Die Bibliometrie ist tot - es lebe die Bibliometrie

von H. Peter Ohly

Wieder eine Tagung?

Vom 5. bis 7. November 2003 findet auf Initiative und in der Verantwortung der Zentralbibliothek des Forschungszentrums Jülich die Konferenz "Bibliometric Analysis in Science and Research statt: Bibliometrische Indikatoren, Bibliometrisches Mapping, Webmetrie und Forschungspolitik stehen auf dem Programm. Nach einer Phase der Beruhigung auf dem Bibliometriesektor scheint dieses Forschungsfeld nun von der Bibliothekswissenschaft wieder eine Belebung zu erfahren. Vor allem in den 80er-Jahren wurden Gesetze von Bradford, Lotka, Zipf und heiß diskutiert. Halbwertszeiten, Forschungsfronten und Kernzeitschriften sind Dank der Datenbanken des ISI problemlos aufzuspüren und werden gerne zur Selbstbespiegelung der Wissenschaft benutzt (Diodalo 1994). Die Zeitschrifen Scientometrics und die JASIST belegen, dass die mathematischen Modellierungen auf diesem Gebiet noch immer nicht an ihre Grenzen gestoßen sind. Und Vereinigungen wie die Gesellschaft für Wissenschaftsforschung oder die ISSI und deren Diskussionsliste oder Sigmetrics zeigen, dass nach wie vor eine starke Community auf diesem Gebiet aktiv ist. Andererseits hat der Begriff Bibliometrie ein wenig von seinem schillernden Glanz verloren und wird gerne durch Mapping, Cybermetrics (gleichnamig das "International Journal of Scientometrics, Informetrics and Bibliometrics), Information Mining und anders in modernere Kontexte gesetzt (Park/Thelwall 2003). War es das relativierende Wissenschaftsverständnis, der Wegfall der konkurrierenden politischen Systeme oder die stürmische Medienentwicklung in der Wissenschaft, welche die Bibliometrie aus der Bibliotheks- und Informationsdiskussion vorübergehend verschwinden ließ?

Bibliometrie als Geheimwissenschaft

Die Faszination der Bibliometrie ist spätestens seit de Solla Price (1963) in dem Umstand begründet, dass sich hier eine Analyse des Unsichtbaren (Wissen, Wissenschaft) mit indirekten Messvorgängen durchführen lässt. Es sind also nicht mehr der einzelne Experte oder eine Wissenschaftsinstanz, die ihre subjektive Einschätzung über den Forschungsinhalt und die Verfasstheit der Wissenschaften abgeben. Statt dessen wird Material (z.B. Bücher), das die Wissenschaft selbst produziert hat, beiläufig, nicht-reaktiv so analysiert, so dass ein "objektives Bild der Wissenschaft entsteht. An Stelle von Vermutungen treten Fakten, die auch von Wissenschaftsexternen formal gewonnen werden können, nur schwer zu widerlegen sind und in jedem Falle das Konzept Wissenschaft greifbar machen. Ähnlich wie Psychometrie und Soziometrie werden indirekt Strukturen sichtbar, die geisteswissenschaftlicher Natur und damit eigentlich nicht direkt greifbar oder gar messbar sind. Wurde die gedruckte Form des Science Citation Index einst dazu benutzt, weiterführende Literatur zu finden, so ist spätestens mit der quantitativen Auszählung und erst recht mit seiner elektronischen Version seine vorrangige Verwendung vor allem für Zitations- (wer von wem) und Referenzanalyse (wer wen) gesichert (Garfield 1995). Moderne Nachfolger stehen mit SPIRES, Citebase u.a. vor der Türe (Hitchcock et al. 2003). Wer möchte nicht heimlich aus riesigen Datenmengen mit Unterstützung des Computerknechtes herausfinden, was die Konkurrenz wohl plant und ob sie weiter vorn als man selbst liegt?

Wissenschaftsranking und kein Ende

Unter dem Eindruck sinkender staatlicher Budgets, zunehmendem Outsourcing und wirtschaftlicher Zurückhaltung beeilt sich die Wissenschaft selbst, immer neue Messziffern zu finden, die belegen sollen, dass sie produktiv, qualitätsvoll und geschätzt ist. Die Anzahl zufriedener Studenten, erfolgreicher Absolventen, angemeldeter Patente, der Umfang von Drittmitteln, die Güte von Veröffentlichungen und Lehrveranstaltungen, die Beanspruchung von Fördergeldern und Personal, die Nebeneffekte auf wissenschaftliche Transfers, Lebensqualität und Nachhaltigkeit - dies alles lässt sich in ein kompliziertes Geflecht von Aggregationen und Gewichtungen einbringen, mit dem Ziel, die knappen Mittel rationaler zu verteilen und die Wissenschaft transparent und kontrollierbar zu machen. Mit der Veröffentlichung und öffentlichen Diskussion von Rankinglisten wird die Demokratisierung und die gesellschaftliche Steuerung des Wissenschaftsbetriebs sichergestellt (Weingart/Winterhager 1984; Der Spiegel 1999; DFG 2003).

Die Macht der Reaktivität

Es dürfte aber prinzipiell falsch sein, die Wissenschaft als einen technischen Mechanismus von unmotivierten Erfüllungsgehilfen anzunehmen. Wer weiß, wie Zahlen gewonnen und bewertet werden, wird sich auch Gedanken machen, wie man am geschicktesten diese Zahlen beeinflussen kann. Wo Qualität und Kompetenz gefragt ist, wird es nicht schwer fallen, Kartelle aufzubauen, die diese garantieren. Und wenn eine Strategie sich bewährt hat und noch dafür belohnt wird, wird es auch möglich sein, genau diese zum eigenen Vorteil auszubauen (Fröhlich 1999). Niemand fragt, welche alternativen Werte von denen geschaffen wurden, die aus den offiziellen Leistungskriterien herausfielen - als ob Energie verloren gehen könnte. Was auf der Strecke bleibt, sind diejenigen, die der Sache wegen Wissenschaft betreiben, die langfristige Forschungsziele in unspektakulären Schritten stützen, die unkonventionell Wissenschaft betreiben oder die Methodenkritik ernst nehmen.

Bibliometrie in der Neuen Ökonomie

Einerseits hat die Elektronisierung und Vernetzung zu einer leichteren Durchführbarkeit von bibliometrischen Datenanalysen geführt, andererseits wird sie dadurch auch wieder an ihre Grenzen erinnert. Solange es trennbare Wissenschaftskulturen, unverbundene Wissenschaftsprodukte und monolithische Informationsressourcen gab, ließen sich Wissenschaftsurrogate auf Einheiten zurückführen, aufsummieren und reihen. In einer Welt, in der vieles in vielfältiger Weise umgesetzt wird, in der nicht nur das verlagsmäßig Gedruckte zählt, in der alles explizit Anleihen bei anderem macht, wird es zunehmend schwerer, Wissenschaftsinhalte, Wissenschaftseinheiten und Wissenschaftsauswirkungen zu definieren oder gar ursächlich zuzuschreiben. Wer ist in einer Informationsgesellschaft eigentlich der Wissensproduzent und wer der Konsument? Haben wir eine Massen-Wissensgesellschaft mit Monopolen oder eine Napsterisierung, in der Wissenshacker dem Wissensfortschritt so oder so zum ungeplanten Durchbruch verhelfen (Kuhlen 1995, 2002; Rousseau 1999)? In jedem Falle sollte eine Zumessung von Forschungsleistungen, -effektivität oder -relevanz zunehmend eher vermessen sein.

Wird die Bibliometrie postmodern?

Eine Bibliometrie, die sich als eine Wissenschaft von der Messbarkeit und Aussagekraft der wissenschaftlichen Prozesse und Produkte versteht, wird dort wieder anzusetzen haben, wo sie einst begonnen hat: nämlich bei der Hinterfragung dessen, wie Wissenschaftlichkeit und Forschungsfortschritt sich objektiv ausdrückt und wie dies "unobstrusiv ermittelt und sozialverträglich kommuniziert werden kann. Messung muss dabei auf einer höheren Ebene stattfinden: nämlich als Erreichung von Qualitätsstufen, die nicht linearen Prozessen sondern vielmehr diskreten Entwicklungen unterliegen und ohne qualitative Bestimmungen nicht auskommen. Unrealistisch ist es auch, dabei zu glauben, alles dirigistisch nach regeltechnischen Grundsätzen lösen zu können. Vielmehr wird für Aushandlungen und freie Wettbewerbe auf dem Wissenschaftsmarkt vorsätzlich Platz eingeräumt werden müssen. Eine so eingesetzte Bibliometrie hat dann eher den Charkter eines Wissensbenchmarking (van Raan 1997; Weingart 2003). Die Jülicher Konferenz wird sich vielleicht daran messen lassen müssen, wieweit es ihr gelingt, Quantität in Qualität umschlagen zu lassen und auch entfernt buchähnliche Wissenseinheiten zu finden, die nach wie vor einen empirischen Vergleich der einzelnen Wissensgebiete rechtfertigt. Die angemeldeten Themen, welche Anwendungen, politische Verwertungen und Methodik umfassen, dürften dafür sprechen.


Literatur

Der Spiegel: Dossier Uniranking: Deutsche Hochschulen im Vergleich. Hamburg: Spiegel-Verlag 1999

DFG: Förder-Ranking 2003: Institutionen - Regionen - Netzwerke: DFG-Bewilligungen und weitere Basisdaten öffentlich-geförderter Forschung. Bonn: Lemmens Verlags- & Mediengesellschaft 2003.

Diodato, Virgil: Dictionary of Bibliometrics. New York: The Haworth Press 1994

Fröhlich, Gerhard (1999): Das Messen des leicht Messbaren. Output-Indikatoren, Impact-Maße: Artefakte der Szientometrie? In: Becker, Jörg; Göhring, Wolf (Hrsg.): Kommunikation statt Markt - Zu einer alternativen Theorie der Informationsgesellschaft (GMD Report 61). St. Augustin: Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung - Forschungszentrum Informationstechnik GmbH, S. 27-38. Auch als: http://www.gmd.de/publications/report/0061/Text.pdf verfügbar (zuletzt aufgerufen: 20.8.2003).

Garfield, Eugene (1995): Citation Indexes for Science. In: Science 122, S. 108-111

Hitchcock, Steve et al. (2003) "Evaluating Citebase, an open access Web-based citation-ranked search and impact discovery service". Author eprint, to be published (als http://opcit.eprints.org/evaluation/Citebase-evaluation/evaluation-report-journal.html verfügbar; zuletzt aufgerufen 20.8.2003).

Kuhlen, Rainer: Informationsmarkt: Chancen und Risiken der Kommerzialisierung von Wissen. Konstanz: UVK 1995

Kuhlen, Rainer: Thesen zum Panel Verfassung der Wissensgesellschaft Tagung Wissenswert, WZB, Berlin 17.-18.4.2002. (Als http://www.wz-berlin.de/wissenswert/Präsentationen/rk-podium180402-v2.pdf verfügbar; zuletzt aufgerufen 20.8.2003.)

Price, Derek J. de Solla. Little Science, Big Science. New York: Columbia University Press, 1963 (dt. Übersetzung 1974 im Suhrkamp Verl.)

Park, Han Woo; Thelwall, Mike: Hyperlink Analyses of the World Wide Web: A Review. In: Journal of Computer-Mediated Communication 8 (4) July 2003. (Als http://www.ascusc.org/jcmc/vol8/issue4/park.html verfügbar; zuletzt aufgerufen 20.8.2003.)

Rousseau, Ronald: Sitations: an exploratory study. In: Cybermetrics Vol. 1 (1999). (Als http://www.cindoc.csic.es/cybermetrics/articles/v1i1p1.html verfügbar; zuletzt aufgerufen 20.8.2003.)

Van Raan, Anthony F. J.: Scientometrics: State-of-the-Art. In: Scientometrics 38 (1997), Nr. 1, S. 205-218

Weingart, Peter: Wissenschaftssoziologie. Bielefeld: Transscript Verlag 2003

Weingart, Peter; Winterhager, Matthias: Die Vermessung der Forschung. Theorie und Praxis der Wissenschaftsindikatoren. Frankfurt/M: Campus 1984.


Zum Autor

H. Peter Ohly

Deutsche Sektion der Internationalen Gesellschaft für Wissensorganisation
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