Wissensmanagement in der Wissenschaft

Tagung der Gesellschaft für Wissenschaftsforschung und des Instituts für Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin am 26. und 27. März 2004

von Ben Kaden, Andrea Kaufmann und Roland Wagner-Döbler

Seit einigen Jahren ist das Institut für Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Universität Tagungsort und Mitveranstalter der jährlichen Fachtreffen der Gesellschaft für Wissenschaftsforschung. Nachdem man im letzten Jahr Probleme der Wissensbewertung ("Evaluation wissenschaftlicher Institutionen - Ziele und Verfahren") näher beleuchtete, stand dieses Jahr ein Aspekt im Mittelpunkt, der von Interesse für Informationseinrichtungen mit Wissenschaftlern und wissenschaftlich Arbeitenden als Hauptklientel sein dürfte: nämlich Management und Organisation des Wissens in der Wissenschaft selbst. Bewusst hat man sich darauf eingelassen, Aspekte des in der Wirtschaft bzw. Wirtschaftsliteratur in den letzten Jahren viel diskutierten Wissensmanagements tentativ auf den Wissenschaftsprozess zu übertragen, obwohl dieser traditionell weniger mit Management als mit selbstgesetzten methodologischen Maßstäben der Wissenserzeugung und -bewertung zu tun hat.

Als Aspekt des Wissensmanagements in der Wissenschaft kann man die hochschuleigene Lehre betrachten. Peter Mambrey (Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik, St. Augustin) berichtete über seine Erfahrungen mit dem Groupware-System BSCW (Basic Support for Cooperative Work), welches er seit sieben Jahren in der Lehre eingesetzt und mit etwa 400 Studierenden erprobt hat. Aus diesen Erfahrungen zog er sein Fazit, dass kollektive Lernplattformen weitgehend nur als asynchrone Dokumentenablagesysteme benutzt werden. Sie sind deshalb zwar für die Organisation des Lehrbetriebs geeignet, eröffnen jedoch keinesfalls die neuen virtuellen Lernräume, die sie - technisch gesehen - versprechen. Entscheidend für die Intensivierung und Stimulation des kollektiven Lernens ist zusätzlich, so Mambrey, eine Vertrauenskultur, die erst ein gewisses Maß an Bereitschaft zur aktiven Nutzung solcher Systeme nach sich zieht. Dafür ist ein Zeitraum eines Semesters jedoch zu gering, so dass ein wirklicher kollektiver Lernprozess meist nicht zu Stande kommt.

Matthias Kölbel (Bundesministerium für Bildung und Forschung) ging, aus seinem Dissertationsprojekt berichtend, der Fragestellung nach: "Ist die Wissenschaft geeignet organisiert, um für die Lösung gesellschaftlicher Probleme fruchtbar zu sein?" und erwog dabei, wie bestimmte Wissensmanagementprinzipien auf die Organisation von Wissenschaft übertragen werden könnten. Er übertrug das Quadrantenmodell von Donald E. Stokes auf die Wissenschaft und betrachtete dann Wissenstransferprozesse, die sich a) innerwissenschaftlich und b) rekursiv in der Triade Wissenschaft, Politik und Wirtschaft vollziehen. Als optimal für eine sinnvolle Verzahnung von Wissenschaft und Gesellschaft sah er aus dieser Dreiecksbeziehung resultierende interdisziplinäre, "hybrid gesteuerte" Forschungsprojekte ("Pasteurs Quadrant"), wobei er jedoch auch hier eine bislang dominierende Orientierung auf das "technisch Machbare" ("technology push") und die zu geringe Berücksichtigung von Nachfrage und Anwendungsnutzen ("demand pull") bemängelte. Vor diesem Hintergrund einer Art Nachhaltigkeit prognostizierte Kölbel einen Bedeutungszuwachs für die Wissensquelle "Wissensbestand", also dem bereits vorhandenen gespeicherten Wissen (dem "Gedächtnis der Menschheit"), welchen er allerdings gefährdet sieht, sofern nicht entsprechende Methoden und Kompetenzzentren z.B. in Gestalt von "Wissensmanagern" entwickelt werden, die als Adapter zwischen Wissenschaft und Gesellschaft fungieren.

Ebenfalls an der Hochschule, jedoch nicht als Lernplattform wie Mambrey, sondern als Ort der Generierung wissenschaftlichen Wissens siedelte Thomas Herrmann (Universität Dortmund, Fachbereich Informatik) seine Überlegungen zu Anwendungsmustern und Perspektiven des Wissensmanagements an. Ihm ging es darum, die Grundmuster des Wissensmanagements, wie sie sich in Unternehmen herausgebildet haben, auf ihre Anwendbarkeit und Übertragbarkeit in der Wissenschaft hin zu betrachten. Dabei sah er spezifische Probleme, wie z.B. die höhere fachliche Vernetzung der Wissenschaft, die eine besondere Kommunikationskultur bedingt, gepaart allerdings mit einem - von "außen" gesehen - überraschend ausgeprägt zufälligem, wir würden sagen, geradezu voluntaristischen Moment. Die aus Großunternehmen bekannte top-down-Variante des Wissensmanagements ist für die sich zu großen Teilen selbstorganisierende Wissenschaft eher ungeeignet, da sie an Interessen und Ansprüchen möglicher Nutzer vorbei zielt ("Dekontextualisierung"); eine reine bottom-up-Variante wiederum birgt die Gefahr einer "Zerfaserung" der Kommunikation, was ebenfalls ein abnehmendes Interesse an der Partizipation nach sich ziehen würde. Wichtig sei, so Herrmann, neben der eigentlichen und vielfach gepflegten Vernetzungskultur der Wissenschaft eine Integration persönlicher Anwendungsmuster mit einem übergreifenden Metawissen als verbesserte Orientierung in ein Gesamtsystem. Wir sehen mit diesem Metawissen durchaus Bereiche wie "Information Literacy" oder auch Wissenschaftstheorie und -forschung angesprochen.

Aus dem Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft resultierte nach dem Zweiten Weltkrieg ARPA's Information Processing Techniques Office, dessen mehr oder weniger direkte Folge das Internet als "technische" Schöpfung war. Ronda und Jay Hauben (New York) beschäftigten sich in ihren Vorträgen jeweils mit dieser historischen Entwicklung, wobei beim Vortrag von Ronda Hauben der Einfluss J. C. R. Lickliders (erster Direktor der IPTO), seine wissenschaftliche Verankerung in der Kybernetik Norbert Wieners bzw. der Politischen Kybernetik Karl Deutschs und dessen Vision einer entstehenden "cybernetic community", aus der schließlich die "research library of the future" erwachsen sollte, im Mittelpunkt stand. Darauf aufbauend illustrierte sie die Entwicklungsgeschichte der elektronischen Kommunikationsnetze Arpanet, NPL (National Physical Laboratory Data Network), CYCLADES und schließlich des Internet, und zeigte damit auf, dass das Internet keine geradlinige Entwicklung hinter sich hat und letztendlich nur eines der verschiedenen elektronischen Netze ist - aber die erfolgreichste bzw. bislang am besten für eine breite Anwendung geeignete Form.

Jay Hauben wiederum beschrieb Leben und Werk von Vannevar Bush, der mit seinem Konzept des so genannten MEMEX visionäre Vorarbeit für das, was wir heute wissensbasierte Systeme nennen leistete sowie von John Kemeny, dem Ko-Entwickler der Programmiersprache BASIC, der mit der Gleichstellung der "computer literacy" mit der "reading literacy" ein Vorreiter dessen war, was wir heute unter "information literacy" verstehen. Er war überzeugt, dass die Probleme der Gesellschaft zwar nicht ausschließlich durch einen Einsatz von Computern gelöst werden können, jedoch zu komplex sind, als dass man auf "highly sophisticated use of computers" verzichten könnte.

Erhard Nullmeier (Fachhochschule für Technik und Wirtschaft, Berlin) wies auf die bislang unzureichende Beachtung psychologischer Faktoren bei der aktuellen Diskussion wissensbasierter Systeme hin. Obwohl sich Wissenschaft, da auf Publikation beruhend, per se und scheinbar ausschließlich im Bereich des expliziten Wissens anzusiedeln, auf den ersten Blick sogar noch besser für die Implementierung von Wissensmanagementsystemen anbietet als Wirtschaftsunternehmen, darf die Tatsache, dass Wissensgenerierung sich immer individuell vollzieht und daher zwangsläufig (sofern der Mensch in ihr eine Rolle spielt) ein implizites Moment enthält, nicht vernachlässigt werden. Das erschwert die Entwicklung von wissensbasierten Systemen ungemein, da es bislang nicht gelungen ist, dieses implizite Moment in künstlichen Systemen ausreichend abzubilden. Eine Reduzierung der Wissenschaft auf das "formelhaft Explizite" ist unzureichend und birgt die Gefahr, dass man - getreu der vom Referenten zitierten "Dialektik der Dinge" Adornos und Horkheimers - den Kontakt zu eben den Dingen verliert.

Als einen wichtigen Unterschied zwischen der Anwendung von Wissensmanagement in Unternehmen und in der Wissenschaft betonte Wladimir Bodrow (Koautor: Klaus Fuchs-Kittowski, beide Fachhochschule für Technik und Wirtschaft, Berlin), dass es in der Wirtschaft beim Wissenserwerb typischerweise darum geht, bestehendes Wissen zu organisieren und mit dem Zweck der am Unternehmenserfolg sichtbaren Effizienzsteigerung einzusetzen. Demgegenüber sei die Aufgabe von Wissenschaft die Generierung neuen Wissens, für das u. U. überhaupt noch kein weiteres Anwendungsfeld neben der Wissenschaft selbst, geschweige denn identifizierbarer wirtschaftlicher Nutzen existiert.

Sven Wippermann (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Institut für Bildungsmanagement; Koautorin: Rose Vogel, PH Ludwigsburg, Institut für Mathematik und Informatik) erläuterte "Didaktische Design Pattern als Best Practice". Es ging hier nicht, wie man im ersten Moment vermuten konnte, um (erfolgsträchtige) didaktische Prinzipien, die man möglicherweise im Wissensmanagement nutzt, sondern darum, wie die Erfahrungen von Lehrenden mit dem Einsatz von Neuen Medien nutzbringend für andere Lehrende "eingefangen", d.h. dokumentiert werden könnten. Vorgestellt wurde ein Gestaltungsgerüst, eben ein "Design Pattern", das diesen Wissenstransfer unterstützt.

Wie man den "Anteil an Wissen in Bibliotheken" abschätzen könnte, erläuterte Walther Umstätter (Humboldt-Universität Berlin, Institut für Bibliothekswissenschaft), der eine Annäherung an die Problematik über den Begriff des "Verständnisses" unternahm und sich dabei kritisch mit der bekannten Studie von P. Lyman und H. R. Varian "How Much Information" (2003, School of Information Management and Systems, University of California at Berkeley) auseinander setzte. Dabei beschrieb er fünf Ebenen, die sich durch zunehmende Komplexität des "Verstehens" voneinander unterscheiden. Die einfachste Variante ist die informationstheoretisch festgelegte Ebene, bei der es ausschließlich um die richtige Encodierung und Decodierung einer Nachricht geht, von der die korrekte Übermittlung einer Information abhängt. Hier leisten künstliche Systeme hervorragende Dienste. Auch auf der "Ebene der Bedeutung", auf der Umstätter semiotische Systeme (z.B. semiotische Thesauri) und Ontologien sieht, ist eine Bewältigung durch ein künstliches System durchaus denkbar. Hier lassen sich Begriffszusammenhänge und auch Begriffssysteme abbilden und konstruieren. Wirkliches Wissen findet sich hier jedoch noch nicht. Erst durch kausal begründete Einsicht bildet sich Wissen. Kann dieses Wissen bzw. der Entstehungsprozess reflektiert werden, liegt Bewusstsein vor. Schließlich sieht Umstätter eine fünfte Ebene (die Seelenebene), auf der inneres, internes oder verinnerlichtes Wissen einzuordnen ist.

Vermutlich ist es das Wissen dieser Ebene, welches Kai Romhardt (Berlin; bekannt geworden als Mitautor des Standardwerks "Wissen managen", zusammen mit G. Probst und S. Raub, Wiesbaden 1997 und öfter) mit seinem Vortrag "Das Wesentliche berühren - Wissensmanagement aus Sicht der Philosophie des Buddhismus" als "Wesentliches" berühren wollte. Über die Kernaspekte der buddhistischen Lehre "Achtsamkeit" und "Meditation" soll der Mensch lernen, seine Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung des Moments (bzw. auf das "verstehende Zurückkommen auf das eigenste Gewesen" - Heidegger) zu konzentrieren und das eigene Wissen so intensiver zu erfahren und greifbarer werden zu lassen.

Die Beiträge der Tagung werden im Jahrbuch der Gesellschaft für Wissenschaftsforschung veröffentlicht und stehen dann auch im Internet zur Verfügung. Sie machten deutlich, wie unterschiedlich der Umgang mit Wissenserzeugung und -verteilung in Wissenschaft einerseits und Wirtschaft andererseits ausfällt. Sie zeigten aber unseres Erachtens auch, wie fruchtbar ein heuristischer Vergleich von impliziten und expliziten Wissensmanagement-Prinzipien aus beiden Systemen ist. Wir meinen, dass die bibliothekarische und dokumentarische Fachwelt dank ihrer intimen und praxisnahen Kenntnis bestimmter Aspekte der Wissensorganisation und -nutzung hierzu noch wesentlich mehr Beiträge liefern kann und liefern sollte. Und gerade hier könnte auch die Bibliothekswissenschaft - als Bindeglied zwischen dem Informations- bzw. Wissensmanagementsystem "Bibliothek" und der mit diesem System elementar verbundenen Wissenschaft - einen inhaltlichen Schwerpunkt setzen.


Zu den Autoren

Dr. Roland Wagner-Döbler Dipl.-Bibl., Dipl.sc.pol ist Privatdozent für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung am

Institut für Philosophie
Universität Augsburg
Universitätsstraße 10
D-86159 Augsburg
E-Mail: rfw-d@t-online.de

Ben Kaden und Andrea Kaufmann sind Studierende am

Institut für Bibliothekswissenschaft
Humboldt-Universität Berlin