Bibliotheken in China und die Shanghai-Library
- eine Allegorie auf die Öffnung Chinas

von Rafael Ball

Man nimmt China meist nur selektiv wahr: 1,3 Milliarden Einwohner, kommunistische Volksrepublik, Streit um den Status von Taiwan und den Jangtze-Staudamm, jenes umstrittene Riesenprojekt, in dessen Einzugsgebiet ein Zehntel der Weltbevölkerung lebt und dessen Realisierung dreizehn Großstädte und Tausende Dörfer in den Fluten versinken lassen wird1. Nur zu leicht übersieht man dabei den Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht, der sich an jenen Börsen vollzieht, die trotz Überschuldung vieler chinesischer Großbanken (die Gesamtsumme fauler Kredite in China wird auf 397 Milliarden Euro geschätzt2) immer noch florieren und der in einer geschickten Außenwirtschaftspolitik sichtbar wird. Die Öffnung des Landes ohne Selbstauflösung scheint zu gelingen3 und die Technisierung des Alltags schreitet voran; schon heute telefonieren 120 Millionen Chinesen mobil, im Jahre 2005 wird sich die Zahl verdoppelt haben4.

Abbildung 1: Die Skyline von Shanghai
China ist auf dem Weg nach Westen und Shanghai allzumal (siehe Abb. 1). Während Chinas Brutto-Inlandsprodukt im ersten Halbjahr 2002 um 7,8 Prozent gestiegen ist, übertrifft Chinas größte Metropole diese Zahl noch um ein weiteres Drittel. Die Hälfte aller Firmen in Shanghai sind private Unternehmen mit einem eingetragenen Kapital von mehr als 23,5 Milliarden US $.5

Abbildung 2: Der Bund alt und neu von Shanghai
Im 20. Jahrhundert war Shanghai lange eine vernachlässigte Stadt am Meer, galt den Maoisten als "Hure des Kapitalismus" und war seit Gründung der Volksrepublik 1949 von jeder Förderung ausgeschlossen. Heute kommen nicht wenige Mitglieder in führenden Staatsämtern aus Shanghai und seit den 90er Jahren erlebt die Stadt einen grandiosen wirtschaftlichen Aufschwung. Als Wirtschaftssonderzone verbleiben die Einnahmen zum großen Teil in der Stadt, die damit eine Infrastruktur schafft, auf die mache Großstadt in Europa neidisch werden könnte (siehe Abb. 2). Dies reicht von der neuen Hochautobahn, die die Stadt von Nord nach Süd und von Ost nach West überspannt, über das neue Theater des französischen Architekten Charpentier von 1998, dessen nach oben geöffnete Bauform ebenso himmlischen Beistand herabbeschwören wie es die verschiedenen Kulturformen begrüßen soll, das berühmte Shanghai Museum von 1995 mit hervorragenden Exponaten aus der chinesischen Geschichte bis hin zur neuen Stadt-Bibliothek, die 1997 eingeweiht worden ist.

Der Neubau der Shanghai-Library ist ein sinnfälliges Symbol für die fulminante Entwicklung des chinesischen Bibliothekswesens in den letzen 20 Jahren. Überall entstanden neue Regionalbibliotheken, so in den Provinzen Fujian und Zhejiang, um nur einige zu nennen.

Neben Shanghai hat Peking eine neue Nationalbibliothek erhalten6, deren Gründung 1909 noch als Erinnerung an die Quing-Dynastie gedacht war. 1928 wurde sie als Nationalbibliothek Pekings geführt und erst nach der Ausrufung der Volksrepublik zur Nationalbibliothek Chinas ausgebaut7. Sie beherbergt heute fast 20 Millionen Bände, wobei zu vermuten ist, dass hierbei Zeitschriftenbände mitgezählt werden. Dass sich das moderne China keineswegs von der Kommunistischen Partei verabschiedet hat zeigen jene Formulierungen über den Zweck von Bibliotheken. Im zitierten Beitrag von Weiming und Ning von 1996 wird die Aufgabe der Bibliothek darin gesehen "to collect, process, preserve and dissiminate human knowledge and information for the Communist Party of China..."8, während diese Benutzergruppe in späteren Publikationen zur Nationalbibliothek nicht mehr oder nicht mehr an erster Stelle genannt wird.

Als größte Bibliothek Asiens und fünftgrößte Nationalbibliothek der Welt9 verfügt die Nationalbibliothek in Peking über mehr als 140.000 m² Nutzfläche (die offizielle Web-Site spricht von 170.000 m² Nutzfläche10) und nahezu 10 Millionen Bände (die offizielle Web-Site nennt 22,4 Millionen Bände), rund 11.000 Zeitschriften bei 1500 Mitarbeitern.11 (Zum Vergleich: Die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin verzeichnet in beiden Häusern eine Gesamtnutzfläche von rund 130.000 m² bei knapp 10 Millionen Bänden, 900 Lesesaalplätzen und rund 830 Mitarbeitern, während die Bayerische Staatsbibliothek 7,6 Millionen Bände, 40.000 laufende Zeitschriften, 650 Lesesaalplätze und ca. 600 Mitarbeiter bei einer Nutzungsfläche von 65.000 m² aufweist.)

Anders als die Shanghai-Library ist das Gebäude bewusst in einem Stil errichtet, der der Besonderheit einer chinesischen Nationalbibliothek Ausdruck geben soll: Nationale Identität einerseits, Anspruch an High-tech und Fortschritt andererseits. Viele traditionelle chinesische Architekturelemente sind hierbei eingeflossen.12 Die Shangai Library ist die zweitgrößte Bibliothek Chinas. Gemeinsam mit der Nationalbibliothek in Peking bestimmt sie die Bibliotheksentwicklung in China maßgeblich mit.13

Dabei ist Shanghai als größte Stadt Chinas mit geschätzten 14 Millionen Einwohnern in bibliothekarischer Hinsicht bemerkenswert. Mit 35 wissenschaftlichen und ebenso vielen öffentlichen sowie 15 Spezialbibliotheken ist die bibliothekarische Infrastruktur gut ausgebaut. Allein 34 öffentliche Bibliotheken haben seit 1982 ein neues Gebäude bezogen.14 Während die neunziger Jahre eine neue Freiheit und damit eine neue Kundenorientierung mitbrachten, wurde weiterhin auf Ästhetik geachtet. Die Investitionen in die Bibliothek, ihre Bestände und in die Informationstechnologie sind beachtlich. Allein die Shanghai Library verzeichnet von 1995-1998 einen Budget-Zuwachs von 120 Prozent (!)15, während Kulturpolitiker in Deutschland ihre Lieblingsvisionen in der Stiftungspraxis als bürgerlichem Engagement zum Ausgleich magerer Kulturetats sehen und dafür sogar noch Handbüchlein erstellen.16

Abbildung 3: Kinderbibliothek in Suzhue
Während im deutschen Bibliotheksbau die dezente Ausstattung weniger der Funktion als dem Diktat erschöpfter Haushalte folgt, wie etwa beim kürzlich eröffneten Neubau der Universitätsbibliothek Greifswald17, schöpfen die Architekten von Chinas neuen Bibliotheken aus dem Vollen. Die Grundrisse verschmelzen Elemente alter chinesischer Tradition mit modernen Funktionsflächen. Glas und Stahl als bestimmende Materialien demonstrieren Transparenz und den Willen zur Macht. Die Eingangshalle der Bibliothek von Suzhou, einer Ein-Millionen-Stadt rund 100 Kilometer westlich von Shanghai, gleicht mit ihrer imposanten Wasserkunst mehr dem Spa eines Hilton-Ressorts als einer Stadtbücherei, die selbst den Kleinsten freien Zugang gewährt (siehe Abb. 3).

Abbildung 4: Die Büchertürme der Shanghai-Library
Die Shanghai-Library wird von zwei massigen Türmen mit 11 und 24 Stockwerken zur Rechten und zur Linken dominiert (siehe Abb. 4). Sie dienen als Bücher-Magazin, sind doch immerhin mehr als 13 Millionen Bände unterzubringen. In 20 Lesesälen stehen 3000 Plätze zur Verfügung und eine Vielzahl von Sonderbibliotheken bedienen spezielle Interessen (siehe Abb. 5). So etwa die erst 1999 von Bundeskanzler Schröder eröffnete deutsche Informationsbibliothek, die in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut betrieben und von der Commerzbank gefördert wird.18

Abbildung 5: Der chinesische Lesesaal
der Shanghai-Library
Die Grundsteinlegung fand 1993 statt, 1997 wurde die Shanghai-Library offiziell eröffnet. Gebaut ist sie in einem Stil, der an ein altes europäisches Bibliotheksgebäude erinnert. Natürlich fehlen weder Café, Buch- noch Andenkenladen.19

Abbildung 6: Die Eingangshalle der Shanghai-Library:
Blick auf die Rückwand mit altchinesischen Schriftzeichen
Die Eingangshalle ist eher schlicht, eine Schindler-Rolltreppe lässt den Besucher in die verschiedenen Ebenen der Bibliothek schweben. Die zentrale Rückwand zieren zwei schlanke Steinplatten mit altchinesischen Schriftzeichen (siehe Abb. 6), gerade so wie die British Library dem Besucher den vollen Glanz alter Buchrücken in einer Mischung aus Bestandspräsentation und Kunst entgegenhält.

Während man in Europa allenthalben über das Ende des Lesens debattiert, scheint es hier gerade erst begonnen zu haben. 10.000 Besucher finden täglich den Weg in die 83.000 m² große Bibliothek, die voll ist mit lesenden Menschen, überall: auf Treppen, Stufen und Nischen.

Abbildung 7:
Konfuziusgarten der Weisheit
Wer in den vielen Lesesälen reichlich Informationen aufgesogen hat, kann zur Weiterverarbeitung nach draußen: der "Garten des Wissens" und der "Garten der Weisheit" laden ein, jenen Mehrwert zu schaffen, der Information und Wissen erst zur Weisheit werden lässt, zumal Konfuzius als meterhohe Statue im Garten auf sich aufmerksam macht (siehe Abb. 7). Während man den Eingang zur British Library in London nur über die Piazza vorbei an der imposanten Newton-Statue erreicht, und auch die Deutsche Bibliothek in Frankfurt die "Kunst am Bau" sinnfällig am Eingang werden lässt, steht der chinesische Philosoph in der Shanghai-Library dezent im Hintergrund.

Offensichtlich brauchen Bibliotheken den historischen Rückgriff um so mehr, je mehr sie in elektronische Informations-Ressourcen investieren. Und auch hieran wird in China nicht gespart. Wenn die Ausstattung mit Rechnern ein Indiz ist für die Leistungsfähigkeit einer Bibliothek, dann haben chinesische Bibliotheken längst zum Überholen angesetzt, die Shanghai-Library allen voran. So ist es nicht unpassend, dass gerade hier die Wendung von der bücher- und medienorientierten Bibliothek zum Knowlegde-Portal vollzogen wird.20 Die Shanghai-Library beherbergt das "Institut of Scientific and Technical Information of Shanghai" (ISTIS), das die Bibliothek als clearinghouse und "think tank" der Stadt entwickeln und "reference service" für die soziale und industrielle Entwicklung sein soll.

Abbildung 8: Einer der Ausleihschalter
mit Blick auf die Buchförderanlage
Auch wenn viele Dienste in der Shanghai-Library noch nicht als self-service organisiert sind (siehe Abb. 8), und für das Anfertigen von Fotokopien noch eifrige Helfer eingesetzt werden (was in China in fast allen Dienstleistungsbereichen üblich ist), ist die Kundenorientiertheit eines jener strategischen Ziele, die sich der smarte Direktor und Herr über 1500 Mitarbeiter, Jianzhong Wu, auf die Fahnen geschrieben hat, seit er im Februar 2002 diese Position übernommen hat.21

Am renommierten Institut für Library Science an der University of Wales in Aberysthwyth ausgebildet, repräsentiert Jianzhong Wu den Typus des erfolgreich-dynamischen, verbindlich offenen Managers. Seinem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass der auch in der Shanghai-Library verbreitete Schlendrian weitgehend verschwunden ist, die Mitarbeiter zur Weiterqualifikation ins Ausland geschickt werden und seine Vision der Bibliothek als Knowledge-Center in Angriff genommen wird.

Auch das erste "Shanghai International Library Forum" diente dieser Internationalisierungsstrategie Wus. Unter dem Titel "Knowledge Navigation and Library Services" hatte Wu vom 15. bis 18. Juli 2002 eine ganze Reihe hochkarätiger Fachleute aus aller Welt in Shanghai versammeln können. Gekommen waren vor allem Vertreter aus dem pazifisch-asiatischen Raum und den Vereinigten Staaten. Bezeichnender Weise gab es nur minimale Präsenz aus Europa. Wu machte in seiner Eröffnungsrede noch einmal deutlich, wie ernst es ihm mit dem Umbau seiner Bibliothek zum Knowledge-Center ist und ließ sich vom Direktor der Library of Congress in Washington, Winston Tabb, seinen Knowledge Management-Kurs bestätigen und von Gary Strong, dem Direktor der Queens Library in New York, dessen Multi-Kulti-Bibliotheksansatz erläutern. Das opulente Rahmenprogramm zeugte von der Bedeutung, die man solchen Internationalisierungsmaßnahmen beimisst.

Das kommunistische China ist hoffähig geworden - nicht nur in der Wirtschaft und der Politik. Strukturelle Veränderungen, grundlegende Neuerungen und massive Investitionen im Bibliothekswesen lassen die bibliothekarischen Kleinkriege in Europa und in Deutschland allzumal als reine Rückzugsgefechte erscheinen.


Fußnoten

1. Staumeldungen: Der Drei-Schluchten-Damm macht den Fluss Jangtze zum See. FAZ Sonntagszeitung, 9.6.2002

2. Der lange Marsch zur Bankreform. FAZ, 21.5.2002

3. Christoph Hein: Bei den Freunden in Wolfsburg. FAZ 12.4.2002

4. Christoph Hein: Der zerbrechliche Gigant. Chinas Weg in die Weltwirtschaft. FAZ 21.2.2002

5. Shanghai Daily, 16/7/2002 und 18/7/2002

6. Tang, Shaoming: The present and future development of the National Library of China. In: Focus Int. Comp. Librarianship. London, 1994, 2, S.73-78

7. Weiming, Jiang, Ning, An: The National Library of China. In : Alexandria, Aldershot, 8, 1996, 2, S. 143-147

8. Weiming, Jiang, Ning, An: a.a.O., S. 144

9. LAP: Libraries of Asia pacific: http://www.nla.gov.au/lap/libs/china.html

10. The National Library of China in Brief: http://www.nlc.gov.cn/newpages/english/situation/index.htm

11. A Tour of Selected national Libraries of Asia: http://www.slais.ubc.ca/courses/libr500/2000-2001-wt1/www/l_kelly/china.htm.

12. Frampton, K.(Hrsg): World Architecture 1900-2000: A Critical Mosaic, Volume 9: East Asia, Springer, Wien, New York 2000, S. 166 fff.

13. http://www2.db.dk/pe/china/shanghai.htm. Weitere Informationen zu wichtigen Bibliotheken in China u.a. auch in: http://www.britishcouncil.org.cn/english/infoexch/libchi.htm

14. Yuanlang, Ma: The development of library buildings in Shanghai. In: Library buildings in a changing environment. Hrsg: Bisbrouck, M. et al., Shanghai, China 14-18 August 1999, (IFLA publications 94) 2001. S.31-38

15. Yuanlang, Ma: a.a.O., S.34

16. Kulturstiftungen - ein Handbuch für die Praxis. Bundesverband Deutscher Stiftungen, Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kunst und Kultur et al., Berlin 2002

17. Knöppel. H.-A.: Der Neubau der Universitätsbibliothek Greifswald und digitale Informationsversorgung. In: ABI-Technik, 22, 2/2002, S.112 ff

18. Die deutsche Informationsbibliothek ist mit einem deutschsprachigen Grundbestand von 2000 Medien, 20 Zeitungs- und Zeitschriftenabonnements sowie vielen audiovisuellen Medien ausgestattet. Die Bibliothek wird in einem gemeinschaftlichen Prinzip betrieben: Die Shanghai-Library stellt Räume, Personal und die Infrastruktur, das Goethe-Institut übernimmt die Medienausstattung und die Fortbildung. Damit ist die deutsche Informationsbibliothek in der Shanghai-Library einem Deutschen Lesesaal der Goethe-Institute vergleichbar. http://www.goethe.de/os/pek/deiinf.htm

19. Wu, Jjanzhong: Constructing a new Shanghai Library. In: 62nd IFLA General Conference - Conference Proceedings - August 1996 (http://www.ifla.org/IV/ifla62/62-jiaw.htm)

20. Miao, Qihao: From Literature Centre to knowledge portal: Shanghai Library in search of excellence 2.0. In: Library Review, (50), 7/8, 2001, S. 349-354

2. 1Wu Jianzhong, new head of the Shanghai-Library. Press release: http://www.libnet.sh.cn/silf2002/release.htm


Zum Autor

Dr. Rafael Ball ist Leiter der Zentralbibliothek des

Forschungszentrum Jülich GmbH
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E-Mail: r.ball@fz-juelich.de