Schäfer, Hans-Michael:
Die kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg

Geschichte und Persönlichkeiten der Bibliothek Warburg
mit Berücksichtigung der Bibliothekslandschaft und der Stadtsituation
der Freien und Hansestadt Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts

- Berlin: Logos, 2003. XIV, 413 S. (Berliner Arbeiten zur Bibliothekswissenschaft; 11)
ISBN 3-825-0074-X

Zu den Mythen des modernen Bibliothekswesens gehört die Bibliothek des Kunsthistorikers und passionierten Büchersammlers Aby Moritz Warburg (1866-1929), die sich vom studentischen Handapparat zu einer der bedeutendsten kulturwissenschaftlichen Fachbibliotheken der Welt mit über 60.000 Bänden entwickelte. Nach der Gründung der Hamburger Universität im Jahre 1919 wurde sie dieser institutionell lose angegliedert, bis sie Ende 1933 vor dem Zugriff der Nationalsozialisten nach England gerettet werden konnte. Mit dem Forschungsschwerpunkt zum "Nachleben der Antike", der interdisziplinären Ausrichtung des Bibliotheksbestandes, den exzellenten Mitarbeitern der Bibliothek (u.a. Fritz Saxl und Gertrud Bing) und der Einbindung der Bibliothek in wissenschaftliche Kreise weit über Hamburg hinaus (hier gingen u.a. Ernst Cassirer, Erwin Panofsky, Edgar Wind und Richard Salomon ein und aus), wurde die Bibliothek Warburg zu einem geistigen Zentrum der Weimarer Republik.

Der Mythos der Bibliothek Warburg ist die wunderbare Theorie von der optimalen Bibliothek, gekleidet in das "Gesetz der guten Nachbarschaft": Das Buch, das man sucht und findet, ist manchmal gar nicht jenes, das man braucht, und es kommt dann darauf an, in der Nachbarschaft dieses Buches andere Bücher zu finden, die bei der Lösung eines Problems weiterhelfen, auch wenn ihr Titel dies zunächst nicht erkennen lässt. (1) Das wird realisiert durch eine "neuartige und ungewohnte, aber überzeugende Aufstellungssystematik" (S. 292) und andere, für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ungewöhnliche bibliothekarische Konzepte.

Hans-Michael Schäfer unternimmt in seiner Dissertation erstmals den Versuch, die Bibliothek Warburg unter bibliothekswissenschaftlichen Gesichtspunkten zusammenhängend darzustellen. Nach akribischen Untersuchungen erklärt er die Bibliothek zum Vorbild der modernen Forschungsbibliothek schlechthin, die sich außerhalb der gängigen Strukturen des deutschen Bibliothekswesens zu einem wichtigen Zentrum für Kunst- und Kulturgeschichte von europäischem Rang entwickelte.

Schwerpunkte dieser außergewöhnlichen Arbeit sind

  1. die Person Aby Warburg - seine Herkunft aus einer jüdischen Bankiersfamilie, sein Profil, sein Image, seine Kontakte zu Politikern, Gelehrten und Studenten und zu den Mitarbeitern und Benutzern seiner Bibliothek
  2. die zeit- und bibliotheksgeschichtliche Einbindung der Bibliothek in die Bibliothekslandschaft Preußens, insbesondere die Wissenschaftlichen Bibliotheken, die Öffentlichen Bibliotheken und die Berufsausbildung sowie der Kontext zur Freien und Hansestadt Hamburg, insbesondere zu den Bibliotheken und zur Universität
  3. der Auf- und Ausbau der Bibliothek als eines Typs Forschungsbibliothek, "die den üblichen Maßstab im damaligen Bibliothekswesen weit überschritt" (S. 293), insbesondere der Gründungsgedanke, die typologischen Aspekte, das gekonnte Zusammenspiel der verschiedenen Schrift- und Medientypen und die zahlreichen Benutzungserleichterungen (wie eine neue Aufstellungssystematik, die sich nach den Forschungszielen ausgerichtet präsentierte) sowie der Neubau der Bibliothek
  4. der Umgangston in der Bibliothek, "von deutlich liberaler Prägung geprägt" (S. 293), insbesondere der menschliche Umgang, vergleichbar mit der heute propagierten Personalführung (Motivation und Loyalität der Mitarbeiter, ihr Können und ihre Hilfsbereitschaft) sowie die Biographien der Leiter und Mitarbeiter.

Nicht behandelt werden "die vielfältigen Aspekte, Ein- und Rückwirkungen der damaligen geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten, Publikationen und Vorträge der verschiedenen Wissenschaftler an der Bibliothek Warburg" sowie aufgrund des noch nicht erarbeiteten retrospektiven Bestandskatalogs der Bibliothek in ihrer Hamburger Zeit "eine inhaltliche Stellungnahme zum Gesamtbestand und zur Bestandsentwicklung" (S. XII).

Aus heutiger Sicht, so das Fazit des Autors, nimmt die Bibliothek Warburg eine Vorreiterrolle ein. Das Prinzip einer "Problembibliothek, wie Aby Warburg sie verstand und wie sie heute als Forschungsbibliothek bezeichnet würde", ist in der sich entwickelnden Wissensvernetzung von besonderer Bedeutung (S. 295). Die Bibliothek Warburg ist für ihn zurecht ein Vorgriff auf die Entwicklung der Bibliothek im 21. Jahrhundert: "Die Symbiose aus diversen Medientypen und individuell frei systematisierbaren Inhalten, die Medienkonvergenz, wie sie durch das Internet und dank aktueller Informations- und Kommunikationstechnologien heute möglich ist" (S. 293) hat in dieser Bibliothek einen Vorgänger.

Das alles ist überzeugend dargestellt, und so ist die Dissertation eine große Bereicherung der bibliotheks- und wissenschaftshistorischen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Der einzige Makel ist die Zögerlichkeit des Autors bei der Benennung und Behandlung des Gesetzes der guten Nachbarschaft, das er zum Prinzip herabstuft, ganz versteckt beschreibt und zu zaghaft in die Bibliotheksarbeit integriert (S. 90, 222, 230, 292). Das tun andere, ausgerechnet Nichtbibliothekare, in den letzten Jahren offensiver und pathetischer - anno 2002 der Spieltheoretiker Michael Kosfeld (1) und der Kulturwissenschaftler Markus Kirchhoff (2) sowie anno 2000 der Literaturwissenschaftler Nikolaus Wegmann (3). Der Museologe Peter-Klaus Schuster beschäftigt sich 2002 in einem bibliothekswissenschaftlichen Sammelband u.a. mit Warburgs Bibliotheksgebäude aus dem Jahr 1926 (4).


(1) Kirchhoff, Markus: Häuser des Buches: Bilder jüdischer Bibliotheken. Leipzig, 2002. S. 99-103.

(2) Wegmann, Klaus: Bücherlabyrinthe: Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter. Köln, 2000. S. 286-288.

(3) Schuster, Peter-Klaus: Mnemosyne: Anselm Kiefers Bibliotheken im "Hamburger Bahnhof". In: Die besondere Bibliothek. Berlin, 2002. S. 307-309. - Warburg widmete sich in den letzten Lebensjahren dem nie vollendeten Projekt "Bilderatlas Mnemosyne", in dem etwa 1.500 Fotos thematisch auf Tafeln so zusammengestellt sind, dass sie die Quintessenz seiner Forschungen veranschaulichen sollten. "Mnemosyne" steht über der Eingangstür seines 1926 eröffneten Bibliotheksgebäudes.


Anschrift des Rezensenten

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
D-12557 Berlin
E-Mail: dieter.schmidmaier@schmidma.de