Singapur: Bibliotheken für eine lernende Nation

von Christel Mahnke

Auf dem Leipziger Bibliothekskongress fiel eine Besuchergruppe besonders auf. Lag es an den Kopftüchern, die manche von ihnen trugen? Oder an der Hautfarbe, die sie als Besucher aus einem fernen Land verriet?

Wer die Veranstaltung "Bildung und Information" besuchte, erfuhr es genau: es war eine Gruppe von Bibliothekaren aus Singapur, die auf einer Studienreise durch Deutschland in Leipzig Station machte. Eingeladen vom Goethe-Institut besuchten sechs Bibliotheksleiter aus Singapur verschiedene Einrichtungen in Berlin, Leipzig, Dresden und Würzburg. Der Leipziger Kongress "Information Macht Bildung" mit anschließendem Besuch der Buchmesse war einer der Höhepunkte. In einer kurzen Präsentation berichteten die Gäste aus Singapur, wie es zu der Erfolgsgeschichte der Bibliotheken in ihrer Heimat kam.

Alles begann mit dem "Bibliotheksplan 2000". Die Regierung beschloss Mitte der 90er Jahre, in die Köpfe ihrer Bürger zu investieren und damit die einzige Ressource des Stadtstaates noch besser zu nutzen. Der Auftrag an die Bibliotheken, die bis dahin eher ein Schattendasein geführt hatten, lautete: Das Lernen aller Bürger zu fördern, um die Wettbewerbsfähigkeit Singapurs zu stärken und die Kultivierung der Gesellschaft zu fördern. Innerhalb weniger Jahre sollte ein erstklassiges Bibliothekssystem entstehen, das für alle Bürger Singapurs leicht zugänglich und nützlich ist. Wie jeder in der Bibliothekswelt weiß, wurde dieses ehrgeizige Ziel erreicht: von 1994 bis 2000 hat sich die Zahl der Ausleihen knapp verdreifacht, die Zahl der Besucher ist sogar um das fünffache gestiegen. Heute haben die Bibliotheken Singapurs fast 33 Millionen Besucher im Jahr, die Zahl der Ausleihen liegt bei knapp 35 Millionen. Singapur hat vier Millionen Einwohner, also besucht - statistisch gesehen - jeder Bürger achtmal pro Jahr eine Bibliothek. Zum System gehören die Nationalbibliothek, zwei Regionalbibliotheken, 20 Stadtteilbibliotheken und 33 Kinderbibliotheken. Jede einzelne Bibliothek hat ihr eigenes Profil: es gibt die "Lifestyle Library", den "Learning Superstore" und viele Angebote für Kinder und Jugendliche. Computerkurse für Menschen von 8 bis 80 werden überall angeboten. Bisher haben mehr als 100.000 daran teilgenommen.

Durch den Einsatz modernster Technik wie vollelektronische Selbstverbuchung und automatische Sortierung der zurückgegebenen Medien können sich die Bibliothekare ganz auf den Kundenservice konzentrieren. Der Auskunftsdienst genießt hohe Priorität, und es wird von den Bibliothekaren erwartet, auf Fragen in mindestens zwei der vier Verkehrssprachen Singapurs (Malaiisch, Chinesisch, Tamilisch, Englisch) antworten zu können. Dabei hilft ihnen eine Datenbank von "oft gestellten Fragen", die auch für die Kunden online zugänglich ist. Gebäude und Räume der Bibliotheken sind sorgfältig geplant und von Designern gestaltet, Lage und Öffnungszeiten sind auf das Profil der Bibliothek und die Wünsche der Kunden abgestimmt. Neun der zwanzig Stadtteilbibliotheken liegen in Einkaufszentren. Zu Anfang waren die Betreiber der Zentren skeptisch, ob Bibliotheken in die Nachbarschaft exklusiver Geschäfte passen - heute hat sich gezeigt, dass Bibliotheken die Besucherzahlen erhöhen. Damit sind sie zu begehrten Mietern geworden.

Seit 2001 ist die Digitale Bibliothek für alle Bürger zugänglich. Unter der Adresse www.elibraryhub.com kann man sich kostenlos anmelden und mehr als 23.000 elektronische Bücher, Zeitschriften, Datenbanken und digitalisiertes Material zur Geschichte Singapurs nutzen. Vom wissenschaftlichen Dokument bis zu Reiseführern und Gartenbüchern ist das Angebot weit gefächert. Diese Digitale Bibliothek wird ständig ausgebaut und bietet spezielle Dienste für Geschäftsleute an. Verschiedene Archive und Forschungsbibliotheken sind in das System integriert, auch Dokumente der British Library lassen sich hier abrufen. Aber Singapur setzt keineswegs darauf, dass die Digitalen Dienste die physische Bibliothek überflüssig machen. Beides ergänzt sich, und digitale Quellen werden durch die Inszenierung der Information im Raum und natürlich die Vermittlung durch geschultes Personal erst wirklich nutzbar. Dafür spricht auch, dass in Singapur trotz hoher Besiedlungsdichte und entsprechenden Grundstückspreisen Bibliotheken als attraktive, öffentlich zugängliche Räume neu eingerichtet werden.

Zu den interessantesten Neueröffnungen der letzten Jahre gehört die "library@esplanade", eine Spezialbibliothek für Theater, Tanz und Musik. Hier gibt es nicht nur Bücher, Partituren und jede Art von audiovisuellen Medien, sondern auch Musikinstrumente, Räume zum Proben und für Aufführungen. Musikstunden für Kinder und Tango-Kurse für die fortgeschrittene Jugend ermöglichen jedem einen unkomplizierten Zugang zu westlichen und asiatischen Kunstformen. Die Bibliothek liegt inmitten eines neu erbauten Kulturzentrums in einem eigenwillig gestalteten Gebäude direkt am Meer. Konzertsäle, Theater, Buchläden und Restaurants formen ein Ensemble, in dem die Bibliothek intensiv genutzt wird. Auch die Bibliothekare sind Teil der kreativen Atmosphäre. Manchmal gibt es eine spontane Jam-Session mit Besuchern mitten in der Nacht.

Wie erleben nun die Fachkollegen aus dem "bibliothekarischen Wunderland" unsere deutschen Bibliotheken? Aufgefallen ist ihnen die hohe Priorität des Informationsdienstes in den besuchten Bibliotheken bei allgemeiner Personalknappheit. Positiv wurde die Architektur neuer Bibliotheksbauten vermerkt. Die Präsentation der wertvollen Altbestände der Sächsischen Staats- und Landesbibliothek haben sie als atemberaubend beschrieben und den hohen Standard der Altbestandskonservierung in Deutschland festgestellt. Interessant fanden sie auch die Musikabteilungen der Bibliotheken.

Seit einigen Jahren baut das National Library Board die internationalen Beziehungen aus. Das Netzwerk ist im asiatischen Raum schon dicht geknüpft. In Europa gibt es bisher nur mit der British Library ein Kooperationsabkommen. Die Kontakte zu deutschen Bibliotheken scheinen noch ausbaufähig zu sein.

2005 wird das neue Gebäude der Nationalbibliothek eröffnet, dessen Pläne schon heute auf der Website anzusehen sind. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Regierung von Singapur Bibliotheken als wichtigen Faktor für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ihres Landes ansehen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Beispiel an Weitsicht auch deutsche Politiker anregt.

(Weitere Informationen zu Bibliotheken in Singapur unter www.nlb.gov.sg. Das Goethe-Institut ist gern bereit, Kontakte zu Bibliothekaren in Singapur zu vermitteln.)


Zur Autorin

Christel Mahnke leitet den Bereich Bibliothekskooperation und Planung des Goethe-Instituts

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