INFORMATION MACHT BILDUNG
Bemerkungen zum Motto des Zweiten Gemeinsamen Kongresses
von Georg Ruppelt
Mit Wohlgefallen wurde zunächst in der Programmkommission und schließlich dann auch von anderen Berufskollegen der Vorschlag des BDB-Sprechers für das mehrdeutige Kongress-Motto INFORMATION MACHT BILDUNG aufgenommen. ("Man hätte wenig Freude, wenn man sich niemals schmeichelte." - La Rochefoucauld.) Versuchen wir nun im Folgenden, diese Mehrdeutigkeit einmal etwas auszuleuchten.
Information macht Bildung
Will man die wesentlichen Aufgaben von Bibliotheken und Informationseinrichtungen auf kürzeste Weise zusammenfassen, so könnte man formulieren: Bibliotheken haben die Aufgabe, Informationen zu sammeln und bereitzustellen und ihren Lesern/Kunden/Endnutzern bei der Suche nach Informationen zu helfen. Dies waren bereits ihre Aufgaben im vordigitalen Zeitalter; sie haben freilich im Zeitalter der Multimedialität eine ungeheuere Ausweitung erfahren. Das Aufgabenspektrum lässt sich etwa wie folgt zusammenfassen:
Jemand, der in der Lage ist, Informationen zu kanalisieren, sie zielgerichtet an Individuen und an Gruppen zu bringen oder auch diese Information zu verhindern, hat Macht; und mit diesem Hinweis wollen wir uns dem schönen Kongress-Motto aus einer anderen Sichtweise nähern.
INFORMATION - MACHT - BILDUNG
"Wissen ist Macht", sagt der Volksmund und sagt damit - wie so häufig - etwas Richtiges. Es hat zu allen Epochen der Menschheitsgeschichte Personen gegeben, welche die eigene Macht stärken und erhöhen wollten, indem sie anderen den Zugang zur Macht, was auch Zugang zu Wissen und zu Informationen bedeuten kann, verwehrten. Auch unsere Gegenwart kennt dafür leider genug Beispiele. In unserer zweiten Schreibweise des Tagungsmottos steht der Begriff Macht vom Ort her gesehen zwischen Information und Bildung. Dies kann als Bindeglied oder auch als Trennung interpretiert werden.
Machthaber, noch dazu, wenn sie unbeschränkte Macht ausüben, haben die Möglichkeit, Informationen nach gusto zu selektieren oder zu verändern, gemäß ihrer Beurteilung, ob die entsprechende Information für die Ausübung ihrer Macht "gut" oder "schlecht" ist. Sie haben die Möglichkeit Informationen zurückzuhalten, und sie haben die Möglichkeit falsche Informationen weiterzugeben.
Die Gründe für Manipulationen an Informationen und am Informationsfluss können sehr verschiedene sein. Schon immer hat es einzelne Personen oder Gruppen gegeben, die davon überzeugt waren, dass ihre Weltsicht einer allgemein gültigen Wahrheit entspricht. Wenn diese Einzelnen oder Gruppierungen in ihrem Einflussbereich auch noch über die tatsächliche Machtanwendung verfügen können, versuchen sie nicht selten, auch andere an "ihrer" Wahrheit teilhaben zu lassen. Dies kann durch Überzeugungsarbeit, aber auch durch physische oder psychische Gewaltausübung geschehen, es geschieht fast immer durch Manipulationen an Informationen und am Informationsfluss.
In diesem Zusammenhang sei einmal die Ausübung von Macht durch einzelne Besessene betrachtet, die sich auf der Grundlage irgendwelcher Ideologien Macht über viele andere erkämpft oder erschlichen haben und diese sichern wollen. Menschenschinder wie Hitler, Stalin, Pol Pot, Kim Il Sung und wie sie alle heißen, haben Millionen Menschen Tod und unendliches Leid zugefügt. Sie haben auch Millionen Menschen ausgeschlossen von Informationen, vom ganz persönlichen geistigen Fortschritt, von der Freude an der eigenen Bildung, von der Schönheit des durch Informationen und Bildung ermöglichten Wissens, von der auf diese Weise erlangten Befriedigung der Erkenntnis.
Mag man den Hinweis auf die geistigen und seelischen Auswirkungen von Unfreiheit auch als marginal empfinden im Vergleich zu dem Leid und Elend, das die Welt auch ohne diktatorische oder ideologische Machtausübung erfährt, ein Verbrechen am Individuum bleibt es allemal, denn jedem dieser Millionen Individuen wurde, lassen wir einmal die transzendentalen Sichtweisen der Religionen außer Betracht, mit seinem kurzen Leben nur dieser eine einzige Versuch geschenkt.
Menschen von Bildung fern zu halten, kann aber auch ökonomische Gründe haben, die freilich wiederum direkt mit Machtausübung zusammenhängen. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte und Gegenwart genug. Eine der aufrüttelndsten Szenen eines Romans der Weltliteratur zu diesem Thema findet sich in Aldous Huxleys "Brave New World", der vor 72 Jahren erschienen ist. Huxley, der 1932 vom Klonen noch nichts wissen konnte, beschreibt darin detailliert eine durch biotechnologische Manipulationen stabilisierte Klassengesellschaft. Die Nachkommenschaft wird in vitro erzeugt, wobei die oberste, die Alpha-Klasse, prä- und postnatal eine exzellente Betreuung erhält. Die unteren Klassen treten hingegen als Mehrfachlinge in die Welt, wo sie niedrigste Arbeit zu verrichten haben und durch schrankenlosen Sex mit Angehörigen der eigenen Klasse und primitive Vergnügungen bei Laune gehalten werden.
Es schadet sicherlich nicht, wenn man zu einem Bibliothekskongress, noch dazu in Nachbarschaft zur Leipziger Buchmesse auch einmal ein Stück Weltliteratur zu Gehör bringt.
Hier ein Ausschnitt aus Huxleys Roman, der in einer Brutanstalt spielt. Der Direktor der Anstalt führt eine Anzahl Studenten durch die Anlage. In einem Saal sind lange Reihen vielfarbiger Rosen in Schalen aufgestellt; zwischen ihnen liegen aufgeschlagene Kinderbücher mit bunten Bildern:
"'Nun bringen Sie die Kinder!' Die Pflegerinnen eilten hinaus und kehrten nach ein paar Minuten zurück; jede schob so etwas wie einen hohen Stummen Diener vor sich her, dessen vier drahtvergitterte Fächer mit acht Monate alten Kindern beladen waren, alle einander genau gleich [...] und alle, da sie der Deltakaste angehörten, in Khaki gekleidet. 'Setzen Sie sie auf den Boden!' Die Kinder wurden abgeladen. 'Nun wenden Sie sie so, dass sie die Blumen und Bücher sehen können!' Kaum war das geschehen, verstummten die Kinder und begannen, auf die Sträuße mit ihren seidig schimmernden Farben, auf die so fröhlich auf den weißen Buchseiten leuchtenden Figuren loszukrabbeln. [...] Aus den Reihen der krabbelnden Kinder ertönten kleine aufgeregte Schreie, freudiges Lallen und Zwitschern. Der Direktor rieb sich die Hände. 'Großartig' sagte er. [...]
Die flinksten Babys waren schon am Ziel. Unsicher streckten sich Händchen aus, berührten, ergriffen und entblätterten die vom Sonnenlicht verklärten Rosen, zerknitterten die Bilderbuchseiten. Der Direktor wartete, bis alle vergnügt beschäftigt waren. 'Und nun passen Sie auf!' sagte er und gab mit erhobener Hand ein Zeichen.
Die Oberpflegerin, die am anderen Ende des Saals vor einem Schaltbrett stand, drückte einen kleinen Hebel nieder.
Ein heftiger Knall. Gellendes und immer gellenderes Sirenengeheul. Rasendes Schrillen von Alarmglocken.
Die Kinder fuhren zusammen. Sie begannen zu schreien, die Gesichtchen von Entsetzen verzerrt.
'Und jetzt', brüllte der Direktor, denn der Lärm war ohrenbetäubend, 'werden wir ihnen die Lektion mit einem kleinen elektrischen Schlag einbläuen.'
Er winkte abermals, die Oberpflegerin drückte einen zweiten Hebel. Das Schreien der Kinder hörte sich plötzlich anders an. Verzweiflung, fast Wahnsinn klang aus diesen durchdringenden Schreikrämpfen. Die kleinen Körper zuckten und erstarrten, ihre Arme und Beine bewegten sich ruckartig, wie von unsichtbaren Drähten gezogen. 'Wir können diesen Teil des Fußbodens unter Strom setzen' brüllte der Direktor erklärend. 'Aber jetzt genug!' bedeutete er der Pflegerin.
Die Detonationen hörten auf, die Klingeln verstummten, das Sirenengeheul erstarb Ton für Ton. Die zuckenden Kinderleiber lösten sich aus ihrem Krampf, das irre Stöhnen und Schreien ebbte zu einem gewöhnlichen Angstgeplärr ab. 'Geben Sie ihnen nochmals die Blumen und Bücher!'
Die Pflegerinnen gehorchten, aber beim bloßen Anblick der Rosen, der bunten Bilder mit den Miezekatzen, Hottehüpferdchen und Bählämmern wichen die Kinder schaudernd zurück; ihr Geplärr schwoll sogleich wieder zu Entsetzensgeschrei an.
'Beachten sie das, meine Herren', sagte der Direktor triumphierend, 'beachten Sie das genau! Bücher und unerträglicher Lärm, Blumen und elektrische Schläge - schon der kindliche Verstand verband diese Begriffe miteinander, und nach zweihundert Lektionen dieser oder ähnlicher Art waren sie unlösbar miteinander verknüpft. Was der Mensch zusammenfügt, das kann Natur nicht trennen.'
'So wachsen sie mit einem, wie die Psychologen zu sagen pflegten, »instinktiven« Hass gegen Bücher und Blumen auf. Wir normen ihnen unausrottbare Reflexe an. Ihr ganzes Leben lang sind sie gegen Druckerschwärze und Wiesengrün gefeit.'"
Macht über Wissen, Macht über Informationen können aber nicht nur Einzelne oder Gruppierungen ausüben, denen die gesetzgebende oder die ausübende oder die richterliche Gewalt oder alle drei zusammen zur Verfügung stehen, Macht über den Informationsfluss haben auch Menschen, die an Schnittstellen zwischen dem Entstehen der Information und ihrer Weitergabe arbeiten. Über die hohe Verantwortung von Presse- und Medienvertretern wird in diesem Zusammenhang viel diskutiert. Demgegenüber tritt die Tatsache zurück, dass sich auch Bibliothekare an einer Schnittstelle der Macht befinden, deren Wirkungsmächtigkeit nicht zu unterschätzen ist. Von ihren Fähigkeiten, von ihren Kenntnissen und von der Ausstattung ihrer Bibliothek kann es unter anderem abhängen, ob der Informationssuchende die von ihm gewünschte Information tatsächlich erhält, und zwar komplett und rasch.
Die Möglichkeit, Menschen schnell und sicher an Informationen heranzuführen oder sie davon auszuschließen, haben Bibliothekare früher noch in weit höherem Maße gehabt. Wir erinnern uns an Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose", in dem es dem Bibliothekar Jorge gelingt, den Zugang zu Aristoteles' drittem Buch aus ideologischen Gründen zu verhindern. Aus der Geschichte einer alten deutschen Bibliothek ist bekannt, wie gestrenge Oberbibliothekare auf verdeckte Weise zunächst die "Wissenschaftlichkeit" eines Besuchers prüften, ehe sie ihm den Zugang zu bestimmten alten Drucken ermöglichten. Diese Einstellung eines "Königs auf dem Hafersack" ist heute vereinzelt noch bei Bibliotheksverantwortlichen zu beobachten, die die Konkurrenzmuster einer Universitätslaufbahn in dienstleistungsfixierten Bibliotheken zur Anwendung bringen.
Wir können dieses Ver- oder Behinderungsverhalten auch beobachten, wenn die Benutzung älterer Bestände trotz vorsichtiger und den Regeln der Buchschonung entsprechender Behandlung dadurch unterbunden wird, dass gegenüber dem relativ wehrlosen Benutzer völlig überzogene konservierungstechnische Argumente ins Feld geführt werden.
Doch dergleichen hat in unseren Zeiten als Ausnahme, wenn auch als sehr unangenehme, zu gelten. Der heutige Bibliothekar und Informationsdienstleister sieht es als seine größte Pflicht und sein schönstes Vergnügen an, jedem Bürger den Zugang zu Informationen jeder Art und zu jeder Zeit zu ermöglichen. Damit kommt ihm eine wichtige vermittelnde Rolle bei der Ausübung des Grundrechtes auf Informationsfreiheit zu. Dieses aber ist eines der fundamentalen Menschenrechte. Es gehört zum Kerngehalt dieses Rechtes, dass jedem Bürger, unabhängig von seinen Vermögensverhältnissen oder seiner Herkunft, die Möglichkeit geboten wird, sich in selbstbestimmter Auswahl vom Inhalt aller veröffentlichten Publikationen, gleichgültig in welcher physikalischen Form sie auf den Markt kommen, Kenntnis zu verschaffen. Uneingeschränkte Informationsfreiheit ist die Voraussetzung für die Freiheit der Meinungsbildung, was wiederum die Voraussetzung ist für das Grund- und Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung.
Vor diesem Hintergrund sollten wir Bibliothekarinnen und Bibliothekare, Informationsdienstleisterinnen und Informationsdienstleister uns gelegentlich daran erinnern, welch wunderbaren Beruf wir haben, nicht weil wir in der Lage sind Macht auszuüben, sondern weil wir durch unsere Arbeit zur nachhaltigen Sicherung moderner freiheitlicher Gesellschaften beitragen dürfen.
Im Jahr 2004, in dem wir des 225. Geburtstages eines Großen unter unseren Vorgängern gedenken, scheint es angemessen, dass man diesen Kämpfer für Meinungs- und Informationsfreiheit mit einer Erinnerung an seine, bibliothekspolitisch gesehen heute nicht mehr ganz korrekten "Parabel" ehrt.
Gotthold Ephraim Lessing, geboren 1729 in Kamenz, von 1746 bis 1748 Student in Leipzig:
"Ein andres ist ein Pastor: ein andres ein Bibliothekar. So verschieden klingen ihre Benennungen nicht: als verschieden ihre Pflichten und Obliegenheiten sind.
Überhaupt denke ich, der Pastor und Bibliothekar verhalten sich gegen einander, wie der Schäfer und der Kräuterkenner.
Der Kräuterkenner durchirret Berg und Tal, durchspähet Wald und Wiese, um ein Kräutchen aufzufinden, dem Linneus noch keinen Namen gegeben hat. Wie herzlich freuet er sich, wenn er eines findet! Wie unbekümmert ist er, ob dieses neue Kräutchen giftig ist, oder nicht! Er denkt, wenn Gifte auch nicht nützlich sind - (und wer sagt es denn, daß sie nicht nützlich wären?) - so ist es doch nützlich, daß die Gifte bekannt sind.
Aber der Schäfer kennt nur die Kräuter seiner Flur; und schätzt und pflegt nur diejenigen Kräuter, die seinen Schafen die angenehmsten und zuträglichsten sind.
So auch wir, ehrwürdiger Mann! - Ich bin Aufseher von Bücherschätzen; und möchte nicht gern der Hund sein, der das Heu bewacht: ob ich schon freilich auch nicht der Stallknecht sein mag, der jedem hungrigen Pferde das Heu in die Raufe trägt. Wenn ich nun unter den mir anvertrauten Schätzen etwas finde, von dem ich glaube, daß es nicht bekannt ist: so zeige ich es an. Vors erste in unsern Katalogen; und dann nach und nach, so wie ich lerne, daß es diese oder jene Lücke füllen, dieses oder jenes berichtigen hilft, auch öffentlich: und ich bin ganz gleichgültig dabei, ob es dieser für wichtig, oder jener für unwichtig erkläret, ob es dem einen frommet, oder dem andern schadet. Nützlich und verderblich, sind eben so relative Begriffe, als groß und klein."