Grenzen zwischen den sozialen Milieus, in die sich hierzulande die Gegenwartsgesellschaft auffächert. Die Lebensphilosophien, sofern das Wort angesichts dieses Wandelns noch Sinn macht, nehmen die äußeren Bilder auf und machen sie zu Vorbildern eines Lebensentwurfs im Ganzen. Ausdrücklichkeit und Eindrücklichkeit, der Wunsch, die eigene Identität in alltagsästhetischen Symbolen und Zeichen zum Ausdruck zu bringen, und die Übernahme der äußeren Zeichen, Symbole und visuellen Codes, die an Waren, Verhaltensritualen, Formen individueller Selbststilisierung, von der Frisur über die Brille, die Kleidung, die umgebenden Markenfetichismus Gebrauchsgegenstände, bevorzugten Aufenthaltsorte, präsentierten Tätigkeiten bis hin zu Gestik und Sprache haften, gewinnen identitätsbildende Kraft für die Menschen selbst, weil schon in das vorgeführte Design divergente "Lebensphilosophien" demonstrativ hineingelegt werden, andere "Lebensphilosophien" aber, die von solchen visuellen Korsettstangen unabhängig wären, vielen nicht mehr zugänglich sind.

Dieser Entwicklung liegen vor allem drei Ursachen zugrunde. Die Verringerung von Not und Knappheit infolge der Entwicklung von Industriegesellschaft und Sozialstaat erlauben auch den Angehörigen der Unterschichten in der Regel eine Orientierung des eignen Lebensentwurfs über die Zwänge des unmittelbaren Überlebenskampfes hinaus. Die Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisses ist für die meisten gesichert, so dass erstmals Energien und Ressourcen für einen weiterreichenden, vom eigenen Geschmack bestimmten Lebensentwurf und dessen Realisierung in selbstbestimmten Aktivitäten frei werden. Gleichzeitig sind die traditionsbestimmten klassenspezifischen Zwänge und Orientierungen fast ganz verschwunden. Und außerdem ist auch auf die orientierende und sinnstiftende Kraft der großen religiösen und methaphysischen Weltbilder kein Verlass mehr.

"Bekehrungsanfällig" wird der einzelne unter diesen Umständen nicht nur für die Angebote aller möglichen Heilsversprechungen, Sekten und Okkultismen, sondern am ehesten für die visuellen Symbolwelten zugleich erlebnisorientierter und sinnüberhöhenden Lebensstile, die ihm in Werbung und Fernsehserien täglich vorgeführt werden, versehen durch die Aura des Mediums selbst mit dem Schein des Objektiven und Verbindlichen. Die aus solchen Vorbildern abgeleitete visuelle Symbolstruktur der alltäglichen Bedürfnisbefriedigung und sozialen Kommunikation mit ihren sehnsuchtsvollen Überhöhungen, gewinnt so eine neue Bedeutung. Der Lebensstil selbst wird zum Lebensinhalt. Der Kampf noch um die kleinste Nuance der korrekten Jeans-, Schuh- oder T-Shirt-Marke, die richtige Freizeitaktivität, Wohnungsmöbilierung, Stammkneipe, die passende Vorliebe für diesen und nicht jenen Film, diese und nicht jene Musik, diesen und nicht jenen Slang, Tonfall, Gestik werden zu dem, was Bedeutung und Sinn des eigenen Lebens eigentlich ausmacht. Dahinter verbirgt sich nichts anderes mehr. Eine Art symbolisches Leben im Medium der Unterhaltsamkeit spielt sich ein, in dem vieles von dem, was geschieht, nur eine Imitation der in den Medien präsentierten Bilder ist. Es steht nicht für sich selbst, sondern lebt aus den Inhalten, Verheißungen, Sinnversprechen, die die Medien mit den ästhetischen Symbolen, Zeichen, Objekten und Handlungsstrukturen verbinden.

Man muss sich dann ja auch nicht mehr mit einer überlieferten Lebensorientierung diskursiv auseinandersetzen, um sich womöglich ein Leben lang an ihren Geltungsansprüchen zu reiben, man übernimmt, ohne Begründungszwang und ohne Begründungsmöglichkeit, ein ästhetisches Zeichensystem an deren Stelle.

Was dies für das Buch und das Lesen bedeutet, und was es für die öffentliche Bibliothek bedeuten könne, soll gleich gezeigt werden. Vorher aber ein Blick auf die Politik.

Die Ästhetisierung der Politik

Politische Kommunikation hat sich unter der Vorherrschaft des Fernsehens die Visualisierung der Kommunikations- und Erlebnisformen rasch und gründlich zunutze gemacht. Politik nimmt in der Mediengesellschaft in einem irritierenden Ausmaß die Form eines visuell produzierten Scheins von wirklichem Handeln an, dem wirkliches Handeln immer weniger entspricht. In der Symbiose von Politik und Fernsehen entsteht der "schöne Staat" als ein Gemeinwesen, in dem Politiker unter Ausnutzung der Übermacht der visuellen Medien eine Politik spielen, die nicht stattfindet, einen Augenschein von politischem Geschehen erzeugen, der an die Stelle von Realhandlungen tritt und verdeckt, wo sie in Wahrheit ausbleiben. Darstellung für die Vorstellung statt Herstellung ist die Grundregel.

Der klassische Fall, der sich in ungezählten Varianten überall wiederholt, wo Politiker auftreten und Fernsehkameras bereitstehen, lag vor, als sich Präsident Ronald Reagan vor den versammelten TV-Kameras auf der Schulbank eines Klassenzimmers scheinbar mit Lehrern und Schülern ins Gespräch vertiefte und für die Augen der Betrachter das größte Interesse am Bildungswesen des Landes in Szene setzte, während er in Wirklichkeit soeben den Bildungsetat drastisch gekürzt hatte. Solche Art symbolischer Politik ist Plazebopolitik zu Verstellungszwecken. Sie liegt in all den immer häufiger werdenden Fällen vor, wo Handlungen ins Bild gesetzt werden und als solche reale Erfahrungen vorspiegeln, während in der Welt der Realhandlungen gerade unterlassen wird, worauf die Bilder verweisen. Demokratie wird zur Mediendemokratie.

Es gibt natürlich auch Symbolhandlungen, die reale Handlungszusammenhänge verdichten, um sie sinnenfällig vergegenwärtigen zu können oder die eine Einstellung sinnfällig machen, wie der Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Warschauer Ghetto-Denkmal. Im kritischen Falle - im Fernsehzeitalter mittlerweile die Regel - stellt symbolische Politik ein Handeln zur Schau, das nicht wie real fungierende Symbole etwas Wirkliches verdichtet oder auf etwas Wirkliches authentisch verweist. Symbolische Politik ist infolgedessen ein strategisches Handeln, das keine Argumente bietet und keine wahrhaftige Beziehung zwischen seinem ästhetischen Schein und seinem realen Wesen kennt, obgleich sein Schein gerade das Bestehen einer solchen Beziehung sinnlich-bildhaft vor Augen führt, ohne im diskursiven Sinne irgend etwas zu behaupten.

Das Fernsehen ist ja auch nicht an langen Erklärungen und hintergründigen Analysen, sondern an attraktiven Bildern interessiert. Das wissen die Politiker nur allzu gut. So ergibt sich eine undurchdringliche Politiker-Medien-Symbiose, in deren Rahmen Politiker das Geschehen so inszenieren, wie es die Medien sehen wollen, damit es nach ihren eigenen Funktionsgesetzen wirksam werden kann. Und die Medien können dann, wenn das Geschehen ihnen so angeliefert wird, wie es allein die Chance hat, von ihnen bildlich aufgenommen zu werden darauf verweisen, dass sie nichts anderes tun, als Realitäten zu berichten und darzustellen. Die Mediengesetze und das Darstellungsinteresse der Politik verwachsen so zu einem kaum noch zu unterscheidenden Syndrom. Diese Symbiose ist das Produktionszentrum ästhetischer Politik.

Die Folge ist eine Austreibung der Urteilsfähigkeit bei vielen Bürgern. Wenn symbolische Inszenierungen auf diese Weise als Dauerreiz in der Mediengesellschaft wirksam sind, dann werden viele vom täuschenden Schein lange geblendet, während sich die anderen, die das Spiel durchschauen, verdrossen von der "offiziellen" Politik abwenden. Ein demokratischer Staat ist damit auf die Dauer nicht zu machen. Das verweist auf die Notwendigkeit der "Neu-Erfindung" der Demokratie. In ihr wird die Zivilgesellschaft eine große Rolle spielen - und in dieser vermutlich auch die öffentliche Bibliothek als Kommunikationsort.

Veränderte Lesekultur

Ja aber, wird man nun vielleicht denken, es wird doch auch noch gelesen - und zwar nicht viel weniger als in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch der Mediengesellschaft.denke, die Spuren der Veränderung in unserer Kommunikationskultur zeigen sich auch deutlich in der Veränderung des Lesens und werden sich vermutlich künftig noch viel deutlicher als heute zeigen. Die "Stiftung Lesen" hat es jüngst untersucht. Einige ihrer Befunde seien resümiert:

1. "Viele lesen zwar nicht weniger, aber dafür seltener, oberflächlicher und brechen die Lektüre schneller ab, wenn sie nicht ihren Erwartungen entspricht.

2. Bodo Franzmann, Leseforscher der Stiftung Lesen, resümiert: "Die Leser passen ihre Lesestrategien immer stärker an das Informations-Überangebot in der Mediengesellschaft an. Das wird die Lesekultur in den kommenden Jahren nachhaltig verändern."

3. Über Literatur informieren sich von dem Drittel der Bevölkerung, das sich für sie überhaupt interessiert, wiederum 33% im Fernsehen, die deutlich grösste Gruppe; und übrigens nur 6% im Internet.

4. In nur zehn Jahren hat sich die Leseumwelt dramatisch verändert:

5. Nicht gleichermaßen dramatisch, aber überaus deutlich ist auch der Rückgang des Interesses am Deutschunterricht, am Gespräch über Bücher in der Familie und für Anschaffung von Büchern.

6. Statt 16% (1992) lesen heute nur noch 6% täglich in einem Buch. Und jeder Dritte gibt zu, eigentlich auch gar nicht mehr gründlich zu lesen, sondern die Seiten nur noch sozusagen auf der Suche nach unterhaltsamen Höhepunkten zu überfliegen. Die Leseversion des beim Fernsehen gelernten Zappens.

7. Dreiviertel der Befragten klagt über Orientierungsverlust in der zunehmenden Informationsflut - eben auch über Bücher.

8. Die 45% "Kaum- und Wenigleser", die die Studie ermittelt, sind vermutlich Vielnutzer von Fernsehunterhaltung.

Nicht überraschend für Kenner ist eine andere Zahl: Die Viel-Computer-Nutzer sind auch Viel-Leser. Dreimal so viele unterdreißigjährige Computernutzer lesen Fachliteratur verglichen mit gleichaltrigen Nichtnutzer. Und an Belletristik sind immerhin noch doppelt so viele Nutzer wie Nichtnutzer interessiert.

Diese Studie der Stiftung Lesen über Leseverhalten in einer visuell geprägten Kultur legt folgende Schlüsse nahe:

  1. Wenn nichts geschieht, werden wir es mit einer wachsenden, großen Zahl von Nicht-Lesern zu tun haben.
  2. Bei einem großen, ebenfalls wachsenden Teil, den "Fernseh-Lesern" sozusagen, wird sich das Leseverhalten gründlich ändern: von der Art der bevorzugten Bücher, dem Zeitaufwand, der Art des Lesens, selbst bis hin zur Verschiebung der Rolle von Bild- und Sprachkommunikation generell.
  3. Wir werden aber auch einen neuen Lesetyp erleben, vermutlich in wachsender Zahl, wenn wohl auch vermutlich nicht in der gesellschaftlichen Überzahl: den Internet-Leser, aufgeschlossene zunächst jüngere Menschen, die viel im Internet surfen, viele Fachbücher lesen und ein ausgeprägtes Interesse am guten Buch, an Literatur haben.

Veränderte Rolle der Bibliothek in der Öffentlichkeit

Mediengesellschaft heißt natürlich nicht nur Fernseh- und Videokultur. Das andere große Medium, das Kommunikationskultur und Lebensweisen verändert, ist das Internet. Es wird, wie sie ja alle aus ihrer eigenen Berufspraxis wissen, auch Funktion, Rolle und Stellenwert der öffentlichen Bibliotheken von Grund auf verändern. Aber wie?

Das Internet ermöglicht ja potentiell u.a. den Zugriff auf Datenbanken, Dokumente, Buch- und Zeitschriftentexte, wissenschaftliche Texte, Informationen und Nachrichten aus aller Welt vom heimischen Computer aus, verbunden mit der Möglichkeit, je nachdem mit und ohne Kosten, all das herunterzuladen und auszudrucken - je nach individuellem Bedarf. Die perfekte Verbindung von Globalisierung und Individualisierung. Das erste Buch, mittlerweile schon als ausschließliche Netzpublikation erschienen: der Autor ist Steven King, die abgesetzte Auflage am ersten Tag: 400.000.

Die Verlage bereiten sich darauf vor, diesen Testlauf in Serie gehen zu lassen. Verschwindet das Buch im Netz? Eine ernste Frage, die auch von einigen Experten mit einem teils zukunftsenthusiastischem teils melancholischem "Ja" beantwortet wird. Information konnte durch das Netz, wie in der oralen Kultur vor Erfindung der Schrift, erneut "immateriell" werden, an stoffliche Träger nicht mehr gebunden.

Horst Neißer, Direktor der Kölner Stadtbibliothek, beschäftigt sich seit Jahren intensiv in der Praxis und in der Theorie mit dem Verhältnis von Buch und Internet. Er kommt zu dem bündigen Schluss: "Die Zukunft des Buches liegt im Internet". Diese Zukunft, die ja zum Teil schon Gegenwart ist, skizziert er so:

An die Stelle des klassischen Buches tritt das E-Book, kleine handliche Leseapparate in der Form eines traditionellen Buches, die aber je nach individuellem Bedarf aus dem Internet bestückt werden und mit ihrer Speicherkapazität von bis zu 2 Millionen Seiten eine ganze Bibliothek umfassen, ohne großen Aufwand und ohne nennenswerte technische Kosten jederzeit individuell zu aktualisieren. Die einschlägigen Großkonzerne wie Bertelsmann und Sony setzen auf diese Entwicklung. In den USA sind solche rocket-books schon länger auf dem Markt, in der Bundesrepublik haben öffentliche Bibliotheken mit ihrer Ausleihe begonnen. Nun können sich die Nutzer solche Bücher ausleihen und zum dauerhaften Besitz fast kostenlos zu Hause kopieren.

Praktiziert wird ja auch bereits das book on demand, das Buch, das bei Bedarf über Internet aus elektronischen Dateien in wenigen Minuten ausgedruckt wird. Vieles mehr ist möglich, manches davon schon wirklich. Diese Liste der neuen Möglichkeiten rund um das Buch, die das Internet eröffnet, soll hier nicht vervollständigt werden.. Stattdessen soll nach einigen der wichtigsten Folgen gefragt werden und auch danach, was der Triumphzug des Internets für Information und Bildung, Demokratie und Selbstbestimmung bedeutet.

Unersetzbar: Das Buch
als Reflexionsmedium

Wenn jeder Einzelne vom Heim-Computer aus Zugang zu praktisch allen Informationen dieser Welt hat, einschließlich natürlich aller veröffentlichten Artikel und Bücher, was sollen dann noch Bibliotheken? Etwa die Heizer sein auf den E-Loks, ohne wirkliche Funktion, aber weiland von den britischen Gewerkschaften doch noch für eine lange Zeit den öffentlichen Kassen abgetrotzt?

Die Antwort auf diese Frage liegt wohl im Internet selbst. Die zugegebenen, kurzen Erfahrungen, die wir im ersten Jahrzehnt seines Triumphzuges mit ihm gemacht haben, legen - für unser Thema - vier Schlussfolgerungen nahe:

  1. Wie Umberto Eco jüngst feststellte, sind wir auf dem Weg in eine neue Art von Klassenteilung. Bisher hat das Netz zur Vertiefung der neuen Klassenteilung in zwei große Informations- bzw. Kommunikationsklassen beigetragen: Internetkundige Aktiv-Nutzer und internetunkundige Passiv-Mediennutzer, der sogenannte digital divide mit großen weitverzweigten Folgen.
  2. Im Internet erleben wir die voranschreitende Kolonisierung der neuen Medien durch die alten, kommerziellen Kommunikationskonzerne mit ihren Inszenierungs-, Unterhaltungs- und Werbetechniken.
  3. Für den Nicht-Experten wirkt das Netz mit seinen fast unendlichen Informationsangeboten - teils durch die schiere Komplexität, teils durch den vielen Müll und die fehlende Qualifikation der Information - nicht als Informationsgewinn, sondern als Desinformationslabyrinth. Er ist ohne gezielte Hilfen nur noch irritiert.
  4. Das Internet kann - im günstigsten Falle - perfekt informieren, gründlich und schnell, aber es ist kein Reflexionsmedium wie das Buch, seine Medienökologie unterscheidet sich grundlegend von der des Buches. Es macht wesentliche Erfahrungen nicht möglich, die das Buch gerade einzigartig erschließt.

Die Schlussfolgerungen aus diesen Erfahrungen für die öffentlichen Bibliotheken liegen auf der Hand. Sie müssen sich selbst, der Öffentlichkeit und den immer sparsameren öffentlichen Kassenwarten zunächst deutlich machen:

Chancengleichheit heißt aber mit bezug auf das Netz weit mehr. Horst Neißer hat dieses "mehr" - übrigens im Internet - kürzlich so formuliert:

Genau genommen müssen Bibliothekare, wenn unsere Analyse stimmt, beides sein: klassische Bibliothekare mit dem klassischen Angebot von Büchern, vielleicht technisch komplettiert durch neue Fertigungs- und Verbreitungsmethoden und eine Art Tutoren in öffentlichen Internetcafés zum Thema Buch und Information. Sie wären dann ein neuartiger Informations- und Kommunikationsmarkt, vor allem auch ein Lernmarkt mit Beratungsleistungen. Das Buch verliert zwar sein Monopol, aber nicht seine unvergleichliche Bedeutung.

Öffentliche Bibliothek in der Zivilgesellschaft

Das Bild des öffentlichen Internet-Cafés führt mich zu meinem letzten Gedankengang. Er ist der Frage nach der Rolle der öffentlichen Bibliothek in der Zivilgesellschaft gewidmet, die durch die moderne Mediendemokratie notwendiger denn je geworden ist.

Seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur in Osteuropa ist ein Sachverhalt schnell und gründlich ins öffentliche Bewusstsein getreten, der zuvor fast nur in der Wissenschaft Beachtung fand: Demokratien sind nur in dem Maße funktionsfähig, stabil und in der politischen Kultur der Gesellschaft verankert wie sie auf aktiven Zivilgesellschaften beruhen.

Zivilgesellschaften sind die Gesamtheit der Initiativen, Organisation und Vereine, Netzwerke, Foren und Aktivitäten zwischen Staat bzw. Kommune und Markt. Sie sind der Ort, an dem Bürger aus freien Stücken für das Gemeinwohl handeln, anders als am Markt nicht für Geld und anders als im Staat nicht durch Macht.

Bundeskanzler Schröder, aber ebenso Vertreter anderer Parteien, rufen seit kurzem verstärkt zur Stärkung und Intensivierung der Zivilgesellschaft in Deutschland auf. Dabei geht es nicht um eine routinemäßige Sonntagspredigt an den Bürgersinn, obgleich auch das ja keineswegs ganz deplaziert wäre. Es geht um mehr, es geht um eine Neubestimmung der politischen Arbeitsteilung von Staat und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung. Es geht also nicht um Parteipolitik, sondern um verbesserte Chancen und um mehr Verantwortung für bürgerschaftliche Selbstbestimmung außerhalb der staatlichen Institutionen.

Das hat drei gewichtige Gründe, von denen - ohne falsche Dramatik - Wohl und Wehe der Demokratie in hohem Maße abhängen:

  1. Viele Angelegenheiten lassen sich in immer komplexer werdenden Gesellschaften am besten, mitunter auch nur am besten von den Betroffenen selbst an Ort und Stelle erörtern klären und erledigen: z. B. Stadtteilentwicklung.
  2. Besonders die jüngeren Menschen in unserer Zeit sind zunehmend skeptisch, sich in großen - in ihren Augen anonymen - Organisation zu organisieren, mit undurchsichtiger Themenvielfalt, Organisationsstruktur und Wirkungsmöglichkeit, womöglich noch in der Erwartung einer lebenslangen Mitgliedschaft. Entgegen dem verbreiteten Vorurteil eines flächendeckenden Rückgangs von Gemeinsinn und Engagementbereitschaft in der individualisierten Gegenwartsgesellschaft, sind beide sehr lebendig - aber anders als wir es kannten.

Die Jüngeren suchen das konkrete, auf eine bestimmte für sie überschaubare und kontrollierbare Weise individuell zu gestaltende Engagement. Sie wollen sich in kleinen Initiativen, für einen bestimmten Zweck auf begrenzte Zeit in individuell mitbestimmter Form beteiligen und in diesem Sinne auch Verantwortung übernehmen - ihr politisches Handlungsfeld sind also nicht mehr so sehr die Parteien - sondern eben die Zivilgesellschaft.

  1. Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam hat erneut in seiner großen Studie mit dem aufschlussreichen Titel "Bowling alone" - "Alleine Kegeln" - gezeigt, dass das, was die demokratische Gesellschaft zusammenhält und Demokratie in Wahrheit ebenso wie die institutionellen Arrangements erst möglich macht, das soziale Kapital ist: ein durch unsere sozialen Kontakte, unsere Kooperation, Vernetzung, unser Engagement mit anderen zu gemeinsamen Zwecken entstehendes Kapital an Vertrauen, an Fähigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen. Soziales Kapital nun entsteht nicht durch Appelle, es erhält sich auch nicht wie eine in der Kindheit geleistete Einlage auf dem Sparkassenbuch mit fortwährender Verzinsung. Es erhält sich paradoxerweise nur, indem es verausgabt wird. Nur die Praxis der Zusammenarbeit in der Zivilgesellschaft regeneriert unser soziales Kapital.

Übrigens hat ja, wie Jürgen Habermas vor allem darlegt, schon ein wirklich verständigungsorientiertes Gespräch unter Anwesenden die gesellschaftserhaltende Wirkung, Solidarität zwischen den Beteiligten zu stiften : wie Putnam sagen würde, Sozialkapital zu mehren.

Zivilgesellschaft braucht außer Gemeinsinn auch staatliche Voraussetzungen und eine materielle Infrastruktur im sozialen Raum, in der Lebenswelt der Bürger. Dazu gehört eine bürgerfreundliche Art des Städtebaus, die Öffnung der Schulen, die Schaffung öffentlicher Begegnungs-, Versammlungs- und Kommunikationschancen, also moderne Äquivalente der Agora. Ich will nun, zumal als Außenstehender, der die Last nicht zu tragen hat, nicht auch das noch den Bibliotheken aufbürden. Ich sehe aber darin für die öffentlichen Bibliotheken eine große Zukunftschance. Sie könnten ein Teil dieser modernen Agora werden: gelegentlich, mit bestimmten - ihnen auf den Leib geschriebenen - Angeboten.

So verstehe ich das interessante Manifest "Der Beitrag der öffentlichen Bibliothek zur Stadtentwicklung" des Deutschen Bibliotheks-Instituts von 1998.

Da ist nicht nur von kommunalen Bibliotheken als Tor zum Internet die Rede, sondern ebenso von "kommunalen Bibliotheken als Nukleus sozialer Netzwerke"

Das meinte auch Klaus Hohlfeld, als er die "öffentliche Bibliothek in einer menschlichen Stadt" beschrieb, als Ort des "Austauschs, des öffentlichen Diskurses, der demokratischen Willensbildung, der gesellschaftlichen Kommunikation"; sozusagen ein kommunikatives Gegenlager gegen die Zumutungen der medieninszenierten Öffentlichkeit.

In dieser Verbindung wären die öffentlichen Bibliotheken auf dem avanciertesten technologischen Niveau, mit Blick auf die Erfordernisse der modernen Gesellschaft, in der Verbindung von Bibliothek, öffentlicher Beratung und Kommunikationsvernetzung im Zeitalter der Globalisierung an dem aufklärerisch unüberholbaren Ort wieder angelangt, von dem sie in den Lesegesellschaften der Aufklärung ihren Anfang genommen hatten. Wäre das nicht eine phantastische Perspektive für die öffentliche Bibliothek in der Mediengesellschaft?


Zum Autor

Prof. Dr. Thomas Meyer ist Wissenschaftlicher Leiter der Akademie der Politischen Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung und Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund

Universität Dortmund
z.Hd. Kristina Wied
Fachbereich 14 / Politik
Emil-Figge-Straße 50
D-44221 Dortmund