Habermann, Alexandra; Kittel, Peter:
Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare

Die wissenschaftlichen Bibliothekare der Bundesrepublik Deutschland (1981-2002) und der Deutschen Demokratischen Republik (1948-1990)

- Frankfurt am Main: Klostermann, 2004
(Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderheft; 86). - XXIII, 232 S.
ISBN 3-465-03343-4, Euro 69,-

Kaum ein Berufsstand in Deutschland ist seit jeher so freimütig mitteilungsfreudig über die Biographien seiner Spitzenvertreter wie der bibliothekarische und publiziert - im "Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken" - penibel Ausbildungsweg und Karrierefortschritt nahezu sämtlicher wissenschaftlicher Bibliothekare. Kaum verwunderlich, dass das biographische Interesse auch retrospektiv unvermindert anhält. 1925 erschien erstmals, bearbeitet von Karl Bader, ein annähernd 1.500 Biographien umfassendes "Lexikon deutscher Bibliothekare im Haupt- und Nebenamt bei Fürsten, Staaten und Städten", das Lebensläufe aus einer Zeitspanne von etwa fünfhundert Jahren zusammentrug (bis zum Todesjahr 1925). Sechzig Jahre später legten Alexandra Habermann, Rainer Klemmt und Frauke Siefkes den Anschlussband vor, der die Vita jener knapp 1.000 Bibliothekare vorstellte, die bis 1948 in Gesamtdeutschland beruflich tätig waren und in den Jahren von 1925 bis 1980 in der "alten" Bundesrepublik verstarben. Nun liegt der Folgeband vor, der sich zum einen den "westdeutschen" wissenschaftlichen Bibliothekaren mit Todesjahr zwischen 1980 und 2002 widmet und zum anderen die Berichtslücke der DDR-Kollegen schließt. Es handelt sich, wie das Vorwort treffend beschreibt, ganz überwiegend um Vertreter jener Bibliothekargeneration, die - nach dem mühsamen Wiederaufbau des Bibliothekswesens - für den Übergang von der Konsolidierung der bibliothekarischen Verhältnisse bis hin zur Einführung der EDV in das Bibliothekswesen steht. Den "westdeutschen" Part übernahm wiederum Alexandra Habermann, die langjährige stellvertretende Leiterin der UB der Technischen Universität Berlin, den "ostdeutschen" Teil bearbeitete Peter Kittel, von 1964 bis 1989 Leiter der Katalogabteilung der Deutschen Staatsbibliothek in Ost-Berlin.

Wie bereits im Vorgängerband ist die Verzeichnung nach Rubriken in vorzüglicher Übersichtlichkeit angelegt und beinhaltet folgende Kategorien: akademische und sonstige Titel, Ämter, Ehrenämter und wichtige Mitgliedschaften, Lebensdaten, Ausbildungsgang, eventuelle nicht-bibliothekarische Tätigkeit, Daten der bibliothekarischen Laufbahn, bibliothekarische Wirksamkeit und wissenschaftliche Forschungstätigkeit sowie Literatur von und über den Verzeichneten.1

Das Werk ist ein sehr wertvolles, vielleicht sogar das bedeutendste Auskunftsmittel für neuere bibliothekshistorische Forschungen - gleichwohl sollen einige Monita, die den Gesamteindruck freilich kaum schmälern können, nicht unerwähnt bleiben. Vor allem die Methode der Materialgewinnung kann nicht völlig überzeugen. Ganz offensichtlich haben die Bearbeiter vor allem die zweijährlich erscheinende Aufstellung der "Verstorbenen Bibliothekarinnen und Bibliothekare" im "Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken" sowie die Durchsicht der einschlägigen Fachzeitschriften zur Basis ihrer Zusammenstellung gemacht. Auf diese Weise lässt sich vermutlich in der Tat der weitaus größte Teil der verstorbenen Fachkollegen ermitteln, Lücken aber sind unausweichlich. Wer in einer bibliothekarischen Fachzeitschrift durch einen Nekrolog gewürdigt wurde, dem wird auch im "Lexikon wissenschaftlicher Bibliothekare" ein größerer oder kleinerer Eintrag mit Fließtext zuteil. Wer, warum auch immer, dort keinen Nachruf erhielt, der geht bei Habermann und Kittel leer aus - ein Umstand, der mitunter zu gewissen Ungerechtigkeiten führt. Ohne Nekrolog in bibliothekswissenschaftlichen Organen reicht es im "Lexikon" nur zu knappen bio-bibliographischen Angaben. Was geschieht nämlich, wenn der Bibliothekar in einer anderen als in einer bibliothekswissenschaftlichen Zeitschrift gewürdigt wurde? Drei Beispiele sollen hier genügen.

Bei Habermann/Kittel fehlt der ebenso fragwürdige wie zweifellos ungewöhnliche wiss. Bibliothekar Dr. Gustav Sichelschmidt (1913-1996), von Mai 1939 bis Mai 1945 Leiter der Volksbüchereien in Berlin-Reinickendorf und von 1952 bis 1978 an der Amerika-Gedenkbibliothek tätig. Erwähnenswert ist Sichelschmidt vor allem durch seine überaus rege rechtsextreme Publikationstätigkeit. Bis heute erscheinen - aus seinem Nachlass - in ultrarechten Verlagen jährlich Monographien, die der Verfassungsschutzbericht des Landes Schleswig-Holstein 1997 als NS-verherrlichend und revisionistisch einstufte.2 Naheliegenderweise erhielt dieser unschöne Vertreter der bibliothekarischen Zunft keinen Nachruf in der bibliothekarischen Fachpresse - und entging somit zuerst der Recherche und dann der Verzeichnung durch Habermann und Kittel.

Ein ganz anderes Beispiel: Über Dr. Irmgard Bezzel, die verdienstvolle Leiterin des VD 16 an der Bayerischen Staatsbibliothek, hätte man gerne einige anerkennende Worte gelesen, das "Lexikon" aber begnügt sich mit den geringst möglichen Angaben. Die Ursache des Versäumnisses liegt offenbar in der allzu geringen Zahl der von Habermann/Kittel ausgewerteten Fachzeitschriften, die den Standard der "Core Title" nur selten überschreitet. Der würdige Nachruf auf Dr. Bezzel von Claudia Fabian in "Aus dem Antiquariat" ist so zwangsläufig unbeachtet geblieben.3 Und noch ein drittes Beispiel: Dr. Eberhard Galley, Leiter der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf und später erster Leiter des Heinrich-Heine-Instituts, ein eminent "wissenschaftlicher Bibliothekar", ist den Bearbeitern völlig entgangen - denn der Nachruf erschien im "Heine-Jahrbuch".4

Wie hätte man diesem Defizit an nachzuweisenden Fachkollegen entgehen können? Man hätte statt der "ex negativo"-Methode, allein in den wichtigsten Fachzeitschriften nach Nekrologen zu suchen, "positiv" vorgehen müssen und jeden nach 1980 erschienenen Band des "Jahrbuchs der deutschen Bibliotheken" Namen für Namen mit dem nächsten Jahrgang auf "herausgefallene" Namen vergleichen müssen, um anhand jener plötzlich nicht mehr verzeichneten Bibliothekare weitere Nachforschungen anzustellen.5

Wenn Peter Vodosek 1986 - mit Blick auf die NS-Vergangenheit mancher Bibliothekare im "Lexikon 1925-1980" - fragte: "muss die Neutralität, Wertungsfreiheit (oder wie auch immer) so weit gehen, dass dunkle Flecken auf der politischen Weste verschwiegen werden? Wohl verstanden: kein Scherbengericht über jene Irregeführten, diejenigen, die sich ein Stück weit verrannt haben. Aber bei denen, die sich nicht entblödet haben, ohne Not die Hundertfünfzigprozentigen herauszukehren, die Unsägliches in diversen Beiträgen der damaligen Fachzeitschriften von sich gegeben habe, gilt auch für sie das ‚de mortuis nihil nisi bene’?"6, so trifft dieses kritische Urteil, freilich unter anderen Vorzeichen, in gewisser Weise auch für den Nachfolgeband zu. Zwar benennt Kittel einige wenige Opfer des Stalinismus7, Auskunft über jene ostdeutschen Vertreter der Zunft, die in maßgeblicher Position Regimegegner schikanierten, die Literatur des nicht-sozialistischen Wirtschaftsgebietes besonderen Benutzungsbedingungen unterwarfen und die Benutzerschaft durch "Auswahlkataloge" indoktrinierten, erhält man nicht einmal andeutungsweise. Hilfreich - gerade für spätere Lesergenerationen des "Lexikons" - wäre ein Lexikograph mit einer größeren Distanz und Objektivität gewesen. Nutznießer und Benachteiligte stehen schlicht zu unterschiedslos nebeneinander8 und lassen vergessen, dass sich der Unrechtsstaat DDR auch bisweilen in seinem Bibliothekswesen spiegelte. Ein Beispiel für ein ungenanntes "Opfer": Wenn es bei Kittel über Prof. Dr. Othmar Feyhl heißt: "Prof. mit Lehrauftr. f. d. Fachrichtung BWiss. Berlin HU 1962, Wiss. MArb. UB d. HU 1971", so fehlt der nicht unwesentliche Hinweis darauf, dass Feyhl "1968 wegen seines geäußerten Unverständnisses gegenüber dem Truppeneinmarsch in die ČSSR seiner Funktion als Professor am Institut für Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Universität enthoben" wurde und "seitdem Quellen zur Geschichte der HU erschlossen und ausgewertet"9 hat. Leider müssen die Biographien der DDR-Bibliothekare - mit 145 von insgesamt 450 ein knappes Drittel der Einträge - somit mit einer gewissen Vorsicht studiert werden.

Bedauerlich ist überdies, dass diejenigen Bibliothekare, deren Fehlen die Rezensenten des "Lexikons" von 1985 beklagten, nicht in der Form eines Nachtrags zum ersten Band eine verspätete Aufnahme fanden.10 Erwin Marks vermisste sechs Berufskollegen, Fridolin Dressler sogar zehn.11 Auch Dresslers Bemängelung der ausgebliebenen Hinweise auf die Nachlässe der Bibliothekare wurde im Folgeband nur in Ausnahmefällen (z.B. Rudolf Blum, Otto Böss, Werner Kraft, Heinrich Roloff und Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller) beherzigt. Unbefriedigend ist schließlich auch die Definition der Bearbeiter, was man sich unter einem "wissenschaftlichen Bibliothekar" denn vorzustellen hat, welche Kriterien also erfüllt sein müssen, um Einzug ins "Lexikon" zu finden.12

Trotz der Monita ist dem Lexikon eine möglichst weite Verbreitung zu wünschen. Doch sind die Zeitläufe günstig für ein bibliothekshistorisches Auskunftsmittel? Als 1985, vierzig Jahre nach Kriegsende, der erste Band des Lexikons entstand, war eine Hochzeit historischer und auch fachgeschichtlicher Forschung. Ohne Zweifel haben die bio-bibliographischen Grundlagen jenes Bandes viele Forschungen zum Bibliothekswesen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus sehr erleichtert. Derzeit aber ist Bibliotheksgeschichte grundsätzlich nicht eben en vogue; die bibliothekarische Nachkriegsgeschichte in zwei deutschen Staaten harrt noch weitestgehend ihrer Aufarbeitung.13 In zukünftigen Zeiten eines neu erwachenden Interesses an zeitgeschichtlicher Analyse bibliothekarischen Wirkens wird dieser zweite Band des "Lexikons" seine volle Bedeutung erlangen - hoffentlich finden sich in Zukunft auch neuerlich Bibliothekare bereit, wiederum einen Fortsetzungsband zu bearbeiten, um der Historiographie des deutschen Bibliothekswesens eine Kontinuität der bio-bibliographischen Verzeichnung im Stile Habermanns zu ermöglichen.


Anschrift des Rezensenten

Dr. Martin Hollender
Staatsbibliothek zu Berlin
D-10785 Berlin
E-Mail: martin.hollender@sbb.spk-berlin.de


Anmerkungen

1. Verzichtet wurde in diesem Band - zurecht - auf die vormalige Rubrik "D", die bei bedeutenden Bibliothekaren auch die Eltern und die Ehefrau wie auch die Zahl der Kinder nannte.

2. So etwa "Nationalmasochismus. Diagnose einer deutschen Zeitkrankheit" (Berg: Türmer 1990), "Der ewige Deutschenhass. Hintermänner und Nutznießer des Antigermanismus" (Kiel: Arndt 1992), "Deutschlands Ausverkauf. Bonns antideutsche Politik" (ebd. 1993).

3. Nr. 6/2001, S. A 382 - A 383.

4. Joseph A Kruse: Nachruf auf Professor Dr. Eberhard Galley, in: Heine-Jahrbuch, Jg. 34 (1995), S. 236-238.

5. Diese Vorgehensweise kommentierte der Rezensent des "Lexikons" von 1985, Hartmut Walravens, überspitzt: "Man gewinnt den Eindruck, als sei zwar alles, was an Daten bequem greifbar war, verarbeitet worden, darüber hinaus aber habe Zeit oder Geduld zu nötigen Recherchen gefehlt." (Auskunft, Jg. 6 (1986), Nr. 1, S. 44-48).

6. Peter Vodosek: Ein "Who was who" des deutschen Bibliothekswesens, in: Buch und Bibliothek, Jg. 38 (1986), Nr. 1, S. 92f.

7. So etwa M. von Philipsborn, der "am 6.12.1948 aus politischen Gründen die Bibliothek verlassen" musste oder Alfred Eberlein, der wegen das Kontingent überschreitender Tauschbeziehungen mit der Bundesrepublik 1972 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

8. Vgl. auch Erwin Marks über den 1. Band des "Lexikons" (freilich, wie Vodosek, auf NS-Bibliothekare und bibliothekarische Opfer des Nationalsozialismus bezug nehmend): "Es geht einfach nicht an, Schuldige und Opfer unter dem Deckmantel der Berufszugehörigkeit undifferenziert nebeneinander zu stellen." (Zentralblatt für Bibliothekswesen, Jg. 100 (1986), S. 563-565).

9. Renate Gollmitz: Kleine Fundgrube zur Stabi-Geschichte, in: Das Stichwort. Nachrichten aus der Deutschen Staatsbibliothek, Jg. 34, H. 2, 20. Juni 1990, S. 19.

10. Denn mindestens einen Nachtrag zum Verzeichnis der vor 1980 Verstorbenen gibt es sehr wohl, die Nennung nämlich Robert Hohlbaums (1886-1955).

11. Fridolin Dressler, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Bd. 50 (1987), S. 278-280.

12. "SBB-intern", die Hauszeitschrift der SBB-PK, wurde von den Bearbeitern ausgewertet. Warum aber wurde dann die dort (Jg. 6, Nr. 9-10/2000, S. 4-5) mit einem Nachruf Franz Görners gewürdigte Dr. Irmgard Leder, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz von 1965 bis 1979, nicht im "Lexikon" verzeichnet? Fehlte ihr womöglich, um als "Wissenschaftliche Bibliothekarin" im Sinne Habermann/Kittels zu gelten, Ausbildung und Laufbahnprüfung für den höheren Bibliotheksdienst? - Ebenso muss man sich in Zeiten der Nivellierung bibliothekarischer Klassenschranken fragen, ob die Beschränkung auf wissenschaftliche Bibliothekare wirklich noch zeitgemäß ist. Wenn schon jeder Angehörige des höheren Dienstes verzeichnet ist (auch wenn er womöglich keine ewiggültigen Leistungen vollbracht hat), so stellt sich die Frage, ob nicht auch jene mit einem Nekrolog gewürdigten Bibliothekare des gehobenen Dienstes eine adäquate Berücksichtigung finden sollten.

13. Eine Ausnahme stellen die Konferenzen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte dar, die sich zuletzt im Mai 2004 u.a. der "68er-Generation im Bibliothekswesen", den Fachhochschulbibliotheken als neuem Bibliothekstyp und den Universitätsbibliotheks-Neugründungen der sechziger und siebziger Jahre annahmen.