Pionierwerk zur Verlagsgeschichte im Nationalsozialismus

Bertelsmann im Dritten Reich
Saul Friedländer; Norbert Frei; Trutz Rendtorff; Reinhard Wittmann.
- München: Bertelsmann, 2002. 793 S.

Am 10. Juni 1998 erhielt der damals designierte und vier Jahre später entlassene Vorstandsvorsitzende von Bertelsmann, Thomas Middelhoff, den durch das deutsch-jüdische Armonk-Institut verliehenen Vernon-A.-Preis. In seiner Dankesrede verließ er sich auf die seit einem halben Jahrhundert gebräuchliche Selbstdarstellung des Verlages, im Nationalsozialismus sei man einer der wenigen nichtjüdischen Verlage gewesen, der von den Nazis geschlossen wurde: "Wir haben Bücher verlegt, die vom Dritten Reich als subversiv verboten waren." (Berliner Zeitung vom 15.3.1999) Nur wenige Wochen später warf der Düsseldorfer Soziologe Hersch Fischler dem Verlag vor, die eigene Geschichte zu beschönigen; Bertelsmann habe nachweisbar von Anfang an den Nationalsozialismus aktiv unterstützt.

Öffentliche Stellungnahmen seitens des Verlages kamen erst, als Fischler seine Recherchen in den USA publizierte. Und die waren erfreulicherweise eindeutig: Das Verlagsunternehmen berief eine Unabhängige Historische Kommission zur Erforschung der Geschichte des Hauses Bertelsmann im Dritten Reich unter Leitung des renommierten israelischen Historikers Saul Friedländer mit dem Zeithistoriker Norbert Frei, dem Theologen Trutz Rendtorff und dem Literaturhistoriker Reinhard Wittmann. Diese legte im Herbst 2002 eine fast 800seitige Untersuchung vor, die bis ins Jahr 1921 zurückgeht, als Heinrich Mohn die Verlagsgeschäfte übernahm, und in den ersten Nachkriegsjahren endet, als die Legende vom "Widerstandsverlag" geboren wurde.

Die gründlichen Untersuchungen zeigen, dass das historische Selbstbild des Bertelsmann-Verlages einer grundlegenden Revision bedarf. Der Verlag wuchs im Nationalsozialismus von einem Kleinbetrieb im Ostfälischen zu einem der bedeutendsten deutschen Verlagshäuser.

Die Verlagsprodukte befanden sich im Einklang mit der NS-Ideologie und enthielten auch antisemitische Hetzparolen. Der Firmenpatriarch Heinrich Mohn unterstützte bereitwillig die nationalsozialistische Kulturpolitik und leitete sein Haus nach den Grundsätzen einer nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft. Der Bertelsmann-Verlag war der größte Lieferant der Wehrmacht für Frontliteratur (20 Millionen Bücher) und rangiert damit auf Platz 1 weit vor dem NSDAP-Zentralverlag. Die vorübergehende Schließung des Verlages im August 1944 war keine Sanktion für einen Widerstand gegen das Regime, sondern erfolgte im Zusammenhang mit einem Verfahren wegen illegaler Praktiken bei der Papierbeschaffung.

Dieses Pionierwerk zur Geschichte eines deutschen Verlages im Nationalsozialismus ist nur durch die bereitwillige Unterstützung der Konzernleitung und durch die Öffnung des Hausarchivs möglich gewesen. Es ist zu wünschen, dass andere Unternehmen in gleicher Weise verfahren, denn noch ist vieles aus der jüngsten Geschichte ungeklärt.

Dieter Schmidmaier