Götterdämmerung über Olympia?
25. London Online Information unter dem Schatten des 11. September

von Helmut Hartmann

Wer Anfang Dezember 2001 beim Zutritt zur London Online Information Conference and Exhibition, der weltweit größten Veranstaltung der Branche, extreme Sicherheitsmaßnahmen erwartet hatte, wurde enttäuscht: Während seit jenem ominösen Datum alle Besucher der neuen British Library in St. Pancras beim Betreten (!) der Bibliothek einer peinlichen Taschenvisitation unterzogen werden, schien der Faktor Sicherheit in der Grand Hall des Olympia Ausstellungszentrums im Londoner Westend keine besondere Rolle zu spielen - zumindest waren keine erhöhten Aktivitäten in dieser Hinsicht registrierbar. Und dennoch: etwas hatte sich verändert. Jeder, der das oft schon beängstigende Getümmel und Gedränge der Eröffnungstage der vergangenen zweieinhalb Dezennien miterlebt hatte, musste sich vor allem am ersten Tag vergewissern, ob das noch die gleiche Ausstellung, die gleiche Konferenz war, deren charakteristische Atmosphäre sich einem so unauslöschlich eingeprägt hatte. Unvergleichlich beschreibt die Metapher des englischen Wortes "buzzing" das Gefühl, in einem Bienenstock zu sein, umschwirrt von einem Gemisch von Menschen aus aller Herren Länder - AusstellerInnen, akademischen Delegierten, BibliothekarInnen, Kunden.

Zwei Tendenzen: Ausdünnung und Konzentration

Der optische Eindruck einer halbleeren Galerie der Grand Hall und eher großzügig verteilter Firmenstände im Ground Floor täuschte nicht, die Statistik bestätigte unbarmherzig die Reduzierung: Statt über 1100 zahlenden Teilnehmern im Vorjahr waren es 2001 um rund 400 weniger, allein bei den Delegierten aus den USA gab es eine Halbierung der Teilnehmerzahl! Dazu kam, dass viele Aussteller es offenbar nicht (mehr) der Mühe wert fanden, die Exhibition zu beschicken: Kenner der Szene wiesen darauf hin, dass infolge der zunehmenden Marktsättigung die Inter- und Intranet-Provider die Veranstaltung ausließen; aber auch die mangelnde Präsenz so namhafter Projekte wie etwa JSTOR oder von Anbietern wie Cambridge University Press fiel schmerzlich auf.

Neben dieser Ausdünnungstendenz war die zunehmende Konzentration festzustellen. Die berühmt-berüchtigten "Mergers", das Zusammengehen von Verlagen, das Immer-noch-größer-Werden der ohnehin schon Großen, hinterließ natürlich auch seine Spuren im optischen Erscheinungsbild der Verlagsstände - oder sollte man besser sagen Inseln? Unübersehbar das Anwachsen der Kojen-Landschaft des Elsevier-Verlags, dessen Personal den Deal mit Academic Press in London zum ersten Mal nicht mehr schamhaft verschwieg, oder die Flächenzunahme der Swets-Blackwell-Insel. Dass die Verlagsgruppe Kluwer-Wolters-Lippincott Williams & Wilkins inklusive OVID zusammengenommen mittlerweile schon ein Fünftel der Halle belegt, wundert den Beobachter da schon nicht mehr, ebensowenig die Ausdehnung von Wiley oder Springer.

Vom Informationsmanagement zur Informationsethik

Diese Tendenz der Grenzüberschreitung, des Zusammenwachsens, des Ineinander-Übergehens, die ihren Ursprung in der Unbegrenzheit der elektronischen Medien hat, setzte sich auch im Inhaltlichen fort. Gleich der erste Vortrag von Joe Battista, Direktor und "Chief Creatologist" von Compaq, zeigte dies. Er verkündete der staunenden Fachwelt den Übergang vom reinen Hardware-Spezialisten zum Produzenten eines extrem flexibel konzipierten "Knowledge-Sharing-Programms" (natürlich gleich samt dazupassender drahtloser Übertragungstechnologie und entsprechendem "handheld Organizer").

Generell standen Fragen des Informations- und Wissensmanagements im Brennpunkt der Vorträge des ersten Tags. Greg Notes von der Montana State University und Gary Price, dem Co-Autor des bei Insidern inzwischen als Stadardwerk geltenden Buchs "The Invisible Web" (Cyber Age Books, 2001), analysierten sehr präzise den Markt für WWW-Suchmaschinen und ihre Stärken und Schwächen.

Zunehmend - und dies scheint dem Berichterstatter ein weiterer Wandel zu sein - traten neben den rein technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (als Angehöriger der Geisteswissenschaften ist man versucht, ein bewertendes "endlich" einzufügen) Fragen der Informationsethik in den Vordergrund. Wenngleich es primär in den Vorträgen darum ging, wie denn politisch-rechtlich mit illegalen und schädlichen Inhalten umgegangen werden solle und welche Rolle den Angehörigen der Informationsberufe dabei zukommen könne, wurde doch ein gewisses Maß an Reflexion über anzuwendende Prinzipien sichtbar. Als Beispiele seien hier folgende Vorträge genannt: Massimo Garribba, European Commission, "The eContent programme: European digital content on global networks" sowie Iain Middleton und Mike McConnell, Aberdeen University, "Rationalism versus incrementalism: two opposing or complementary strategies for effecting change in HEI web development".

Lern-Netzwerke

Diesem Themenkreis war im Wesentlichen der zweite Tag gewidmet. Dabei tauchte im Titel des Vortrags von Christine Tovote von der UB Stockholm der Begriff der "Information Literacy" auf, der von ihr als Gelegenheit und Herausforderung aller in der Informationsvermittlung Tätigen gesehen wird. Eindrucksvoll berichtete sie von ihren Erfahrungen beim Aufbau des "Learning Resource Center" der neu gegründeten Universität Malmö. Sie berichtete davon, wie im Rahmen dieses Projekts BibliothekarInnen in der Betreuung der StudentInnen pädagogisch tätig werden und wie damit das ständig der Konkurrenz allzugroßer Technologielastigkeit ausgesetzte genuin diadaktische Moment jeder effizienten Informationsvermittlung wieder in seine angestammten Rechte treten kann.

Selbstverständlich bleibt ein derartiges Thema nicht auf den akademischen Bereich beschränkt und so gab es weitere interessante Vorträge aus dem Bereich der Industrie, dem Gesundheitswesen und von Regierungsstellen. So etwa über " Information management in the Canadian Government Online Initiative" oder "Training when your staff are based in Baghdad, Berlin, Paris or Poughkeepsie..." oder " Evidence based medicine - the role of the National electronic Library for Health". Ihnen allen gemeinsam war eine starke Betonung des nahezu bedingungslosen Einsatzes regionaler, nationaler, ja globaler Netze als Voraussetzung, das gesamte Potential an pädagogischer Informationskompetenz an die Kunden so unkompliziert und niederschwellig wie möglich heranzuführen.

E-Bücher

Man musste nicht bei der vom Springer-Verlag äußerst zeremoniell gestalteten Präsentation der Online-Version des "Landolt-Börnstein" im London Hilton am Vorabend der Konferenzeröffnung gewesen sein, um die Bedeutung dieser Datenbank der Naturwissenschaften und Technologie zu schätzen. Mit ihren rund 300 eingearbeiteten Bänden und 140.000 Seiten , die (nicht billig, rund 45.000 € pro Jahr) unter der URL http://www.landolt-boernstein.com abonniert werden können, mag sie als spektakulärstes Beispiel der immer weiter fortschreitenden Volltext-Digitalisierung gelten.

Dazu kommt, dass nach US-Anfängen bei der Digitalisierung von Monographien (RocketBook und Net-Library) nunmehr im wissenschaftlichen Sektor sowohl OVID als auch Wiley massiv mit digitalisierten Handbüchern und Monographien auf den Markt drängen.

Wiley bietet seine für 2002 geplanten Monographien in drei "Bibliotheken" an: "The Chemistry Library" mit 58 Titeln, "The Life and Medical Sciences Library" mit 68 Titeln und "The Electrical Engineering and Telecommunications Library" mit 169 Titeln. Jede dieser "Bibliotheken" ist wiederum in drei "Sammlungen" unterteilt, die gleichzeitig die kleinsten Lizenz-Einheiten darstellen. Ein Erwerb der Titel im klassischen Sinn ist nicht möglich, die Sammlungen werden gewissermaßen Jahr für Jahr "gemietet", wobei die lizenzierte(n) Kollektion(en) jährlich gewechselt werden kann/können, ohne dass man den Zugang zu der/den Sammlung(en) des Vorjahres verliert. Kommt es zu einer Verlängerung ohne Wechsel der Kollektion(en), so ist eine jährliche Verlängerungsgebühr von 10% der Erstlizenz zu bezahlen.

OVID startet mit rund 70 Titeln aus den Fachgebieten Medizin, Krankenpflege, Ernährungswissenschaften und Drogenkunde. Besonders stolz ist man dort auf die Digitalisierung des "Oxford Textbook of Medicine", das auch gleichzeitig die Richtung dieser neuen Generation von Online-Volltext-Medien weist. Grundlegende Nachschlagewerke und Lehrbücher werden in Zukunft verstärkt in elektronischer Form angeboten werden, sind doch die Vorteile evident: Den Benutzerinnen werden praktisch immer nur die neuesten Auflagen zur Verfügung stehen, angereichert durch online publiziertes Supplement-Material und ausgestattet mit allen Merkmalen elektronischer Volltextmedien, die man bisher nur von elektronischen Zeitschriften und Datenbanken kannte: elaborierte Suchstrategien, nahtlose Verlinkung zu referenzierten Werken, externen Datenbanken und Webseiten, Einschluss jedweder Art von Non-Book-Materials und schließlich wohl auch ein gewisses Maß an Interaktivität beim Gebrauch von Formeln und Übungsbeispielen, wie das zum Beispiel der Dubbel-Interaktiv, das vom Springer-Verlag produzierte elektronische Handbuch für Maschinenbauer seit zwei Jahren vorzeigt. Dass damit auch eine Lösung des leidigen Problems der beständigen kostenintensiven Bestandserneuerung herkömmlicher Lehrbuchsammlungen samt der damit verbundenen Platzfrage und diversen Benutzungsproblemen in Sicht sein könnte, sollte den Ein- bzw Umstieg für die Bibliotheken nicht allzu schwer machen, vorausgesetzt die Preisgestaltung durch die Verlage lässt hier genug Spielraum.

Im Fall von OVID liegt dem Berichterstatter noch kein Angebot vor, für das Angebot der Firma Wiley läuft an der UB Graz, der UB Innsbruck und der ZBMed in Wien ein für drei Monate anberaumter Test. Über die dabei gemachten Erfahrungen wird noch gesondert zu berichten sein.

E-Zeitschriften

Nicht ganz so spektakulär verläuft die Entwicklung im Bereich der E-Zeitschriften, da hier der Haupt-Innovationsschub doch schon etwas zurückliegt. Generell ist festzustellen, dass im Gegensatz zu früheren Jahren die Verlage nicht mehr so sehr durch Quantität bei ihren Kunden zu punkten versuchen als durch Qualität. Darunter fällt die immer perfekter werdende gegenseitige Verlinkung durch das DOI-basierte CrossRef-Projekt mit über 100 teilnehmenden Verlagen und der Ausbau der Verlagsplattformen zu immer leistungsfähigeren Portalen mit ausgeklügelten Suchmaschinen, integrierten Datenbanken und personalisierten "Handapparaten" für die einzelnen BenutzerInnen. Besonderes Interesse erweckte schon während der Ausstellung die von Elsevier vorgestellte Suchmaschine Scirus, die etwa 70 Mill. wissenschaftliche Webseiten enthält, weiters die Volltexte von ScienceDirect, IDEAL sowie Beilstein Abstracts, Medline Zitate und schließlich die Patente des US Patent Office.

Nachdem SwetsBlackwell in den letzten zwei Jahren genügend Arbeit mit der Bewältigung des Zusammengehens der beiden Häuser hatte (man denke an den Bau der gemeinsamen SwetsNetNavigator-Plattform), entdeckte man 2001 sein Herz für die BibliothekarInnen und stellte auf der London Online das neue web-basierte Abonnementverwaltungstool SwetsWise vor, das Katalog, Bestell- und Liefersystem in einem ist. Da es allerdings zum Zeitpunkt der Ausstellung nur für das Vereinigte Königreich freigegeben war und der Start für Kontinentaleuropa erst für 2002 vorgesehen war, konnte noch kein genaueres Urteil hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit gewonnen werden.

Nicht ganz so bemüht gehen die Verlage hingegen mit den finanziellen Sorgen der bibliothekarischen Zunft um. Wenngleich eine gewisse Bereitschaft besteht, im Rahmen von zwei- bis dreijährigen Konsortialverträgen Deckelungen der jährlichen zu erwartenden Preissteigerungen zu gewähren, bleibt mit Bedauern zu registrieren, dass die freie Online-Lizenz bei bestehendem Printabo immer mehr zum Ausnahmefall wird. Die oft nicht unbeträchtlichen Mehrkosten können allerdings durch Cross-Access-Nutzung innerhalb eines Konsortiums gemindert werden. Alternativ bieten immer mehr Verlage die reine Online-Lizenz zu 90 Prozent des Print-Preises an, zu der dann nach dem ursprünglich von Academic Press ins Spiel gebrachten "Deep Discount Modell" Print-Abos zu 25 Prozent des Normalpreises dazugekauft werden können. Zum Teil ist aber mit diesem Modell die Auflage verbunden, mindestens 50 Prozent der bestehenden Abos auf das neue Verrechnungsmodell umzustellen, das noch dazu durch die in Deutschland und Österreich bestehende Mehrwertsteuerregelung für E-Medien unterm Strich kaum einen Gewinn bringt.

Die Zukunft wissenschaftlichen Publizierens

Das alles wird aber nichts daran ändern - wie die Referenten des letzten Tages sehr überzeugend ausführten - dass wissenschaftliches Publizieren und Online-Medien in Zukunft noch viel mehr miteinander verquickt sein werden als man sich das heute vorzustellen vermag. Die technischen Möglichkeiten und die Gewöhnung der BenutzerInnen an die Perfektion der elektronischen Informationssuche geben gleichsam von beiden Polen der Informationswelt ein Kraftfeld vor, das die Ausrichtung nur in eine Richtung zulässt.

Für ersteren Pol mag das Referat von Ed Pentz, dem Executive Director von CrossRef, stehen, der nicht nur die bisherige technische Entwicklung des Projekts anschaulich darstellte, sondern auch das weitere Potential skizzierte: die Ausweitung des referenzierten Materials auf Konferenzprotokolle, Nachschlagewerke, Monographien und Subject Portals ist in allernächster Zeit zu erwarten. Die Rolle der Kunden hingegen, die mit ihrer Akzeptanz des neuen Mediums für die Unumkehrbarkeit der Entwicklung sorgen, wurde von Carol Tenopir von der University of Tennessee analysiert. Wenig erstaunlich für die Fachwelt ergab die Studie folgende Tendenzen: zunehmende, hoch evaluierte Nutzung der von der Bibliothek zur Verfügung gestellten Online-Journals durch die Wissenschaftler, Abnahme der persönlichen Abonnements, vorwiegendes Interesse an Artikeln der letzten beiden Jahre, ohne dass aber ältere vernachlässigt würden.

Schlusswort

Einmal mehr ist trotz aller am Anfang dieses Berichts erwähnten Einschränkungen die London Online Information Conference and Exhibition ihrem Ruf als wichtigster Umschlagplatz für Waren und Ideen in der Online-Welt gerecht geworden. Wo sonst gibt es für den "Information Professional" eine Möglichkeit, in knappen drei Tagen einen Überblick über die neuesten Entwicklungen zu gewinnen, mit den wichtigsten Firmen ins Gespräch zu kommen und dazu noch einer Fülle von Fachvorträgen beizuwohnen, die bereits zu Konferenzende in den Proceedings in Printform oder wenig später unter http://www.online-information.co.uk/proceedings/ nachzulesen sind? Es ist also zu hoffen, dass dem heurigen 25-Jahr-Jubiläum der Veranstaltung noch weitere folgen.


Zum Autor

Helmut Hartmann ist Referent für elektronische Zeitschriften an der

Universitätsbibliothek der Karl-Franzens-Universität Graz
Universitätsplatz 3
A-8010 Graz
E-Mail: helmut.hartmann@uni-graz.at