Ein Modell für die Bibliothek im Jahr 2007

BDB und Bertelsmann Stiftung erarbeiten ein nationales
Empfehlungspapier für das deutsche Bibliothekswesen

von Vera Münch

"Wir sind sehr glücklich und sehr froh, dass wir in dieser Zeit dieses Projekt haben starten können, hinter dem alle in der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände vertretenen Verbände und Vereinigungen stehen", so Dr. Georg Ruppelt zur Tragweite von "Bibliothek 2007". In seiner Einführung zur Projektpressekonferenz Ende Februar in Hannover sagte der Direktor der Niedersächsischen Landesbibliothek, die Situation im deutschen Bibliothekswesen sei "durchaus krisennah". Einmal wegen der leeren öffentlichen Kassen, zum zweiten, weil "politische Unvernunft vor vier Jahren das Deutsche Bibliotheksinstitut in Berlin zur Abwicklung gebracht" hätte und ein geplantes Innovationszentrum für Bibliothekswesen ebenfalls durch politische Unvernunft nicht entstanden wäre, obwohl die Mittel schon bereitgestanden hätten.

Wirtschafts- und Marktforschungsprofis arbeiten mit

Die Steuerungsgruppe von "Bibliothek 2007" und die Bertelsmann Stiftung als Projektträger gehen die hehre selbstgestellte Aufgabe mit professioneller Hilfe an. An dem mit 513.000 € veranschlagten Projekt arbeiten Wirtschafts- und Marktforschungsprofis sowie eine Expertengruppe und temporäre Fachgruppen aus dem Bibliotheks-, Informations- und Kommunikationswesen mit. Die Expertengruppe existiert bereits. Die Fachgruppen sollen im Verlauf des Frühjahrs gebildet werden.

Die Steuerungsgruppe

  • Dr. Georg Ruppelt, Sprecher der BDB
    Niedersächsische Landesbibliothek Hannover
  • Dr. Friedrich Geißelmann, Vorsitzender DBV
    Universitätsbibliothek Regensburg
  • Dr. Claudia Lux, DBV
    Zentral- und Landesbibliothek Berlin
  • Ulrich Moeske, DBV, vbnw
    Stadt- und Landesbibliothek Dortmund
  • Christoph-Hubert Schütte
    Universitätsbibliothek Karlsruhe
  • Prof. Dr. Gudrun Behm-Steidel
    Fachhochschule Hannover, Fachbereich Informations- und Kommunikationswesen
  • Annette Rath-Beckmann, Vorsitzende VDB
    Universitätsbibliothek Bremen
  • Dr. Wolfgang Dittrich, VDB
  • Klaus-Peter Böttger, BIB
    Stadtbücherei Mühlheim
  • Sabine Stummeyer, BIB
    Universitätsbibliothek Hannover und
    Technische Informationsbibliothek
  • Henner Grube, ekz.bibliotheksservice
    Reutlingen
  • Christel Mahnke, Goethe Institut Inter Nationes München
  • Bettina Windau, Bertelsmann Stiftung
Booz Allen & Hamilton, eine international renommierte Unternehmensberatung, hilft dem Projekt vor allem dabei, im Ausland beispielhafte Bibliotheken-Strukturen (neudeutsch: Best Practice Beispiele) zu recherchieren. Das infas Institut für angewandte Sozialwissenschaften hat bereits eine bundesweite Expertenbefragung durchgeführt und das Ergebnis jetzt vorgelegt. Die Studie, die in 27seitiger Kurzfassung auf der Homepage von "Bibliothek 2007" publiziert ist, dürfte das Projekt dem Ziel, eine öffentliche, fachliche und politische Diskussion anzustoßen, einen großen Schritt näher bringen.

Entstehen soll ein nationales Strategiepapier

Bei der Definition der Ausgangslage weicht die infas-Studie etwas von der ursprünglichen Zielsetzung ab. Laut infas hat "Bibliothek 2007" "das Ziel, aufzuzeigen, wie die Bibliotheken in Zukunft zu einer optimalen Infrastruktur für Bildung und Kultur beitragen können". Kernelement des Projektes sei "...ein Soll-Modell, das als nationales Strategiepapier dienen soll". Diese Interpretation des Vorhabens entspricht zwar nicht ganz der ersten Projektzielsetzung - die ja hauptsächlich den Diskurs anstoßen wollte - kommt aber der neuen Definition zur Pressekonferenz sehr nahe. Hier wurde der Presse mitgeteilt, die Bertelsmann Stiftung und die BDB wollen "...eine optimierte Einbindung der Bibliotheken als einen integralen Bestandteil des Bildungssystem erreichen". Dafür würden die Partner gemeinsam eine Empfehlung für die zukünftige Gestaltung des Bibliothekswesens in Deutschland erarbeiten und einen Strategieprozess auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene initiieren.

Doch zurück zur Infas-Studie: Inhaltlicher Ausgangspunkt für die Expertengespräche war die Frage nach dem Mehrwert von Bibliotheken und deren Zukunft, steht in der Einleitung. Dazu hat man "Meinungen relevanter Akteure aus den Bereichen Bibliotheken, Bildung, Wissenschaft, Kultur und Politik zu einer Bestandsaufnahme verdichtet" - ergänzt durch "eine komplementäre Sekundäranalyse zahlreicher quantitativer Interviews aus dem Bereich der infas-Bibliotheksforschung". Insgesamt konnte nach Angabe von Infas auf eine Datenbasis von annähernd 40.000 Interviews zurückgegriffen werden. Die ermittelten Informationen wurde anhand eines Analyserasters in anonymisierter Form ausgewertet und in einem Auswertungsworkshop gewichtet. Die Auswertung unterscheidet zwischen Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken.

Öffentliche Bibliotheken: Freundlich, aber nicht modern genug

Während sich die meisten Betroffenen mit der Analyse der Frage "Wie sich die Bibliotheken selbst sehen" noch weitgehend identifizieren dürften, bergen die Ergebnisse zur Frage "Wie Bibliotheken von ihren Kunden gesehen werden" einiges an Diskussionsstoff - ebenso wie die Argumentation zum Mehrwert von Bibliotheken oder die Analyse des aktuellen Berufsbildes von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die man mit einer Typisierung der Mitarbeiter nach Typ A, B oder C versehen hat.

infas fasst zusammen, die Öffentlichen Bibliotheken seien "freundlich, aber nicht modern genug" und begründet das unter anderem damit, dass "mit atmosphärischen Elementen übergreifend nur die Hälfte der Kunden zufrieden" sind. Alle Studien würden "einen messbaren Zusammenhang zwischen der baulichen Ausstattung der Bibliothek, dem Vorhandensein und der Qualität sekundärer Merkmale (Cafeteria, Sanitärräume, Arbeitsräume etc.) und dem Nutzungsverhalten bzw. der Kundenzufriedenheit belegen.

Die Bedeutung der "Bibliothek als Ort" wird laut Untersuchung von allen befragten Experten als hoch eingeschätzt. Zwischen der einhellig positiven Beurteilung der Funktion des Ortes - die unter anderem bis hin zu einer Sichtweise der Bibliotheken als "kontemplative und sinnliche Freizeitorte" reicht - und der Selbstdarstellung der Bibliotheken sowie der praxisgerechten Umsetzung dieser Überzeugung bestehen laut Studie jedoch sichtbare Diskrepanzen. Der proklamierte Mehrwert des besonderen Ortes Bibliothek würde nicht immer selbstbewusst und überzeugend nach außen hin dargestellt.

Interessant auch das Hinterfragen von Nutzungshindernissen: Hier wurde unter anderem analysiert, dass sich rund 80 Prozent der unregelmäßigen oder Noch-Nie-Bibliotheksnutzer ihre Medien selbst kaufen und 50 Prozent lieber von Freunden oder Bekannten ausleihen. 60 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger geben an, keine Zeit für einen Bibliotheksbesuch zu haben.

Sondersammelgebiete kaum bekannt

Die Wissenschaftlichen Bibliotheken sind nach komprimierter Expertenmeinung "Lernorte statt Forscherstätten", deren Nutzungspotential "durch sinnvoll erweiterte Öffnungszeiten noch gesteigert werden könnte", so dass neue Kunden hinzukommen würden. Bibliotheken mit Sondersammelgebieten bescheinigt die infas-Studie, völlig im Verborgenen zu blühen. Sie wären sowohl bei Natur-, als auch bei Geisteswissenschaftlern kaum bekannt. Hier sei noch ein immenses Potenzial für Marketing in eigener Sache gegeben.

Die infas-Bestandsaufnahme gibt auch bereits einzelne Handlungsempfehlungen, die sich nach Auffassung der Arbeitsgruppe aus der Gesamtzufriedenheit der Kunden sowie den Analysen, zum Beispiel im Bezug auf die Selbstwahrnehmung des Berufsbildes, den Mehrwert von Bibliotheken oder das Marketingverhalten, ableiten lassen. So sei vor allem "Eigeninitiative vor Ort" gefragt und die "Professionalisierung des Selbstmarketings" eine Notwendigkeit. Übrigens sollte die Initiative für die Erschließung neuer Zielgruppen prinzipiell von den Bibliotheken ausgehen. Das haben die infas Mitarbeiter aus Aussagen von nicht-bibliothekarischen Experten ermittelt.

Drei Bausteine führen zum Soll-Modell

Die infas-Expertenbefragung ist einer von drei Bausteinen, die als Fundament für das Soll-Modell der "Bibliothek 2007" herangezogen werden. Neben der Befragung fließen noch die Ergebnisse einer Ist-Analyse des deutschen Bibliothekswesens sowie die Auswertung der Internationalen Best Practice Recherchen ein. Beide laufen bereits und sollen noch im ersten Quartal 2003 fertig werden. In der Ist-Analyse wird der Veränderungsbedarf ermittelt, indem man Auftrag und Aufgaben von Bibliotheken definiert, politische und gesetzliche Rahmenbedingen erfasst sowie vorhandene Kooperationen und Möglichkeiten aufzeigt. Darüber hinaus werden Fragen der Wirtschaftlichkeit und Finanzierung sowie der Kundenorientierung behandelt und die Nutzung neuer Technologien analysiert. Ein weiteres Thema sind Innovationen und die Frage, wie eine Infrastruktur zu ihrer dauerhaften Sicherung aussehen könnte.

Zielvorgabe für die Internationalen Best Practice Recherchen ist, von Ländern mit erfolgreicher nationaler Bibliotheksplanung und -entwicklung zu lernen. Durchgeführt werden die Recherchen in Großbritannien, Dänemark, Finnland, den USA und Singapur. Sie sollen Antworten auf Kernfragen liefern, etwa, welche konkreten Maßnahmen ergriffen wurden, um das Bibliothekswesen zu entwickeln, was Erfolgsfaktoren im Bibliothekswesen sind und ob Methoden und Lösungen auf Deutschland übertragbar sind. Erste Ergebnisse lassen nach Mitteilung der Projektpartner erkennen, dass

Das nationale Empfehlungspapier für das deutsche Bibliothekswesen soll noch im Herbst 2003 der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Wenn der Zeitplan wie vorgesehen klappt, wird im zweiten Quartal das Soll-Modell entwickelt, kommuniziert und, falls möglich, schon mit der Umsetzung erster Maßnahmen begonnen. Im dritten Quartal 2003 will man dann evaluieren und in die Entscheidungsphase 2 eintreten - die konkrete Umsetzung.

Die Projektpartner hoffen, dass die im Soll-Modell vorgeschlagenen Maßnahmen bis zum Jahr 2007 zu einer bundesweiten Modernisierung des deutschen Bibliothekswesens führen werden. Deshalb auch "Bibliothek 2007".

Kontakt Projektleitung

Anja Friese
Bertelsmann Stiftung
E-mail: anja.friese@bertelsmann.de


Zur Autorin

Vera Münch ist freie Journalistin und PR-Beraterin

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E-Mail: vera.muench@t-online.de