e-Bücher halten Einzug in Österreichs Bibliotheken

von Helmut Hartmann

1. Marktentwicklung

Das zu Ende gehende Jahr brachte den BenutzerInnen etlicher österreichischer wissenschaftlicher Bibliotheken ein neues Medium im großen Stil auf den Bildschirm: das elektronische Buch. Während in den meisten amerikanischen und auch schon vielen britischen Uni-Bibliotheken e-books bereits Stand der Technik sind, haftete in Österreich und wohl auch bis zu einem gewissen Grad im gesamten deutschen Sprachraum dieser Spielart von Volltext-Ressourcen noch das Flair des Ungewohnten, ja Überflüssigen an: e-books verband man bestenfalls mit den riesigen, nicht primär wissenschaftlichen Titelpaketen der vor allem den amerikanischen Markt bedienenden NetLibrary, oder man dachte an "Alice in Wonderland" oder Stephen Kings "Riding the Bullet" als downloadbarer Content für das handheld e-Taschenbuch der Firma "Rocket Book".

Diese Sicht der Dinge konnte jedoch bestenfalls bis Anfang Dezember 2001 aufrechterhalten werden; da nämlich drängten Wiley und Ovid im Rahmen der London Online mit ihren ersten Paketen wissenschaftlicher Grundlagenwerke auf den Markt, Oxford University Press kündigte unter dem Namen "Oxford Reference Online" (ORO) eine digitale Kollektion von mehr als 100 Wörterbüchern und Nachschlagewerken an, die eine breite Palette von Sachgebieten wie Sprach- und Literaturwissenschaft und andere Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Medizin und Sozialwissenschaften abdecken sollten, und Kluwer würde spätestens bis zum Sommer mit einem Konzept zur institutionellen Nutzung seiner wissenschaftlichen Kollektion von elektronischen Büchern herauskommen.

Damit war sozusagen die Großoffensive von seiten der Verlage eröffnet. Einzelne Vorreiter gab es ja schon vorher, etwa den "Pschyrembel Online" von de Gruyter, den "Dubbel interaktiv" von Springer, beides in gedruckter Form seit Generationen absolute Musts für StudentInnen der Medizin bzw. des Maschinenbaus, oder das berühmte Handbuch "Landolt-Börnstein" desselben Verlags. Die "Lecture Notes" und andere zeitschriftenähnliche Reihen von Springer seien hingegen nur am Rande erwähnt, da sie im strengen Sinn wohl nicht als e-Bücher zu betrachten sind. Nicht fehlen sollten in diesem Zusammenhang hingegen die Volltext-Sammlungen von Chadwyck-Healey, die ja auch schon seit längerem ganze Bücher im ursprünglichen Sinn elektronisch online verfügbar machen, so etwa die "Early English Prose Fiction"-Kollektion oder die Sammlung "Early English Books Online".

2. Erste Tests in konsortialem Rahmen

Es war daher naheliegend, an den österreichischen wissenschaftlichen Bibliotheken so rasch wie möglich zu beginnen, mit dem neuen Medium auf professionelle Weise (also in klar geregelten Trials mit entsprechender Nutzungskontrolle) Erfahrungen zu sammeln. Noch in London wurde vom Verfasser ein für drei Monate angesetzter, auf konsortialer Basis ablaufender kostenloser Test an der UB Innsbruck, der UB Graz und der ZB Medizin Wien mit den damals zur Verfügung stehenden Wiley-Titeln vereinbart. In den drei "Libraries" genannten Kollektionen "Chemistry", "Life and Medical Sciences" und "Electrical Engineering and Telecommunications" standen gut hundert Grundlagenwerke zum unbeschränkten Gebrauch durch die berechtigten BenutzerInnen der drei Bibliotheken zur Verfügung. Nach Ende des Tests Anfang April 2002 ergab die Auswertung der vom Verlag dokumentierten Nutzungsdaten folgendes Bild:

Jänner 2002 Februar 2002 März 2002 I. Quartal gesamt
User Sessions Chapter Texts User Sessions Chapter Texts User Sessions Chapter Texts User Sessions Chapter Texts
UBG 21 111 42 1490 63 1056 126 2657
UBI 109 1230 62 1484 65 1305 236 4019
ZBMED 71 728 73 1308 32 566 176 2602
GESAMT 201 2069 177 4282 160 2927 538 9278

Man erkennt auf den ersten Blick, dass pro User Session erstaunlich viele Kapitel (vergleichbar den Artikeln im Bereich der Zeitschriften) heruntergeladen wurden, im Schnitt rund 17. Hier liegt natürlich die Vermutung nahe, dass entweder ganze Teile von Büchern für das Offline-Studium gespeichert wurden und/oder Kapitel aus verschiedenen eine Recherche abdeckenden Werken bezogen wurden. Die schwächeren Jännerwerte finden ihre Erklärung in der meist etwas zögerlichen Anlaufphase, deren Effekt in diesem Fall durch die erst am 7.1. zu Ende gehenden Weihnachtsferien verstärkt wurde, wozu bei der UB Graz noch technische Anfangsprobleme kamen. Erstaunlich die trotz der Semesterferien geradezu explosionsartige Ausweitung der Benutzung im Februar, die im März auf möglicherweise dem Normalbetrieb nahekommende Werte zurückgeht. Von den Fachbereichen her überwog in der Liste der zehn meistgenutzten Bücher aller drei Bibliotheken zusammen die "Life and Medical Sciences"-Kollektion. Bedauerlicherweise war eine Verlängerung des Tests nicht möglich, und wegen bestehender anderer Prioritäten konnte trotz der guten Nutzung ein Vertragsabschluss unmittelbar im Anschluss an den Test nicht in Erwägung gezogen werden.

Dennoch blieben die e-Bücher des Wiley-Verlags in der österreichischen Szene präsent, denn über das ganze 2. Quartal 2002 hatte die UB Wien einen Testzugang zu den elektronischen Büchern des Wiley-Verlags, und zur Zeit verfügt die UB der Technischen Universität Graz über einen Testzugang, sodass der Boden für eine konsortiale Lösung im Lauf des kommenden Jahres aufbereitet sein dürfte.

Der kostenlose Test der gut 130 e-Bücher von Ovid-Technologies aus dem Fachbereich Medizin wurde wiederum auf konsortialer Basis von den drei schon bekannten Bibliotheken UB Graz, UB Innsbruck und ZBMED Wien in der Zeit von 1.5. bis 30.6.2002 durchgeführt. Leider konnte hier der Verlag keine ins Detail gehende Auswertung zur Verfügung stellen, es wurden lediglich nicht sehr aussagekräftige Angaben über die relative Nutzungsverteilung im Bereich der drei Bibliotheken, die Gesamtsuchzeit in Minuten und die Sitzungsdauer pro NutzerIn gemacht. Inhaltlich zeigte die Liste der zwanzig meist genutzten Bücher das "Oxford Textbook of Medicine" an der Spitze. Um hier noch auf Ebene der einzelnen Bibliothek die Benutzereinstellung gegenüber dem neuen Medium genauer zu ergründen, wurde nach Abschluss des Tests von allen drei Bibliotheken ein von der österreichischen Vertretung von Ovid betreuter Fragebogen ins Netz gestellt, der einerseits die akademische Position der beantwortenden Person festhielt, andererseits zum Ankreuzen der während des Tests als relevant erfahrenen Titel einlud. (Vgl. unten stehenden Screenshot-Ausschnitt)

Die Auswertung des 137 Titel umfassenden Fragebogens ergab ein 10 bis 12 Titel umfassendes Cluster von meistgenannten Titeln, wofür ein Anbot des Verlags eingefordert wurde. Im Rahmen eines Konsortialvertrags könnten die drei Bibliotheken zunächst einmal für 2003 Zugang bekommen; die Anzahl und Aufteilung der gleichzeitigen Benutzer bedarf allerdings noch einer Regelung.

3. Aktueller Stand November 2002

Mit 1.November hat an der UB Graz ein mehrmonatiger Test des ORO-Pools (s. o.) geendet, der zu einer Konsortiallösung mit der UB Salzburg führen könnte, die diese Ressource bereits regulär verwendet, und auch die UB Innsbruck zeigt Interesse. Das große Oxford English Dictionary Online wird jetzt schon an der UB Salzburg und der UB Graz im Regelbetrieb verwendet, allerdings auf der Basis zweier unabhängiger Lizenzen.

Ebenfalls bereits im Regelbetrieb befindet sich die Online-Version des medizinischen Grundlagenwerks "Pschyrembel". Auf der Basis einer Konsortiallizenz bestehen campusweite Zugänge in Graz, Innsbruck, an der Veterinärmedizinischen Universität Wien und der ZBMED Wien.

Von diesen konsortialen Initiativen abgesehen gibt es an einzelnen Standorten Zugänge zu e-Büchern diverser Verlage: An der UB Innsbruck bestehen Testzugänge zum "Musiklexikon der Österreichischen Akademie der Wissenschaften" und zu "Safari Technical Books Online", einer vom O'Reilly Network betriebenen Referenzbibliothek für Programmierer und IT-Professionals; darüber hinaus werden freie Zugänge genutzt, z.B. zu medizinischen Fachbüchern des Krause & Pachernegg-Verlags. Neben dem schon erwähnten Test-Zugang zu den Wiley-Büchern ist neuerdings an der UB der TU Graz über RÖMPP Online (Thieme-Verlag) der Zugriff auf die e-Fassung einer Reihe von renommierten Chemie/Biotechnologie-Lexika möglich. An der UB der TU Wien gehören der (auch an der ZBPhys eingeführte) "Landolt-Börnstein" sowie "Dubbel interaktiv" bereits zur Standardausstattung, letzterer wird allerdings nur an einzelnen Instituten genutzt. Ob "Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry" (Wiley) noch als e-Buch gelten kann oder nicht doch als Datenbank zu betrachten ist, mag dahingestellt sein, auch sie wird jedenfalls an der TU Wien genutzt. Die schon erwähnte Kollektion "Early English Prose Fiction" von Chadwyck-Healey steht den BenutzerInnen der UB Wien schon länger zur Verfügung, und auch sie bildet im Grunde genommen eine Übergangsform zwischen e-Buch und Datenbank. An der Bibliothek der Veterinärmedizinischen Universität Wien werden an wissenschaftlichen Büchern neben dem schon erwähnten "Pschyrembel" die "Encyclopedia of Life Sciences" und "The World of Learning" im Regelbetrieb verwendet, dazu noch die freien Ressourcen "FreeBooks4Doctors" sowie "IVIS e-Books". Die ZBMed Wien schließlich verfügt neben den schon erwähnten konsortialen Lizenzen seit Oktober über einen Testzugang zu "Salerno – medizinisches wissen online", einer auch wieder eher datenbankartigen Medizinenzyklopädie; nach Möglichkeit soll der für zwei Monate angesetzte Test in den Regelbetrieb übergeführt werden.

4. Zusammenfassung

Zugunsten der Aktualität und Übersichtlichkeit konzentrierte sich dieser Bericht vorwiegend auf den Einsatz des kommerziellen e-Buchs an den österreichischen wissenschaftlichen Bibliotheken. Grundsätzliche Überlegungen mussten ebenso ausgespart bleiben wie eine erschöpfende Darstellung vieler zusätzlicher freier, meist auf (universitärer) Projektebene angesiedelter Initiativen, die aber die zukünftige Entwicklung genauso mitprägen werden wie die großtechnologischen Unternehmungen der Global Players. Dass in der Zukunft e-Buch, e-Zeitschrift und e-Datenbank einander immer ähnlicher sehen werden, ist bereits hinlänglich bekannt. Es wird an den wissenschaftlichen Bibliotheken liegen, im terminologischen Dschungel der zunehmend ineinander fließenden e-Ressourcen für Orientierungsmöglichkeiten zu sorgen.


Zum Autor

Helmut Hartmann

Stabsstelle für Volltext-Medien und Konsortien
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