Viereinhalbtausend Bibliothekare in Berlin

Bericht von der IFLA 2003 - Weltkongress Bibliothek und Information

von Vera Münch

Die kritische Finanzlage, die den deutschen Bibliotheken derzeit große Schwierigkeiten bereitet, verblasste vor den Sorgen von Adama Samassékou zur Marginalie. Der Afrikaner, früher Bildungsminister in Mali, ist Präsident des Vorbereitungskomitees für den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS = World Summit on the Information Society, www.itu.int/wsis). Am Beispiel der Berliner Mauer, deren Fall er als "historische Zelebration von Freiheit und Solidarität" bezeichnete, lenkte Samassékou die Aufmerksamkeit auf neue Mauern, die heute die Menschheit teilen. "Da gibt es diejenigen, die lesen können und jene, die es nicht können. Da sind die Informations-Reichen und die Informations-Armen", sagte Samassékou. Man würde heute über die Welt als einen "globalisierten Planeten" sprechen, doch in Wirklichkeit sei er geteilt durch viele Trennmauern - nicht nur durch den sogenannten Digital Divide. Doch Samassékou sieht auch Hoffnung - und hier die Bibliothekarinnen und Bibliothekare auf der ganzen Welt in einer wichtigen Position: "Ich bin fest überzeugt, dass die Rolle von Bibliothekaren und Informationsdiensten bei der Erzeugung und Verbreitung von Wissen sowie in formaler und informalerer Ausbildung nicht nur weiterhin unverzichtbar sein, sondern immer wichtiger werden wird."

Das Menschenrecht auf Information

Insgesamt beschäftigte sich der Kongress mit einer Vielzahl von allgemeinen und auch hoch spezifischen Fachthemen. Diese Themen werden im Vorfeld von den 46 verschiedenen Sektionen der IFLA vorgeschlagen und vom nationalen Organisationskomitee (NOK) zusammen mit dem IFLA-Vorstand ausgewählt. Sie reichten von Tipps für die Ausstattung des Lesesaals über die technischen Vorstellung von Dokumentenliefer- und -managementsystemen bis hin zu neuen Organisationsmodellen für Bibliotheken. In weiten Teilen aber standen Fragen des Aufbaus einer Weltkultur im Mittelpunkt, die allen Menschen den gleichberechtigten Zugang zu Information und Wissen bietet. Stephen Parker, Redakteur des IFLA Journals, erklärte, der Zugang zur Information und die freie Verfügbarkeit von Information für alle Menschen seien ein Hauptanliegen der IFLA und damit auch des Kongresses in Berlin. Dabei ginge es nicht nur um Informationsverfügbarkeit und Zugriffsmöglichkeiten, sondern vor allem auch um die Qualitätssicherung. Referiert wurde in verschiedenen Sprachen. Zu den meisten Hauptvorträgen gab es eine Simultanübersetzung in deutsch, englisch, spanisch, französisch und russisch. Eine gewaltige Organisationsleistung. Das Gesamtprogramm des Kongresses ist auf der IFLA-Homepage im Internet abrufbar: www.ifla.org oder www.ifla-deutschland.org

Das "Menschenrecht auf Information" bezeichnet die IFLA als eines der Kernelemente ihrer Arbeit. Wie wichtig den Mitgliedern die stärkere Beschäftigung mit der Beseitigung von Informationsdefiziten vor allem auch in Schwellenländern ist, drückten sie unter anderem mit der Wahl von Kay Raseroka aus Botswana zur neuen IFLA-Präsidentin aus. Raseroka übernahm das Amt im Rahmen der Abschlussveranstaltung der IFLA 2003 von der bisherigen Präsidentin Christine Deschamps aus Frankreich. Unter Raseroka's Präsidentschaft sind die nächsten zwei Jahre dem Leitthema "Libraries for Lifelong Literacy" (Bibliotheken für lebenslange Lese- und Schreibkompetenz) gewidmet. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärte die neue Präsidentin:

Geben statt nehmen - ein neues Ziel für den Konferenzbesuch

Irmgard Lankenau, Direktorin der Universitätsbibliothek Koblenz-Landau, ließ sich bei ihrem ersten Besuch einer IFLA davon überzeugen, künftig im Rahmen solcher Kongresse die internationale Solidarität mehr in den Mittelpunkt des eigenen Denkens zu stellen: "Die IFLA ist eine Konferenz, auf der wir vielleicht mehr geben als nehmen sollten. Was wir in unserem durchorganisierten Kulturkreis als absolut selbstverständlich empfinden, ist für Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern oft ein ganz großes Problem", so Lankenau. Geschenke stellten für die Bibliotheken hierzulande kein Problem dar, aber für die Kollegen in den Schwellen- und Entwicklungsländern durchaus, wenn veraltete Auflagen verschenkt oder unsystematisch Buchgeschenke an Bibliotheken verteilt würden. "Ich meine, wir sollten unser Know How weiter geben. Hier können wir Schwellenländern vielleicht helfen." Für sich und ihre Arbeit hat Lankenau von der IFLA einiges mitgenommen: "Das Gespräch mit Leuten aus anderen Ländern ist immer fruchtbar. Aber ich habe mich auf der Ausstellung auch über neue Produkte und Verbesserungen informiert. Die Firmen haben uns im Vorfeld angeschrieben und auf ihre Neuheiten aufmerksam gemacht, so dass ich gezielt Termine wahrnehmen konnte."

Aussteller und Konferenzbesucher beklagen hohe Gebühren

160 Aussteller begleiten den Kongress in Berlin - so gut wie alle Unternehmen, die in Deutschland Bibliotheksausstattungen anbieten. Zum ersten Mal traf man auch alle wichtigen Anbieter aus der deutschen Informationswirtschaft auf einem internationalen Bibliothekarstreffen. Sie nutzten die Gelegenheit, neben der Kontaktpflege mit ihren deutschen Kunden ihre Fühler auch einmal in Richtung internationale Bibliothekswelt auszustrecken: "Wir bearbeiten diesen Markt nicht aktiv. Aber wir freuen uns, wenn jemand vorbeikommt", brachte es der Geschäftsführer des Münchner Wirtschaftsinformationsanbieter GBI, Peter Müller-Bader, auf den Punkt. Eigentlich mit der Organisation ganz zufrieden, ärgerten sich viele Aussteller darüber, dass sie (Originalzitat) "wie Geldkühe gemolken" würden. Es ginge nicht um die Standgebühren, sondern darum, dass man für jeden Standmitarbeiter extra bezahlen sollte und auch, dass man sich einfach abgezockt fühle, wenn der Chip auf der Eintrittskarte für die Konferenzbesucher in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln als Fahrkarte gültig sei, der Chip auf den Eintrittskarten der Aussteller aber nicht.

Nicht nur die Aussteller, auch viele Konferenzbesucherinnen und -besucher beklagten die Preisstruktur. Der Leiter einer Bibliothek aus Sachsen-Anhalt rechnete in Berlin vor: "Bei einem Jahres-Reiseetat von 1000 € sind 150 € eine Menge Geld". Eine Kollegin aus einer Unibibliothek in Sachsen hätte wegen der Gebühren gleich komplett auf den Besuch verzichtet.

200 Freiwillige im Schichtdienst im Einsatz

Nichts desto trotz stellten die Deutschen mit 947 Besucherinnen und Besuchern die größte Gruppe gefolgt von den USA mit 491 Delegierten und Großbritannien mit 225. Aus den Niederlanden waren 171 Teilnehmer angereist, aus der russischen Föderation 141. Vielen der russischen Besucher war die Teilnahme möglich, weil sie von westlichen Firmen und Verbänden gesponsert wurden. Aus Frankreich waren 140 Fachleute in Berlin, aus Schweden und Dänemark jeweils um die 100.

Zahlreiche der in Berlin vertretenen deutschen Konferenzteilnehmer erarbeiteten sich ihre Eintrittskarte durch Einsatz in der Organisation des Kongresses. Nicht weniger als 200 Freiwillige empfingen die Besucher, betreuten Sprecher, Übersetzer und die Presse und kümmerten sich um die Aussteller - im Schichtdienst! Dr. Hildegard Müller, leitende Direktorin der Universitätsbibliothek in Trier, war eine von ihnen. Während sie sich darum kümmerte, dass den Übersetzern genügend Manuskriptkopien für die Simultanübersetzung zur Verfügung standen, erzählte sie aus ihrem Arbeitsalltag: "Zur Zeit arbeite ich in Trier mit studentischen Hilfskräften, die freiwillig viele Stunden in der Bibliothek verbringen, damit wir alle Eingänge offen halten können. Wir probieren aus. Aber das kann auf Dauer natürlich nicht so weitergehen." Die Finanzkrise mache allen zu schaffen, wirke sich stark auf den Erwerbungs- und Personaletat aus. Man müsse sich etwas einfallen lassen. "Ich bin hier in Berlin, um mich über neue Geschäftsmodelle zu informieren und neue Ideen kennen zu lernen, unter anderem vielleicht auch für neue Formen des Sponsoring. Sponsoring an den Unis hat in Deutschland keine gute Tradition", erzählte Müller.

Ruppelt fordert mehr Engagement - von Politik und Bibliotheken!

So waren die Finanzprobleme der Bibliotheken in Deutschland trotz aller internationalen Ausrichtung in Berlin doch allgegenwärtig. Vielfach wurde die Meinung vertreten, dass mangelndes politisches Interesse die Krise verschärfe. Dr. Georg Ruppelt, Sprecher des Bundesverbandes Deutscher Bibliotheksverbände (BDB) e.V. und als Präsident des Nationalen Organisationskomitees (NOK) der IFLA 2003 für die Ausrichtung des Kongresses verantwortlich, wünschte sich in seiner Eröffnungsrede, "dass die Politik und die Stadträte sich öfter einmal in den Bibliotheken sehen lassen würden", genau so selbstverständlich, wie sie auf Fußballplätzen und Sportveranstaltungen anzutreffen wären. Er kenne sogar einen Bürgermeister, so Ruppelt weiter, der in seiner kommunalen Bibliothek regelmäßig arbeite und auch ausleihe. "Dieser Bibliothek geht es im Vergleich zu anderen Kommunen gut! Es zeigt sich nämlich, dass, wenn trotz aller Sparzwänge das Bewusstsein von der Bedeutung einer Bibliothek für die eigene Stadt, die eigene Region vorhanden ist, und vor allem der politische Wille, sie zu fördern, dass diese Bibliothek einen guten Stand bei Finanzverhandlungen hat." Freilich müssten die Bibliotheken dafür aktiv sein und von sich aus zeigen, was sie zu leisten im Stande sind - und das durchaus auch geräuschvoll, motivierte der Leiter der Niedersächsischen Landesbibliothek seine Kolleginnen und Kollegen zu mehr Engagement.

Neue Lizenzierungs- und Geschäftsmodelle durch vascoda?

Dass sich die Politik in den Fachabteilungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) der Verantwortung bewusst ist, die sie im Bezug auf die Unterstützung des Strukturwandels in der Bibliothekslandschaft hat, zeigte sich unter anderem bei der Präsentation von vascoda.de im Rahmen der IFLA. vascoda ist ein neues fächerübergreifendes Internet-Portal zu wissenschaftlichen Publikationen, das vom BMBF und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gemeinsam gefördert wird. "vascoda soll dabei helfen, der Informationsflut im Internet zu trotzen und über das Portal qualitätsgeprüfte wissenschaftliche Information zu entdecken", sagte Dr. Christine Thomas bei der Freischaltung des Portals, hinter dem eine strategische Allianz aus 37 deutschen Bibliotheken, Forschungsinstituten und Fachinformationseinrichtungen steht. Thomas begründete: "Das BMBF hat den Aufbau von vascoda unterstützt, um für die Informationsnutzer einen transparenten, umfassenden Zugang zu Datenbanken, Volltexten und Dienstleistungsangeboten der Deutschen Informationsanbieter zu schaffen. Wir sind überzeugt davon, dass in der Bündelung der in Deutschland vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen ein hohes Potential für ein effizientes Informationssystem steckt." Thomas hob hervor, dass die teilnehmenden Partner neben dem operativen Betrieb des Portals auch mit Verlagshäusern über neue Lizensierungs- und Geschäftsmodelle verhandeln.

Einbindung von eJournalen ist die größte Herausforderung

Dr. Jürgen Bunzel, Gruppenleiter Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme bei der DFG, erklärte zur Eröffnung von vascoda, die DFG betrachte das Portal als einen wichtigen Schritt, mit dem akademische Informationsinstitute in Deutschland neue Strukturen für das digitale Informationszeitalter aufbauen. Bunzel freute sich über die Allianz: "Ich denke, es ist das erste Mal, dass die deutschen Bibliothekare und der deutsche Fachinformationssektor ihre Kapazitäten zusammenbringen, um einen integrierten Informationsdienst einzurichten." Er führte aus, was die DFG an dem Konzept überzeugt habe, unter anderem: die Qualitätssicherung, die von den beteiligten Instituten in Bezug auf die Quellen geleistet werde. Dies grenze vascoda deutlich von anderen Suchmaschinen ab. Weiter die Möglichkeit, der wissenschaftlichen Gemeinschaft Informationen in komprimierter Form anzubieten, die genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind, und nicht zuletzt die Harmonisierung der eingesetzten Technik: "vascoda wird eine weit verbreitete technische Infrastruktur bereitstellen, mit der man die Informationsspeicherung, den Zugang, die Verbreitung und die langfristige Konservierung verteilter Inhalte managen kann", so Bunzel. Als größte Herausforderung für vascoda bezeichnet er die geplante "Integration kommerzieller digitaler Produkte, besonders von elektronischen Journalen". Die DFG sei tief besorgt, dass elektronische Publikationen in deutlichem Kontrast zu papiergebundener Bibliotheksleihe nicht länger allgemein für jede interessierte Person verfügbar seien. "Personen, die nicht über eine institutionelle Lizenz auf ein spezifisches Journal zugreifen können, welches ausschließlich elektronisch publiziert wird, könnten in bestimmten Fällen komplett vom Zugang zum Inhalt des Journals ausgeschlossen werden", zeichnete Bunzel wenig erfreuliche Perspektiven auf. "Das ist eine ernsthafte Bedrohung für die akademische Freiheit von Information."

Bibliotheken sind die wichtigsten Berater der Verlage

IFLA-Generalkonferenzen
der nächsten Jahre

70. IFLA
General Conference and Council
22. bis 27. August 2004
Buenos Aires, Argentinien

71. IFLA
14. bis 18. August 2005
Oslo, Norwegen

72. IFLA
2006
Seoul, Republik Korea

73. IFLA
2007
Durban, Südafrika

74. IFLA
2008
Quebec, Kanada

Arnoud de Kemp, Verlagsdirektor Sales und Marketing des wissenschaftlichen Springer-Verlages wies in der Eröffnungspressekonferenz sehr klar auf die Bedeutung der Bereitschaft zu einer gemeinsamen Marschrichtung hin: "Bibliotheken und Verlage sind in einem System der Partnerschaft verbunden, das nur funktioniert, wenn es sich im Gleichgewicht befindet". Die Beziehung zu den hoch spezialisierten und hoch professionalisierten Bibliotheken ... hätten sich im Laufe des Übergangs zum elektronischen Zeitalter enorm gewandelt. Bibliotheken seien inzwischen nicht nur die wichtigsten Kunden, sondern auch die wichtigsten Berater der Verlage. So legten sich Verleger und Bibliothekare regelmäßig ihre Positionen dar, um "das Verbindende und das Trennende zu klären und schließlich zu beider Vorteil und zur gegenseitigen Befruchtung zusammenzuarbeiten". Springer trat auf der IFLA 2003 nicht nur als Aussteller, sondern auch als einer der Hauptsponsoren auf.

NOK ist mit dem Erfolg sehr zufrieden

Am Ende der Konferenz war der NOK-Vorsitzende Ruppelt glücklich und zufrieden: "Ein Kongress neigt sich dem Ende zu, den ich mit einem Wort kennzeichnen möchte: sonnig." Besonders das Medieninteresse sei für ihn überwältigend gewesen. 120 Journalistinnen und Journalisten bei einer Pressekonferenz - so etwas hätte die deutsche Bibliothekswelt noch nicht erlebt. "Die Weltkonferenz hat uns die Möglichkeit eröffnet, die Öffentlichkeit und die Politik darauf hinzuweisen, wie sich das deutsche Bibliothekswesen in den letzten zehn Jahren verändert hat. Hier hat eine Revolution stattgefunden, wie sie fortschrittlicher und spannender für Informationsfachleute eigentlich nicht sein kann." Zum Abschluss der IFLA 2003 sagte Ruppelt, 4563 Teilnehmer aus 133 Ländern hätten eine Woche lang gezeigt, "wie engagiert und erfolgreich Bibliothekare arbeiten, wie gut sie diskutieren und ihre Anliegen einer wirklich hochinteressierten Medienlandschaft und Öffentlichkeit darstellen können". Er dankte allen, die sich in der Vorbereitung und Ausrichtung der IFLA 2003 verdient gemacht haben: Den Freiwilligen, den Mitgliedern des nationalen Organisationskomitees, der IFLA und den Sponsoren. Die acht Hauptsponsoren erwähnte er dabei namentlich.


Zur Autorin

Vera Münch ist freie Journalistin und PR-Beraterin

PR + Texte
Leinkampstraße 3
D-31141 Hildesheim
E-Mail: vera.muench@t-online.de