Die Zukunft des wissenschaftlichen Publizierens:
Der Wissenschaftler im Dialog mit Verlag und Bibliothek


Jülich, 28.-30.11.2001. Tagungsprogramm und Vorträge
- Jülich: Forschungszentrum, Zentralbibliothek, 2002
(Schriften des Forschungszentrums Jülich. Reihe Bibliothek; Band 10)
ISBN 3-89336-294-0

Der Band dokumentiert eine Tagung, die zum 40jährigen Bestehen der Bibliothek des Forschungszentrums Jülich stattfand. Als Einführung in das Tagungsthema skizziert ihr Leiter, Rafael Ball, in seiner Begrüßung die Entwicklung des wissenschaftlichen Publizierens und die Funktion der Bibliothek in der Kommunikation der Wissenschaftler, deren Bedürfnissen und Interessen diese Konferenz gewidmet sei. Auch Detlev Stöver, der Vorsitzende des Wissenschaftlich-Technischen Rates der Forschungszentrum Jülich GmbH, unterstreicht in seinem Grußwort am Beispiel der gastgebenden Einrichtung die Bedeutung auch einer noch jungen Bibliothek. Eine Art historische Einleitung gibt auch Georg Ruppelt, der Sprecher der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände, mit Ausführungen zum Verhältnis zwischen Autor und Verleger. Den Zugang eines modernen Wissenschaftlers zu dem Gegenstand repräsentiert Ernst Pöppel mit seinem Festvortrag "Was ist Wissen?" und erläutert, wie Wissen die Wissensgesellschaft bestimmt.

Die erste Sektion der Konferenz sollte einen "Blick hinter die Kulissen des Verlages" vermitteln. Leider gelingt dies im Tagungsband noch weniger als auf der Konferenz selbst, bei der Verleger und Verlagsvertreter deutlich in der Minderheit waren. Der erste Vortrag von Derk Haank, Elsevier Science B. V., ist leider nicht publiziert, und der Beitrag von Arnoud de Kemp, Springer-Verlag, gibt nur die screen shots der Präsentation zu seinem Vortrag "Finanzierungskonzept einer Zeitschrift: Strukturen, Mechanismen" wieder. Daran wird erkennbar, dass die redaktionelle Steuerung und technische Bearbeitung der bei einer Zeitschrift eingereichten Aufsätze personal- und kostenintensiv ist. Die eigentlich interessanten Aussagen und Botschaften zur Struktur des Informationsmarktes und den daraus resultierenden Aufgaben und Zielsetzungen eines Verlages, etwa zur Vernetzung der Ressourcen, bleiben dem Leser unbekannt. Der zweite Beitrag in dem Verlagskapitel handelt schon wesentlich von den Interessen des Wissenschaftlers. Madeleine Schröter, Hannover, analysiert und erläutert den "(Copyright-)Vertrag des Wissenschaftlers mit dem Verlag" nach deutschem Recht und vor dem Hintergrund der Novellierung des Urheberrechtsgesetzes und empfiehlt den Wissenschaftlern konkret, Informationen und Musterverträge zu nutzen, welche der Deutsche Hochschulverband und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gemeinsam aufgestellt haben.

Den Schwerpunkt des zweiten Kapitels, "Der Wissenschaftler und sein Verlag: Chancen und Probleme einer Beziehung", bilden weniger die Geschäftsbeziehungen zwischen Autor und Verlag als vielmehr Funktion und Bedeutung des Publizierens für die Forschung und akademische Karriere. Rolf Steinhilper, Universität Bayreuth/Lehrstuhl für Umweltgerechte Produktionstechnik, berichtet, dass er bei der Herstellung, Veröffentlichung und Verbreitung seiner Bücher von der Professionalität und Kompetenz der Verlage sehr profitiert habe und setzt auch weiterhin auf diese Kooperation und die klassische Monografie als Medium für dauerhafte Mitteilung. Die Mehrzahl der Beiträge handelt aber von Zeitschriften als der derzeit meist diskutierten und kritisierten Form wissenschaftlicher Publikation. Zur Debatte stehen neben der Preisgestaltung und -politik der Verlage vor allem die wissenschaftsintern relevante oder zu klärende Frage des Gutachterwesens und die Bewertung einzelner Zeitschriften.

Zwei Wissenschaftler befassen sich mit dem viel zitierten und oft fehl gedeuteten "Impact Factor". Beide weisen darauf hin, dass dieser ein Indikator für die Akzeptanz einer Zeitschrift, aber nicht als Kriterium für die Bedeutung und Bekanntheit eines einzelnen Wissenschaftlers zu verwenden sei. Hans Reinauer, Universität Düsseldorf, erläutert in seinem Beitrag "Sinn und Unsinn des Impact Factors I", dass dieses Instrument für die medizinische Wissenschaft und Forschung in Deutschland nur bedingt von Nutzen sei, weil englischsprachige und anglo-amerikanische Titel den Katalog der ausgewerteten Zeitschriften bestimmten. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich-Medizinischen Fachgesellschaften werde deshalb einen disziplinspezifisch gewichteten Impact Factor definieren und arbeite zudem an einer kostenfrei nutzbaren Internet-Plattform "German Medical Science" für medizinische Informationen und Publikationen. Benno Müller-Hill, Universität zu Köln/Institut für Genetik, berichtet von seinem nur teilweise erfolgreichen Versuch, aus den Daten der Impact Faktoren eine Analyse der Kosten konkurrierender wissenschaftlicher Institute abzuleiten. In der auf drei Druckseiten komprimierten Form gibt der Beitrag allerdings nur unzureichend Aufschluss über das methodische Verfahren, so dass seine Schlussfolgerungen und weiter reichenden Aussagen kaum nachvollziehbar sind. Das bei allen kommerziellen Zeitschriften praktizierte Gutachterverfahren untersucht Joachim Krug, Universität Essen/Fachbereich Physik, in seinem Beitrag "Der Wissenschaftler als Editor und Gutachter: Das Gutachterverfahren vor dem Ende?". Er zeigt und belegt durch Bespiele aus eigener Erfahrung, dass der Gutachterprozess allen daran teilhabenden Parteien, dem Autor, der Zeitschrift bzw. dem Verlag und dem Gutachter Nutzen verschaffe und dass die gutachterliche Bewertung ein wichtiges Instrument zur Steuerung und Bewältigung der Informationsflut sei. Allerdings wünscht er sich eine stärkere Mitwirkung der Gutachter in den verlagsinternen Angelegenheiten, etwa auch bei der Preisgestaltung, um die fachwissenschaftlichen Interessen im Publikations- und Kommunikationsprozess besser zu wahren.

Das dritte Kapitel, "Am Verlag vorbei publizieren: eine Alternative?", befasst sich mit den immer wieder postulierten und gerühmten, inzwischen kaum noch überschaubaren Aktivitäten zur Schaffung nicht kommerzieller, wissenschaftsinterner Publikations- und Kommunikationsorgane. Ein Motiv für die Suche nach neuen Publikationswegen erläutert Karl-Peter Marzlin, Universität Konstanz/Fachbereich Physik, in seinem Beitrag "Erfahrungen mit dem traditionellen Publikationswesen und Gedanken über Alternativen". Persönliche Erfahrungen als Autor, die er naturgemäß nur vage und zumindest für Außenstehende nicht nachprüfbar beschreiben kann, hätten ihn zu tiefer Skepsis gegenüber dem etablierten Begutachtungsverfahren geführt. Er plädiert deshalb für die radikale Alternative der rein elektronischen Veröffentlichung über nicht redigierte Publikationsserver mit der Möglichkeit nachträglicher Diskussion und Bewertung durch identifizierbare Gutachter. Eine Initiative zum "Wissenschaftliche(n) Publizieren - ohne Verlag oder am Verlag vorbei?" beschreibt Friedrich W. Froben, Freie Universität Berlin/Fachbereich Physik. Geplant sei eine Plattform für rein elektronische Publikationen, die von allen großen STM-Fachgesellschaften organisiert, verwaltet und finanziert werden soll. Das Vorhaben ist vor allem wirtschaftlich und politisch motiviert, um der den Informationsmarkt bestimmenden Macht der Verlage zu begegnen. Die bisherigen Versuche dieser Art seien wenig Erfolg versprechend oder schon gescheitert, weil sie wegen der disziplinspezifischen Beschränkung zu klein dimensioniert gewesen seien. Weitere Unterschiede zu den kritisierten Modellen, etwa in der Struktur oder Funktionsweise des neuen Organs, sind allerdings noch nicht zu erkennen. Dass aber auch schon in diese Richtung grundlegend neu geplant und gearbeitet wird, zeigt Michael Hohlfeld, Universität Oldenburg/Institute for Science Networking, in seinem Beitrag "Verteilte Informationssysteme für die Wissenschaften (und ihre Vernetzung)". Dieses Konzept geht davon aus, dass die Daten und Dokumente auf den Servern an ihrem Entstehungsort bleiben, dort verwaltet und von dort verbreitet werden. Ein einheitliches oder fachspezifisches Informationssystem werde nur noch virtuell vorhanden sein auf der Basis definierter und vereinbarter Normen und Standards für Datenformate und Datentausch. Die ausschließliche Verantwortung der wissenschaftlichen Institute für die von oder an ihnen produzierten Daten impliziere, dass die Langzeitarchivierung als staatliche Aufgabe wahrzunehmen sei.

Das letzte Drittel der Fachbeiträge handelt von der Beschaffung und Bereitstellung der Information und der Rolle der Bibliotheken als Informationsvermittler. Das Kapitel mit der provozierenden Überschrift "Die Bibliothek: ein Auslaufmodell?" enthält drei Beiträge zur Zukunft der wissenschaftlichen Bibliothek. Eine optimistische Sicht vertritt Rafael Ball in seinem Beitrag "Die Position der Bibliothek in der Wertschöpfungskette der Wissenschaft". (Siehe dazu Rubrik Fachbeiträge in diesem Heft, d. Red.) Er sieht die Bibliothek nicht gefährdet, weil sie mit jeweils zeitgemäßen Mitteln, aber im Prinzip unverändert den Wissenschaftler in seiner Forschungsarbeit unterstütze. Doch müsse sie ihre spezifische Informationskompetenz stärker betonen und geltend machen und auch neue Aufgaben wie die Produktion, Verbreitung und - auch in Konkurrenz zu kommerziellen Verlagen - den Vertrieb elektronischer Publikationen offensiver angehen. Eher in der kontinuierlichen und langfristig orientierten Verwaltung und Bewahrung von Information sieht Mel W. Collier, Universitätsbibliothek Tilburg, die fortdauernde Aufgabe und Berechtigung der Bibliothek. Sein Beitrag, "Resource management at national and international level”, beschreibt verschiedene nationale und europäische Programme zur kooperativen Lösung dieser umfassenden Aufgabe. Gearbeitet werde an der Erprobung von Verfahren zur Datenübermittlung und zum Datentausch sowie an der Entwicklung dauerhafter Finanzierungsmodelle. Skeptisch und besorgt um eine sichere Zukunft der Bibliotheken ist Wolfram Neubauer, ETH Zürich/Bibliothek, wie schon der Titel seines Beitrags, "Informationsversorgung für die Wissenschaft ohne Bibliotheken? Bedrohung oder Glücksfall", vermuten lässt. Er analysiert das klassische bibliothekarische Dienstleistungsportfolio mit dem Ergebnis, dass Bibliotheken zu häufig Dienste und Produkte ohne ausreichende Nachfrage anböten. Andererseits sei den Bibliotheken in vielen Teilbereichen mittlerweile ernst zu nehmende Konkurrenz erwachsen. Als Strategie empfiehlt er den Bibliotheken eine stärkere Kundenorientierung, die Festlegung von Prioritäten, Transparenz in der Aufgabenerfüllung und die Konzentration auf die Schaffung von Mehrwertdiensten.

Dieser betriebswirtschaftliche Ansatz wird im letzten Kapitel, "Kosten und Nutzen der Informationsversorgung", konsequent weitergeführt. Der Beitrag von Josef Herget, Information and Management Consulting (Konstanz), ist leider wieder nur eine unkommentierte Wiedergabe seiner Präsentation auf der Konferenz. Ersichtlich wird aber, wie die Instrumente und Verfahren der Kostenrechnung auf Bibliotheken angewendet werden können. Überzeugend belegen könnten Bibliotheken ihren Nutzen jedoch nur mit vergleichenden, auch spartenübergreifenden Erhebungen und Analysen. Abschließend unterstreicht Klaus Wandelt, Universität Bonn, Institut für Physikalische und Theoretische Chemie, die "Bedeutung der Informationsversorgung für Wissenschaft und Forschung". Er befürwortet grundsätzlich die konventionelle Rollenverteilung zwischen den auf dieser Tagung angesprochenen Akteuren im Publikationsprozess und weist der Bibliothek auch weiterhin die Aufgabe der Auswahl, Erschließung und Strukturierung von Information zu. Mit der eigenständigen Verbreitung ihrer Publikationen seien Wissenschaftler auf Dauer ebenso überfordert wie mit der Vermarktung der von ihnen entwickelten Techniken und Geräte. Die Informationsvermittlung und -versorgung unterliege marktwirtschaftlichen Prinzipien, ihre Einrichtungen bedürften entsprechender Finanzierung, hätten aber den Nutzen und die Wirtschaftlichkeit ihrer Arbeit zu belegen.

Der Band bietet wenig neue Sachinformation, sein besonderer Wert und Nutzen liegt aber darin, dass die Positionen und Interessen der Akteure im Prozess des wissenschaftlichen Publizierens authentisch vermittelt und einander gegenübergestellt werden. In diesem Sinn stellt er eine Art Bestandsaufnahme in der nun doch schon Jahre währenden Diskussion über Chancen und Auswirkungen der neuen Medien in der wissenschaftlichen Kommunikation dar. Vieles deutet darauf hin, dass keiner der Beteiligten wirklich bereit und in der Lage ist, Aufgaben von anderen zu übernehmen, als eigene zu definieren, professionell zu gestalten und in das eigene Kerngeschäft zu integrieren. Dennoch scheinen die Bibliotheken von den Veränderungen und Umbrüchen des Informationsmarktes am stärksten bedroht. Die Wissenschaftler können sich zum Teil selbst und gegenseitig versorgen, ihre Fachgesellschaften haben begonnen, disziplinspezifische Informationsportale aufzubauen. Die großen Verlage bestimmen maßgeblich die Kosten der Informationsbeschaffung und engen den Handlungsspielraum der Bibliotheken ein. Deren Funktion als Informationsvermittler wird noch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber sie werden ihren Nutzen, ihre Effizienz und Wirtschaftlichkeit sehr viel deutlicher unter Beweis stellen müssen.


Anschrift des Rezensenten:
Dr. Ulrike Eich
RWTH Aachen
Hochschulbibliothek
eich@bth.rwth-aachen.de