von Max Furrer
Der diesjährige Deutsche Bibliothekartag fand vom 9. bis zum 12. April 2002 in Augsburg statt - nach 1970 und 1987 zum dritten Mal in der
Fuggerstadt. Der Bericht geht über die Schilderung aktueller
Diskussionen hinaus, werden doch die beiden Tagungen von 1987 und
2002 punktuell miteinander verglichen. Neben Eindrücken und
Erinnerungen beruht die Gegenüberstellung hauptsächlich auf
den damals gesammelten und den im April 2002 abgegebenen
Tagungsunterlagen.
Hybrid-Bibliothek - ein neues Modell?
Gleich zur Tagungseröffnung forderte Wolfgang Frühwald, früherer Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, heute Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung sowie Lehrstuhlinhaber für Neuere Deutsche Philologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, in seinem profunden Vortrag "Gutenbergs Galaxis im 21. Jahrhundert - die wissenschaftliche Bibliothek im Spannungsfeld von Kulturauftrag und Informationsmanagement" zum Umdenken auf, da sich eine problematische Entwicklung abzeichne: die "Hybrid-Bibliothek" der Zukunft. In den "Empfehlungen zur digitalen Informationsversorgung durch Hochschulbibliotheken" (2001) des Wissenschaftsrats wird die "Hybrid-Bibliothek" als Anbieter von gedruckten wie digitalisierten Publikationen und Informationsquellen charakterisiert. Frühwald steht diesem neuen Modell in der Bibliothekslandschaft skeptisch gegenüber, da er eine ungünstige Schwerpunktverschiebung von der Erfüllung eines langfristigen Kulturauftrags zum flüchtigen Informationsservice befürchtet. Die Bibliothek müsse sich tatkräftig als Vermittlungsinstanz für bildendes Lesen definieren und erst sekundär modernes Informationsmanagement betreiben wie Beschaffung, Präsentation und Vermittlung digital gespeicherten Wissens. Angesichts der ernüchternden Ergebnisse der PISA-Studie müsse Leseförderung das wichtigste Anliegen darstellen, wobei das Lesen keineswegs als reine Arbeits- bzw. Kulturtechnik zu verstehen sei. Die große - vielleicht auch verkannte - Bedeutung der Lesekompetenz liege darin, dass sie für den Wissenserwerb fundamental und darüber hinaus mit der mathematischen bzw. naturwissenschaftlichen Grundbildung eng verknüpft sei. Frühwald fordert die Bibliotheken nachdrücklich auf, sich dieser zentralen Aufgabe zu widmen. Für Bibliothekarinnen und Bibliothekare bedeutet es zweifellos eine hohe berufliche Verpflichtung, zum Erlernen alter und neuer Kulturtechniken beizutragen, das heißt, Lese- wie auch Medien(nutzungs-)kompetenz zu vermitteln.
Rhetorisch beeindruckend bettete Frühwald seine Ausführungen in kräftige sprachliche Bilder ein und spitzte die Argumentationsgänge mit trefflichen Zitaten aus Werken u.a. von Hugo Loetscher und Thomas Hürlimann zu. Der Stellenwert der Bibliothek in Vergangenheit und Zukunft liege nicht nur im Aufbewahren und Vermitteln von Wissen und Informationen, sondern darüber hinaus diene sie als Zufluchtsort ("Bücherarche") und Ort der Selbstfindung, worauf gerade die genannte kulturkritische Literatur verweise. In diesem Sinne wirke die Bibliothek psychohygienisch - gemäß Portalinschrift der St. Galler Stiftsbibliothek - als "Psychesiatreion", als "Heilstätte für den Geist" oder "Seelenapotheke".
Das von Frühwald eingeleitete Thema "Hybrid-Bibliothek" bildete den
Tagungsabschluss mit der Podiumsdiskussion "Die Hybride
Bibliothek: Herausforderung, Chance, Utopie?" Während
zuerst um Begriffsklärungen gerungen wurde ohne Einigkeit zu
erzielen, verlor sich die Gesprächsrunde bald in weitschweifigen
Ausführungen oder marginale Einzelheiten. Inwieweit das neue,
vom Wissenschaftsrat unterstützte Modell der Hybrid-Bibliothek
tatsächlich einen sogenannten "Paradigmenwechsel" -
was generelle Neuausrichtung und grundsätzliches Umdenken meint
- in der Bibliothekslandschaft bedeuten könnte und als
Herausforderung künftig ernst zu nehmen ist, blieb offen.
Umdenken
Ob Zufall oder nicht, Wolfgang Frühwald hatte vor genau 15 Jahren - anlässlich des 77. Deutschen Bibliothekartags 1987 - in seinem Vortrag "Der Bücherberg und das System wissenschaftlicher Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland oder von der Zumutung des Umdenkens" ein Thema aufgegriffen, das damals die bibliothekarische Diskussion bestimmte. Angesichts der beklagten Publikationsflut - als Thema offensichtlich ein Dauerbrenner - forderte er die Abkehr vom Bestreben der Bibliotheken, unbegrenzt zu wachsen - ganz im Einklang mit den damaligen Empfehlungen des Wissenschaftsrats. "Resource sharing" lautete in der Frage des künftigen Magazinbedarfs die Losung gemäß dem (später gescheiterten) Konzept der "self-renewing-library" und die Überlegungen gipfelten im Vorschlag, in Deutschland "etwa 10 bis 12 Archivbibliotheken zu gründen, deren Bestände unbegrenzt wachsen, [und] in die selten genutzte Materialien anderer Bibliotheken auch über die Ländergrenzen hinweg abgegeben werden sollen".
Das Projekt "Speicherbibliothek" wird wohl bald ad acta gelegt werden
wie das Beispiel Bochum beweist. Magazinbau bzw. -erweiterungen und
Archivierung bilden jedoch weiterhin Gegenstand der Fachdiskussion
(vgl. UB Bonn) - trotz der irrigen Vorstellung, das papierlose
Büro und damit verbunden das Zeitalter des sinkenden
Papierverbrauchs sei angebrochen. Unter neuen Prämissen wurde im
Themenkreis 37 "Bauen in Zeiten der digitalen Publikationen?
Aktuelle Neubauten im Spiegel der Empfehlungen des Wissenschaftsrats
zur digitalen Informationsversorgung" die erwähnten
Fragestellungen aufgegriffen. Das erfolgte Umdenken geht aus den
Ausführungen zur "Digitale[n] Informationsversorgung im
Neubau der Universitätsbibliothek Greifswald" hervor: "Der
im Herbst 2001 eröffnete Neubau der Universitätsbibliothek
... basiert auf einer vom Wissenschaftsrat im Sommer 1996 zustimmend
zur Kenntnis genommenen Konzeption, die zum Ziel hatte, den Wandel
von einer geschlossenen Magazinbibliothek hin zu einer offenen
Bibliothek mit großen, für das Publikum frei zugänglichen
Buchbeständen zu schaffen; ..." (Siehe dazu auch den
Reportagen-Beitrag über den Neubau der Zentralbibliothek der Ernst-Moritz-Arndt-Universität zu Greifswald von Robert Klaus Jopp in diesem Heft.)
92. und 77. Bibliothekartag im punktuellen Vergleich
Fünfzehn Jahre Bibliotheksentwicklung liegen zwischen den beiden Augsburger Bibliothekartagen, und der Vergleich der heutigen Kongressdokumente
mit denjenigen von 1987 wirft Fragen nach Entwicklung, Fortschritt,
Umdenken auf und spiegelt Aspekte des eingetretenen beruflichen,
technologischen und gesellschaftlichen Wandels.
Themenspektrum
Das Kongressprogramm 1987 belegt deutlich das Bestreben, thematische Schwerpunkte zu setzen. Fragen der Erwerbung und Erschließung standen ebenso zur Behandlung an wie landesbibliothekarische Aufgaben, Probleme der Zusammenarbeit in den Verbünden, Angebote zentraler Dienstleistungen oder Planungen im EDV-Bereich. So wies Yorck Haase, Vorsitzender des VDB, in seinem Vorwort "Einladung" auf einen besonderen Punkt hin, der - wie bereits ausgeführt - von Wolfgang Frühwald aufgegriffen wurde: "Im Rahmen der Diskussion um die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Magazinbedarf wird das Thema Speicherbibliotheken besonderes Interesse finden. Die brisanten Probleme der Erhaltung gefährdeter Bestände werden von kompetenter Seite dargestellt".
Das Programm mit acht Themenkreisen von 1987 ermöglichte einen einfachen Überblick über das Angebot (Umfang 28 Seiten + 23 Seiten Rahmenprogramm + 28 Seiten Gastronomie-Verzeichnis), während 2002 das umfangreiche Büchlein im taschenfreundlichen Format eindeutig mehr zeitlichen Aufwand zur Lektüre erfordert, um sich den Durchblick zu verschaffen (Umfang 144 Seiten):
So stehen den acht Themenkreisen (1987) mit 36 Referaten 42 aufgelistete Themenkreise (2002) mit 167 Referaten gegenüber.
Die 42 Themenkreise - neben 62 Arbeitssitzungen und 25 Firmenvorträgen - können in den gegenwärtig noch leicht beschaffbaren Unterlagen nachgesehen werden. An dieser Stelle werden diejenigen Themen herausgehoben, die neu sind oder erst in den letzten Jahren an Virulenz gewonnen haben (Formulierungen aus dem Tagungsprogramm 2002):
Keineswegs überrascht, dass sich drei besondere thematische Schwerpunkte abzuzeichnen beginnen:
Wenn überhaupt von "Paradigmenwechsel" gesprochen werden kann, so betrifft dies neue Themen wie Qualitätsmanagement, Ranking, Leistungsmessung, die vor allem die öffentlichen als auch die wissenschaftlichen Bibliotheken betreffen und in engem Zusammenhang mit dem Bestreben ausgeprägter Kundenorientierung stehen. Erstmals taucht die Frage nach der "Wirkung" von Bibliotheken auf: "Die Leistung von Bibliotheken wird derzeit meist in Output-Grösßen bewertet ... Qualitätsindikatoren bewerten Schnelligkeit, Korrektheit und Akzeptanz der gebotenen Leistungen und den effizienten Ressourceneinsatz. Zusätzlich kann durch Umfragen die Benutzerzufriedenheit mit den Dienstleistungen der Bibliothek ermittelt werden.
Bei all diesen Erhebungen wird vorausgesetzt, dass starke Nutzung der
Dienste und hohe Zufriedenheit der Benutzer auch einen Wirkungsgrad
der Bibliothek andeuten" (Kurzreferatband 2002; Seite 162).
Tagungskonzept
Das Konzept - das "Strickmuster" - der Deutschen
Bibliothekartage ist weitgehend gleichgeblieben. Stets wird eine
variierende Anzahl von Themenkreisen mit einer unterschiedlichen
Anzahl von Referaten angeboten. Hier liegen sowohl Stärke wie
Schwäche der Anlässe. Die überaus breite Palette
bietet jedem Teilnehmenden ein Angebot, doch wirken die unter einem
Themenkreis zusammengestellten Beiträge oft inhomogen und
zufällig, was sich auf die Qualität der Diskussion im
Auditorium eher ungünstig auswirkt. Überlegungen in
Richtung einer verbesserten Qualitätssicherung in Auswahl und
Präsentation wären deshalb sinnvoll.
Tagungsmotti
"Die bibliothek zwischen autor und leser", das diesjährige Kongressmotto benennt ein weitreichendes Spannungsfeld, das die gesamte Publikationskette und die Interdependenz der an diesem Prozess Beteiligten umfasst. Die Schreibweise des biederen Leitsatzes in Kleinbuchstaben dürfte wohl etwas dem Zeitgeist geschuldet sein. Falls sich Problemlagen eines Berufsstandes an Tagungsmotti ablesen lassen, so kann die Formulierung kaum über die Tatsache täuschen, dass die Zeiten düsterer Zukunftsaussichten für Bibliotheken und ihrer grundsätzlichen Herausforderung durch den elektronischen Wandel keineswegs vorüber sind. Eingedenk der diskutierten problemgesättigten Themen vergangener Jahre wirkt der Leitsatz von 1987 ausgesprochen nüchtern: "Lokale, regionale und überregionale Aufgaben wissenschaftlicher Bibliotheken". Darin drückt sich eine institutionenzentrierte Perspektive aus, während die heutige Maxime der "Kundenorientierung" oder der Ausrichtung nach Nutzerbedürfnissen eine effektive Neuausrichtung bedeutet.
In den jeweils leicht modifizierten Untertiteln früherer Kongresse, "Arbeits- und Fortbildungstagung der Bibliothekare an wissenschaftlichen Bibliotheken", steckt ein sprachliches Detail, das Wandel signalisiert. Seit 1996 heißt die Formulierung "Arbeits- und Fortbildungstagung der Bibliothekarinnen und Bibliothekare" - im Jahre 1995 noch "Bibliothekar/innen" - und seit 2002 mit dem Zusatz "in Deutschland". Diese Formulierungen spiegeln eine Entwicklung wider, die in den letzten 15 Jahren unverkennbar stattgefunden hat: Der Anteil von Frauen in leitenden Funktionen sowie als leitende Direktorinnen in wissenschaftlichen Bibliotheken hat erheblich zugenommen.
Die Frage stellt sich, ob der obsolete Begriff "Fortbildung"
bald durch den zeitgemäßeren der "Weiterbildung"
ersetzt werden wird.
Kongressunterlagen und abgegebene Dokumente
Der Vergleich der verteilten Unterlagen zeigt deutlich: Das graphische Gewerbe und die Druckindustrie haben sich in technischer Hinsicht enorm entwickelt.
Die graphische Gestaltung der Unterlagen von 1987 wirkt dem damaligen Standard entsprechend und bedingt durch den überwiegenden Einfarbendruck sachlich, nüchtern, informativ. Das farbig gestaltete Kongressprogramm 2002 besticht im Trend der Zeit durch das professionelle Konzept und den Einsatz von Piktogrammen und weiteren Orientierungshilfen.
Der markanteste Unterschied liegt jedoch in den früher erst
anlässlich von Veranstaltungen abgegebenen Handzetteln mit den
"Kurzfassungen zu den Vorträgen", die 1987 sowohl in
Offsetdruck bzw. gar noch im Vervielfältigungsverfahren (man
erinnert sich) erstellt und bei großem Publikumsinteresse in
meist nicht genügender Anzahl zur Verfügung standen. So ist
der den Tagungsunterlagen 2002 beigelegte handliche
Kurzreferate-Band, 204 Seiten zählend, ein nützliches
Informationsmittel, um sich für eine Veranstaltung zu
entscheiden oder - bei Verhinderung - sich ein ungefähres
Bild vom behandelten Inhalt zu verschaffen.
Fakten und Impressionen
Der 77. Bibliothekartag als Veranstaltung des VDB und VdDB verzeichnete insgesamt 1496 Teilnehmende (mit der schreibmaschienengeschriebenen Nachmelder-Liste), davon 74 aus dem Ausland. Am 92. Bibliothekartag 2002 des VDB und BIB waren gemäß offizieller Bekanntmachung in den "Kongress news 4" insgesamt 2598 Teilnehmer, davon 198 Gäste aus dem Ausland und 169 Firmen anwesend. Vergleicht man die beiden Namensverzeichnisse von 1987 und 2002, so findet man immerhin 220 Personen, die sich sowohl für den 77. als auch für den 92. Kongress angemeldet haben.
Ein Phänomen vermag im Auditorium stets Heiterkeit auszulösen: die heute noch gehäuft auftretenden Probleme im Umgang mit Mikrophonen bzw. der Lautsprecheranlage - beim heutigen Stand der Technik eher peinlich. Ebenso ärgerlich ist die Tatsache, dass bei Präsentationen - genau wie 1987 - die von hinteren Sitzplätzen aus unlesbaren Texte und Tabellen auf Hellraumprojektorfolien immer noch nicht verschwunden sind.
Hingegen sind Schwierigkeiten mit neuen Präsentationsmedien wie PC und Powerpoint-Vorführungen in Kenntnis nichtplanbarer Inkompatibilitäten von Hard- und Software durchaus nachvollziehbar.
Der 77. Bibliothekartag - terminlich noch ganz der Tradition früherer Pfingstwochen folgend - fand vom 9. bis zum 13. Juni 1987 in den Räumlichkeiten sowohl der alten als auch der neuen Universität statt und ist durch die sommerlich angenehmen, ja teils heißen Tage in Erinnerung geblieben. Diese Verhältnisse erlaubten auf den Wiesen der Campus-Anlage zu picknicken, zu plaudern oder auszuruhen, während 2002 der wenig frühlingshafte, teils bissigkalte Wind kaum zu Aufenthalten im Freien verlockte.
Und das Wichtigste zum Schluss - der Vergleich der Tagungsgebühren:
1987 | DM 30,- für Mitglieder | DM 45,- für Nichtmitglieder | DM 18,- Tageskarte |
2002 | Euro 50 für Mitglieder | Euro 80 für Nichtmitglieder | Euro 25 Tageskarte |
Max Furrer leitet das Informationszentrum der Pädagogischen Hochschule Zürich (in Gründung)
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