Burke, Peter:
Papier und Marktgeschrei: Die Geburt der Wissensgesellschaft


- Berlin - Verlag Klaus Wagenbach, 2001. 317 S.
ISBN 3-8031-3607-5, DM 48,00

"Das vorliegende Buch basiert auf einem vierzigjährigen Studium frühneuzeitlicher Texte wie auf Werken der Sekundärliteratur." (S. 7) Diese Publikation wird m.E. neben dem Buch über die Renaissance in Italien (1) der zweite Klassiker des 64jährigen Kulturwissenschaftlers Peter Burke.

Burke untersucht die Veränderungen des Wissens in einem Zeitraum von 300 Jahren - von der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg 1450 bis zum Erscheinen von Diderots "Encyclopédie" 1750. Im Mittelpunkt steht die Erkenntnis, dass das neue Wissen, das sich nach der Erfindung des Buchdrucks schneller und leichter verbreitete, standardisiert wurde und schwerer kontrolliert werden konnte und damit zwangsläufig zu neuen Strukturen führte. Burke gibt Antworten auf die Fragen "Welches Wissen, welche Informationen wurden wie, von wem und in welchen Zusammenhängen verbreitet und genutzt? Wer hatte ein Interesse an der Verschleierung von Wissen, an der Unterdrückung von Informationen, und warum?" (Klappentext)

Am Beginn steht eine kurze "Soziologie und Geschichte des Wissens" mit Ergebnissen der Wissenssoziologie, allerdings ohne Verweis auf die Arbeiten der russischen Wissenssoziologen (2), die sich zwar auf Derek de Solla Price und John D. Bernal beziehen, aber durch umfangreiche eigene Untersuchungen ergänzt und bereichert wurden.

Nach Burke entwickelte sich das Wissen in Abhängigkeit von geographischen Faktoren und wurde durch Ordnungssysteme, Bildungsinstitutionen (Schulen und Universitäten) und -organisationen (Akademien), technische Neuerungen, Entdeckungen (Amerika) und religiöse Gegebenheiten (Reformation) verändert. Diese politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ereignisse sorgen für eine Wissensexplosion, die die Gesellschaft weiter umgestaltet.

Burke beschäftigt sich vorrangig mit den Veränderungen in der Lehre, Organisation, Lokalisierung, Klassifizierung, Kontrolle und Zuverlässigkeit des Wissens sowie mit dem Verkauf und Erwerb des Wissens. Die Ausführungen bestechen allein schon durch den Kontext aller mit dem Wissen verbundenen Institutionen wie Schulen und Universitäten, Verlage, Druckereien, Buchbindereien und Buchhandlungen, Bibliotheken, Museen und Archive sowie der entsprechenden Berufe.

So werden auch das Bibliothekswesen und die Bibliographie aus anderer als gewohnter Sicht interdisziplinär dargestellt, in Kontext mit dem Wissen und der Entwicklung der Gesellschaft. Das bezeugen

  1. die Abschnitte von der "Geographie der Bibliotheken" (S. 84-88), der "Ordnung der Bibliotheken" (S. 114-115) und der "Neuordnung der Bibliotheken" (S. 125-128. S. 125: "Auch in den Bibliotheken ging es um eine neue Systematik. Das lag zum Teil an den Veränderungen in der Organisation der Universitäten, zum Teil aber auch an der Bücherschwemme, die auf die Erfindung des Buchdrucks folgte und die manchen Gelehrten beunruhigte.")
  2. Kapitel VIII. "Wissen erwerben: Die Rolle des Lesers" (S. 207-228; hier fehlt allerdings die seit dem 16. Jahrhundert emsig an europäischen Schulen und Universitäten betriebene Hodegetik, Propädeutik und/oder Isagogik als Wegweisung für die Schüler und Studenten).
Mit der Beantwortung der Fragen, wann, warum und wie das neue Wissen seinen Weg in die Köpfe der Menschen gefunden hat, siedelt Burke den Beginn der Wissensgesellschaft um 1450 an. So kann dieses Buch durchaus jenen gewidmet werden, die leichtfertig und oberflächlich von der Geburt einer Wissensgesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts schreiben.

"Papier und Marktgeschrei" ist eine Bereichung der wissenschaftshistorischen Literatur. Es ist ein Grundlagenwerk, brillant geschrieben und unterhaltsam zu lesen. Es sollte zur Pflichtlektüre für alle angehenden Bibliothekare, Informationsfachleute, Verleger und Buchhändler werden. Es ist ein Ansatz, der zur Wiederbelebung des Lehrfaches Wissenschaftskunde in der Aus- und Fortbildung des Bibliothekars führen könnte.

Abschließend hätte Burke den Schriftsteller Barnaby Rich - seinen Landsmann und einen Zeitgenossen von William Shakespeare, der diesen auf den Gedanken des Stoffes zu "Was ihr wollt" brachte - zu Wort kommen lassen können, der 1613 schrieb: "Eine der Krankheiten dieser Zeit ist die Vielzahl von Büchern; sie überladen die Welt so sehr, dass man die Menge der eitlen Ideen nicht mehr verdauen kann, die jeden Tag ausgebrütet und in die Welt gesetzt werden."(3)


Anmerkungen

1. Burke, Peter: Die Renaissance in Italien: Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung. Berlin, 1998. 336 S.

2. Dobrov, G.M.: Wissenschaft: Grundlagen ihrer Organisation und Leitung. Berlin, 1980. 512 S. - Vgl. auch: Grundlagen der Wissenschaftsforschung. Berlin, 1988. 465 S.

3. Vgl. Bonitz, Manfred: Wissenschaftliche Forschung und wissenschaftliche Information. Berlin, 1979. S. 12. Nach: Solla Price, Derek da: Little science, big science. New York, 1963. S. 63. - Zu Leben und Werk von Rich s.: Cranfill, Thomas M.: Barnaby Rich: a short biography / Thomas M. Cranfill; Dorothy Hart Bruce. Austin, 1953. 135 S.


Anschrift des Rezensenten:
Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
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