Scheren im Kopf

Eindrücke von der 29. ASpB-Tagung 2003 in Stuttgart

von Jürgen Goebelbecker

Scheren im Kopf - und gleich mehrere? Bibliothekarinnen und Bibliothekare haben so etwas schon seit längerer Zeit, wenn es um die Zukunft ihrer Einrichtungen geht. So war auch bei der diesjährigen Arbeits- und Fortbildungstagung der AspB, die vom 8.-12.April in Stuttgart stattfand, immer wieder explizit oder implizit von diesen Scheren die Rede.

Noch eine Vorbemerkung: Der Autor, selbst Leiter einer Spezialbibliothek, versteht diesen Artikel nicht als einen möglichst umfassenden und objektiven Bericht über die Tagung, was angesichts der zahlreichen Parallelveranstaltungen von einem Besucher auch gar nicht zu bewerkstelligen wäre. Vielmehr möchte er das Atmosphärische und Essentielle schlaglichtartig resümieren, was er, wie viele andere Tagungsteilnehmer auch, mitgenommen hat, und zum geeigneten Zeitpunkt in die tägliche Arbeit in seiner Bibliothek einfließen lässt.

Erste Schere

Nicht erst seit der sukzessiven Offenbarung des finanziellen Desasters der öffentlichen Hand in den letzten Monaten ist es Thema in Bibliotheken: Stagnierende bzw. sinkende Etats bei gleichzeitigem Anwachsen von Anforderungen und Kosten. Nach dem PISA-Schock beteuern Politiker jeglicher Couleur, künftig mehr für die Bildung zu tun; zeitgleich werden Bibliotheken zu vornehmlichen Opfern bei den Kürzungsszenarien in den öffentlichen Kassen. Konkret bedeutet das für die Bibliotheken, dass sie gleichzeitig an zwei Fronten kämpfen müssen, nämlich sowohl ihre generelle Notwendigkeit als auch ihre konkrete Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen zu müssen. Beide "Fronten" wurden in mehreren Sessions und Workshops der Tagung ausführlich behandelt: "Kompetenz", "Management" und "Qualitätssicherung" waren häufig vorkommende Vokabeln in den einzelnen Fachsitzungen. Dabei spielt, so zeigte die Tagung, die interbibliothekarische Kooperation eine immer größere Rolle, da die Online-Techniken auch in der Welt der Bibliotheken zu einer Art Globalisierung führen. Verbundkataloge und -portale sind die eklatantesten Beispiele hierfür.

Die Qualitätssicherung in Bibliotheken setzt logischerweise auch eine Qualitätsmessung voraus. Zahlreiche Vorträge auf der Tagung befassten sich mit diesem Thema. Von der reinen Theorie bis zu konkreten Fallbeispielen wurden verschiedene Qualitätskriterien und deren Anwendung vorgetragen und diskutiert. Dabei verdichtet sich der Eindruck, dass es wohl kaum ein Patentrezept gibt, welches, weitgehend unmodifiziert auf eine konkrete Bibliothek angewandt, für alle Seiten integre und akzeptable Ergebnisse liefert. Werden aber die Qualitätskriterien für jede Bibliothek individuell angepasst, wird gleichzeitig wieder ein großes Stück Vergleichbarkeit verloren gehen. Natürlich argumentieren die einzelnen Bibliotheken, dass es eigentlich gar nicht um Vergleiche geht, sondern um die absolute Darstellung deren jeweiliger Leistungsfähigkeit. Auch werden sie ins Feld führen, dass ihre jeweiligen Profile so unterschiedlich, ja teilweise singulär sind, sodass Vergleiche nur sehr bedingt angestellt werden dürften. Alles sehr wohl nachvollziehbare Argumente; werden sie die Finanziers der Bibliotheken bei Budgetverhandlungen beeindrucken?

Soviel Zündstoff dieses Thema auch haben mag, alle Bibliotheken werden gut daran tun, sich zumindest mittelfristig mit Qualitätssicherung und -messung zu befassen. Dabei dürfte die Methode "Bottom up" zu weitaus effektiveren und der jeweiligen Bibliothek adäquaten Ergebnissen führen, als ein eventuelles "Top down", verordnet von den Finanziers, schlimmstenfalls mit Hilfe eines bibliothekarisch wenig bewanderten Wirtschaftsberatungsunternehmens (wie vereinzelt schon geschehen). "Bottom up" bedeutet, dass die Bibliotheken selbst solche Qualitätsmessmethoden entwickeln und sie in einem angemessenen Maße über einen bibliotheks-individuellen Status abstrahieren. Bei allem "Modifizierungsbedarf" der vorgetragenen Aspekte war dieses Thema auf der Tagung sehr wichtig und wird es auch bei zukünftigen Tagungen sein, vor allem vor dem Hintergrund langfristig schwieriger Haushaltslagen und somit immer heftiger werdenden Verteilungskämpfen bei den Budgets.

Nochmals zurück zum Thema PISA. Sowohl das Thema an sich als auch die konkreten Ausführungen auf der Tagung zeigten, dass das Problem PISA nicht auf die Bildungseinrichtung Schule verkürzt werden darf. Bibliotheken sollten nicht auf Zurufe aus der Politik warten, sondern müssen in ihrer Rolle als "Bildungs- und Lerneinrichtungen" eigeninitiativ werden. Auch hier sollten sie mit dem Thema "Qualitätsmanagement" beginnen, Defizite auch in den eigenen Reihen suchen und entsprechend beheben.

Zweite Schere

Mit dem Thema PISA und Bibliotheken als Bildungseinrichtungen kommen wir auch schon zur zweiten Schere. Was PISA für die Schüler und Schulen bedeutet, bedeutet SteFi für Studierende und Universitäten. Das zentrale Ergebnis dieser Studie im Auftrag des BMBF zur Nutzung elektronischer wissenschaftlicher Information in der Hochschulausbildung lautet: die Informationskompetenz der meisten Studierenden zur Nutzung elektronischer wissenschaftlicher Information ist in Deutschland unzureichend.

Im generellen Trend zur Online-Information geht es somit nicht nur mehr um die inzwischen schon klassische Problemstellung: "Wie gehen die Bibliotheken damit um?". Vielmehr geht es nun auch um die Frage: "Wie gehen die Kunden damit um?". Die Session "Medien- und Informationskompetenz" befasste sich intensiv mit diesem Thema. Auch hier ging die Spanne von der philosophischen Betrachtung der Konstellation Wissen - Weisheit bis zur Vorstellung sehr pragmatischer Maßnahmen. Bei Letzterem wurde vor allem die Frage beleuchtet, inwieweit Bibliotheken eine Aufgabe in der Schulung von Studierenden in Sachen Medien- und Informationskompetenz haben, um dieser aufgehenden Schere zwischen dem enorm wachsenden Online-Informationsangebot und der offensichtlich beschränkten Nutzungskompetenz zu begegnen. Nicht nur Studierende, sondern auch viele andere in Wissenschaft und Technik tätige Personen erliegen der scheinbaren Universalität der Internets. Doch spätestens bei der Diplomarbeit müssen sie feststellen, dass sie mit "Googeln" keine umfassende Literaturstudie für ihr jeweiliges Forschungsthema erstellen können. Dann ist jedoch bereits wertvolle Zeit zur Erlernung und Nutzung von Informationskompetenz verstrichen.

Für die Bibliotheken ist es also nicht damit getan, ein paar einschlägige Online-Abonnements einzukaufen und den Kunden in Universität und anderen Forschungseinrichtungen hinzuwerfen nach dem Motto "Friss oder stirb!". Bibliotheken müssen künftig auch parallel zum Auf- und Ausbau der Online-Dienste entsprechende Bildungsaufgaben für die Kunden übernehmen. Über dahingehende Schulungsmodelle wurde auf der Tagung in der oben genannten Session ausgiebig berichtet und diskutiert; auch hatten einige Aussteller sich dieses Themenkomplexes angenommen.

Insbesondere zeigt sich die beschriebene mangelnde Informationskompetenz bei der Nutzung von Online-Datenbanken. Für eine Online-Zeitschrift gibt es ja noch ein analoges Print-Medium, für Online-Datenbanken gibt es so etwas Greifbares nicht. Und so verwechseln viele Studierende die Ergebnisse einer Internet-Suchmaschine mit den Inhalten einer Datenbank. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es gerade Datenbankanbieter derzeit besonders schwer haben, sich in der deutschen Wissenschaftswelt eine adäquate Stellung zu erkämpfen. Auf der anderen Seite zeigt das recht bescheidene Abschneiden der deutschen Wissenschaftsexzellenz im internationalen Wettbewerb, dass die deutsche Forschung bei der effektiven Nutzung wissenschaftlicher Information schwächelt.

Was gab es noch auf der Tagung?

Gremienwahlen

Wie üblich nutzten auch viele bibliothekarische Verbände und Interessengruppen die Gelegenheit zu tagen. So wählte die ASpB (Arbeitsgemeinschaft der Spezialbibliotheken e.V.) auf ihrer Mitgliederversammlung einen neuen Beirat, der satzungsgemäß dann wiederum einen neuen Vorstand wählte. Der bisherige Vorsitzende, Dr. Rafael Ball, Leiter der Zentralbibliothek des Forschungszentrum Jülichs, wurde dabei in seinem Amt bestätigt.

Der DBV (Deutscher Bibliotheksverband) wählte auf seiner Mitgliederversammlung Frau Dr. Brigitte Russ-Scherer, Oberbürgermeisterin von Tübingen, zu seiner neuen Präsidentin. Der bisherige Präsident, Dr. Christoph Eichert, Oberbürgermeister von Ludwigsburg, stand aus beruflichen Gründen für eine erneute Amtsperiode nicht mehr zur Verfügung.

Paragraph 52a Urheberrechtsgesetz

Es hätte nicht (un)passender kommen können: Just an dem Tag, an dem der Paragraph 52a die parlamentarische Hürde passierte, hatte die Verlagsgruppe Thieme die Teilnehmer der Tagung zu einer Führung und einem Empfang in das Stammhaus in Stuttgart-Feuerbach geladen. So blieb es nicht aus, dass nach einer ausgiebigen Führung, wo vor allem die beachtenswerte Kunstsammlung des Hauses gezeigt wurde, der Inhaber und Geschäftsführer der Verlagsgruppe, Albrecht Hauff, zu Beginn des Empfangs dieses Thema aufgriff. Er äußerte dabei großes Bedauern und Unverständnis über die nun geltende Version des Paragraphen, der die "Öffentliche Zugänglichmachung für Unterricht und Forschung" jetzt erlaubt. Hauff malte die zu erwartenden negativen Folgen recht drastisch aus und verhehlte auch nicht seine diesbezügliche Kritik gerade an den Spezialbibliotheken.

Der Vorsitzende der ASpB, Dr. Ball, zeigte in seiner Erwiderung zwar Verständnis für die Verärgerung auf Verlegerseite, kritisierte jedoch gleichzeitig, dass die im Vorfeld vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels via Börsenblatt und Internet initiierte Kampagne gegen den Paragraphen 52a in eine regelrechte Beschimpfung der Bibliotheken ausartete. Die Bibliotheken wurden darin als "Plünderer" und "Raubzügler" bezeichnet und in die Nähe des Internet-Providers Napster gerückt, der noch bis vor Kurzem den kostenlosen Download von Musik ermöglichte und damit die internationale Musikindustrie an den Rand des Ruins gebracht haben soll.

Mit dieser Kampagne wurde die Sicht auf die eigentliche Problematik bedauerlicherweise verstellt: Nicht die deutschen Bibliotheken, die mit dem Urheberrecht auch schon bisher sehr sorgsam umgegangen sind und das auch in Zukunft tun werden, sondern die Globalisierung und gleichzeitige Monopolisierung auf dem Markt der wissenschaftlichen Information sind die wirklichen Gefahren für die im internationalen Vergleich eher kleineren deutschen Verlage. Diese Gefahren treffen auch gleichermaßen die Bibliotheken: Schon jetzt werden sie durch die Preispolitik der quasi-monopolistischen großen internationalen Wissenschaftsverlage regelrecht erpresst und können bei ihren meist überrollten Etats diese Erpressung nur durch empfindliche Leistungskürzungen an ihre Kunden weitergeben. So haben die deutschen Bibliotheken im Sinne einer oligopolen Verlagslandschaft letztendlich ein großes Interesse an einem Weiterleben und Florieren der deutschen kleinen und mittelständischen Verlage.

Ausstellung

Die Aufteilung der Ausstellung in kommerzielle und nichtkommerzielle Aussteller ist prinzipiell nichts Neues und bei den einschlägigen Großveranstaltungen (z.B. Buchmesse) schon aus Gründen der Standmieten zwingend. Allerdings hatte man bei dieser Tagung das Gefühl, dass die nichtkommerziellen Aussteller (vor allem Verbände und Verbünde) sich regelrecht mit dem "Katzentisch" begnügen mussten. Natürlich ist die Bibliothek der Universität Stuttgart kein Katzentisch. Da aber fast alle Sessions, Workshops und Versammlungen in einem ca. 500 m entfernten Gebäude stattfanden, in dem auch die kommerziellen Aussteller ihre Stände hatten, war die Besucherfrequenz im Ausstellungsteil in der Bibliothek relativ niedrig. Nicht wenige Tagungsbesucher hatten diesen Ausstellungsteil überhaupt nicht entdeckt. Wie wichtig jedoch bibliothekarische Verbände und Verbünde sind, zeigten gerade wieder die großen Themen dieser Tagung.


Zum Autor

Dr. Jürgen Goebelbecker ist Leiter der Hauptabteilung Bibliothek und Medien des

Forschungszentrum Karlsruhe GmbH
Postfach 3640
D-76021 Karlsruhe
E-Mail: goebelbecker@hbm.fzk.de
URL: www.fzk.de