Zukunftsvisionen: Die Bibliothek von morgen


Abstracts

Realität: Ausgangslage und Gegenwart
Annahme: Die Zukunft der Medien und der Bibliothek
Weitere Visionen: Die Bibliothek mit und ohne Raum
Die Lösung? Die Bibliothek als Hybridmodell


von Jürgen Seefeldt

Welche Zukunft haben Bibliotheken - wie sieht die Bibliothek von morgen aus? Wird es in 20 oder 40 Jahren noch Bibliotheken in der Form geben, wie wir sie heute kennen? Ist Ihr Ende gar mit dem Fortschreiten der digitalen Revolution eingeläutet, werden sie durch automatisierte Datenbanken und Suchmaschinen ersetzt? Und wenn es trotz mancher Unkenrufe Bibliotheken weiterhin geben sollte, wie werden sie aussehen? Sind sie vielleicht nur noch eine Idee, ein virtueller Raum oder immer noch ein physischer Ort mit umbauten Mauern und einem Dach?

Solche Fragen stellen sich Entscheidungsträger und Finanziers, Wirtschaft und Öffentlichkeit und nicht zuletzt die Bibliothekare in zunehmendem Maße. Die Fragen sind berechtigt, denn manche Visionäre und Futurologen malen das Bild der Bibliothek von morgen und übermorgen in düsteren Farben und sehen ihre Zukunft voller Skepsis. Aber es gibt es auch viele optimistische Stimmen, die der Bibliothek gute Chancen zum Überleben geben und sie in ferner Zukunft immer noch als einen realen Ort verstehen, der geprägt sein wird von Regalen und Informationstheken, von Arbeitstischen mit Computerbildschirmen und einer beflissenen Stille.

Nicht nur in Deutschland, aber dort ganz besonders, sind in den letzten Jahren innerhalb der bibliothekarischen Fachwelt viele gewohnte Sicherheiten verschwunden, die Aufgabe und Selbstverständnis der Bibliothek betreffen. Lesen ist unter dem Einfluss digitaler Medien nicht mehr so selbstverständlich. Unheilspropheten verkünden das Ende des Buches. Alles wandelt sich. Auch die Bibliotheksbenutzer des 21. Jahrhunderts haben sich verändert: Sie sind besser ausgebildet, reicher, mobiler und mündiger als noch vor 20 Jahren. Die modernen Kunden entscheiden sehr bewusst, was sie mit ihrer Freizeit anfangen, denn Freizeit ist knapp geworden. Die Bibliothek hat auf dem Freizeitmarkt mit anderen Einrichtungen zu konkurrieren. Zeitgleich vollzieht sich ein Wandel in den öffentlichen Verwaltungen, die beginnen, Dienste zu privatisieren und ihre Einrichtungen einer strengen Kosten-Leistungsrechnung zu unterziehen.1 Beginnt damit der Anfang vom Ende der Bibliotheken in öffentlicher Trägerschaft?

Der massive gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Umbruch des letzten Jahrzehnts wirft in der Tat eine Reihe wichtiger Fragen auf: Werden neue Technologien die Bibliotheken schon bald in den virtuellen Raum verlegen und sie durch eine vernetzte Weltbibliothek im Cyberspace ersetzen? Werden sich die Archive, Museen und Bibliotheken der Welt zu einem gigantischen vernetzten Menschheitsgedächtnis verschmelzen? Alle Teile des heutigen Systems allgemeiner und wissenschaftlicher Kommunikation, das aus Verlagen, Bibliotheken, Datenbankherstellern, Autoren und Lesern besteht, werden angesichts der radikalen Umbrüche ebenso in Frage gestellt wie die Medien Buch oder Zeitschrift - letztlich sind sie alle neu zu definieren. Wenn im Jahr 2005 Bibliotheken noch die Hauptlieferanten von Informationen aller Art für Wissenschaft und Bildung sind, so ist zu vermuten, dass sie in fünf bis zehn Jahren nur noch einer unter mehreren Informationslieferanten sein werden - mit welchen Konsequenzen?

Die folgenden Anmerkungen unternehmen den Versuch, sich mit einigen Fragestellungen zu befassen und sich möglichen Antworten ein Stück anzunähern.

Realität: Ausgangslage und Gegenwart

Nach Expertenmeinung verdoppelt sich das Menschheitswissen inzwischen alle fünf Jahre, insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern ist der Forscher- und Erfinderdrang ungebrochen. Die Informations- und Medienbranche gehört zu den weltweit boomenden Wirtschaftszweigen. Digitale und multimediale Formen der Informationserstellung, -auf­bereitung und -verbreitung revolutionieren das bisherige Informationsverhalten nachhaltig und zwingen alle Akteure am Informationsmarkt wie Autoren, Verlage, Buchhändler, Bibliotheken und Leser/Nutzer, ihr bisheriges Rollenverständnis zu überprüfen. Das Internet durchdringt mehr und mehr alle Lebensbereiche und hat letztlich eine "Informationskulturrevolution" zur Folge.2

Ohne Frage ist Information neben den langsam schwindenden natürlichen Rohstoffen die zentrale Ressource des 21. Jahrhunderts geworden. Information, oder besser: die optimale Bereitstellung und Speicherung, die lösungsorientierte Verarbeitung und Nutzung von Daten und Fakten entscheiden über den Erfolg von Volkswirtschaften, aber auch über die Chancen des einzelnen Menschen. Die Entwicklung dieser Ressourcen und die Teilhabe an ihnen ist mit besonderen Herausforderungen für Gesellschaft, Politik und Bevölkerung verbunden. Daten und Fakten veralten allerdings immer schneller, da die moderne Mediengesellschaft eine Flut an sinnvollen wie sinnlosen Informationen produziert. Umso wichtiger wird das Suchen und Finden der "richtigen Antworten". Aber genau dies wird schwieriger und nicht jedem stehen die zentralen Technologien hierfür und das entsprechende Know-how zur Verfügung.3

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen dieser Informationskulturrevolution sind noch gar nicht absehbar. Sicher ist jedoch: Qualitativ hochwertige Informationen werden langfristig auch online nicht mehr kostenfrei verfügbar sein. Nur diejenigen, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, werden in den Vorteil rasch abrufbarer Daten gelangen. Die schon vor Jahren beschworene Gefahr einer Zweiklassengesellschaft im Informations- und Bildungsbereich besteht nach wie vor, die Sorge ist eher gestiegen denn gesunken. Viele Menschen empfinden das Mehr an Information bzw. an Informationsmöglichkeiten aber nicht ausschließlich als etwas Positives, sondern auch als etwas Bedrohliches: Sie verlangen in der Informationsflut nach Orientierung und Hilfestellung durch kompetente Partner.

Je mehr die Teilhabe an Wissen und die Nutzung von Information an gesellschaftspolitischer Bedeutung gewinnen, um so lauter ruft man Politik und Wirtschaft auf, neben klassischen Bildungseinrichtungen wie Schulen und Hochschulen endlich eine breitere Infrastruktur zu entwickeln und flächendeckend vorzuhalten. Viele Fachleute sind sich sicher: Nur durch eine verbesserte Infrastruktur können lebenslanges Lernen sowie Informations- und Medienkompetenz nachhaltiger als bisher gefördert werden. Nur dadurch wird es gelingen, alle Bevölkerungsgruppen - auch die bildungsfernen und sozial schwachen - zu erreichen, sollen ihre Chancen wirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlicher Teilhabe nicht dramatisch abnehmen.

Bibliotheken sind dafür prädestiniert, solche Partner und Lotsen zu sein. Bibliotheken befassen sich seit Jahrtausenden mit dem Sammeln, Aufbereiten und Bereitstellen von Informationen. Mit zeitgemäßen Dienstleistungskonzepten könnten sie sich nicht nur als kompetente Informationsmittler, sondern auch als multimedialer Lernort profilieren und in enger Zusammenarbeit mit anderen Kultur- und Bildungseinrichtungen als Ort sozialer Begegnung und des Meinungsaustausches fungieren.4

Ganz anders jedoch sieht seit langem ihr rechtlicher Status, ihre gesellschaftliche Anerkennung durch Politik, Öffentlichkeit und Wirtschaft aus. Die mangelnde Bereitschaft zur konsequenten und breiten Förderung von Bibliotheken geht einher mit allenthalben mangelnden Ressourcen. Auf die wachsende Bedeutung von Informations-, Lese- und Medienkompetenz hätte die Politik - spätestens seit PISA 2000 - mit einem nationalen "Marshallplan" zur Förderung von Bibliothekseinrichtungen in Kommunen und Schulen reagieren müssen. Statt dessen werden zentrale bibliothekarische Einrichtungen und viele Bibliotheken geschlossen, Aufbaumittel gekürzt, staatliche Fördereinrichtungen dezimiert. Nicht mit Aufbruch, sondern mit Abbruch wird seitens der Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft auf die Herausforderungen der einsetzenden Informationsrevolution reagiert. Unter diesen Vorzeichen den Bibliotheken reelle Zukunftschance zu geben, fällt nicht wenigen Fachleuten schwer.

Annahme: Die Zukunft der Medien und der Bibliothek

Das Anwachsen der Medienvielfalt wird ohne Frage die Bibliotheksentwicklung weiterhin im positiven wie negativen Sinne mitprägen. Hohe Investitionskosten bei der Einführung neuer Speicher und neuer Leseräte wirken für die Träger vielfach abschreckend, besonders wenn ihre Zukunftschancen und die künftige Marktpräsens noch nicht absehbar sind. Die elektronischen Bücher, die um das Jahr 2000 noch als lukrativer Zukunftsmarkt gesehen wurden und 2005 zumindest in Deutschland weiterhin als mediale Randerscheinung auftauchen, belegen die schwierige Einschätzbarkeit von technischen Innovationen.

In der Internet-Euphorie der späten 1990er Jahre glaubte man wie schon 40 Jahre zuvor an das Ende des Buchzeitalters und somit auch an das Ende der Bibliotheken. Wozu braucht man noch Bücher, hieß es, wenn alle Informationen schneller und aktueller über das elektronische Netz zur Verfügung stehen? Die Frage, ob die Zukunft der Bibliothek ausschließlich mit der Zukunft des Buches verknüpft werden muss, muss derzeit noch offen bleiben. Für einige Futurologen scheint die Antwort klar zu sein: Das Buch wird die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts nicht überleben, weil es definitiv ersetzt werden wird durch virtuelle Medien, elektronische Bücher, Digitalpapier und heute noch unentdeckte Technologien. Andere Fachleute dagegen können sich gar nicht vorstellen, dass das Buch verschwindet, weil für sie ein Leben ohne Bücher gar nicht vorstellbar ist.5

Das Umfeld, in dem Verlage, Buch- und Medienproduzenten mit ihren sowohl traditionellen als auch digitalen und virtuellen Medien agieren, wird sicher mit eine entscheidende Rolle auch für die Zukunft der Bibliotheken spielen. Der Markt der Periodika ist insbesondere für die wissenschaftlichen Bibliotheken ein wichtiger Aspekt. Ein Großteil der Fachzeitschriften erscheint inzwischen längst als E-Journal, aber auch in einer Papierfassung, die aus zwingenden Gründen einstweilen weiterlebt. Die verhängnisvolle Preisspirale weitet sich immer mehr aus. Da die elektronische Parallelfassung das Abonnement einer Zeitschrift noch weiter verteuert, und dies in einer Zeit der Schrumpfung der Bibliotheksetats, ist die Entwicklung für Bibliotheken und Hersteller fatal, denn Zeitschriftenabonnements werden abbestellt, die Auflagen sinken, die Preise steigen, wodurch wiederum die Auflagen weiter sinken. Für den Autor Dieter E. Zimmer scheint heute die Frage entschieden zu sein, dass die neuen digitalen Publikationsformen den Buchdruck und die traditionelle Bibliothek wirklich ablösen könnten. Das Gedruckte würde zwar noch vorhanden sein, aber zunehmend nur am Rande existieren. So glaubt er an jene virtuelle Weltbibliothek, die in raschen Tempo im Entstehen begriffen sei, in 10 bis 20 Jahren dürfte darin mehr zu finden sein als in als in der größten traditionellen Bibliothek.6

Die Meinung, dass "Bibliothek ohne Buch" nicht überlebensfähig sei, konzentriert sich nicht nur auf die Traditionalisten unter den Bibliothekaren und Entscheidungsträgern, aber sie relativiert sich mit Blick auf die Bibliotheksentwicklung der letzten 20 Jahre. Bibliotheken sind längst keine reinen Büchersammlungen und Aufbewahrungsdepots von Druckwerken mehr, die hohe Zahl an unterschiedlichen Speicherformen und verfügbaren digitalen Medien in Bibliotheken wird als Chance, nicht als ihr Totengräber betrachtet.

Die fundamentale Bedeutung von Bibliotheken wird nach Meinung vieler Fachleute und Autoren in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen verkannt bzw. politisch nicht umgesetzt. Als wichtigster Hinderungsgrund für ihre Weiterentwicklung wird das mangelnde politische Bewusstsein über die Funktionen der Bibliothek gesehen, ebenso das mangelnde Vertrauen der Politik in diese Jahrtausende alte Institution, der man offenbar nicht zutraut, den neuen Anforderungen der Informationsgesellschaft gerecht werden zu können. Die Folge dieser Missachtung war eine lange Zeit stagnierende Förderung, die sich in den letzten fünf Jahren zu einer echten Unterfinanzierung entwickelt hat. Es ist offenkundig den Bibliothekslobbyisten in Deutschland nicht gelungen, die in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern eindeutig gefestigte Rolle der Bibliothek als zentrale Informations- und Bildungseinrichtung auch hierzulande glaubhaft und nachhaltig in den Köpfen der Entscheidungsträger zu verankern.

Das Mitte 2004 veröffentlichte Strategiekonzept des Projekts "Bibliothek 2007" von Bertelsmann Stiftung und Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände benennt in seiner Ist- und Sollbeschreibung die wichtigsten bibliotheks- und bildungspolitischen Ziele und umreißt die erforderlichen Maßnahmen zur Zielerreichung. Dringender Bedarf besteht demnach nach einer deutlicheren Schärfung und Sensibilisierung der Gesellschaft - gemeint sind Politik und Staat, Medien und Bevölkerung gleichermaßen, um die Schlüsselfunktion der Bibliotheken in der Bildungslandschaft deutlicher hervorzuheben. Gravierende Schwachpunkte sind die fehlende zentrale Koordinierungs- und Steuerungsleistung, die die föderalen Strukturen und die lokale Eigenverantwortlichkeit der Träger sinnvoll ergänzen musste; es sind einengende rechtliche Rahmenbedingungen, die Bibliotheksbetrieb und -management hemmen; es ist zudem die prekäre Finanzausstattung, die keine Spielräume für innovative Reformprozesse und qualitätssichernde Maßnahmen lässt.7

Das Strategiekonzept sieht den wichtigsten Schritt zur Zukunftssicherung des deutschen Bibliothekswesens in der Gründung einer auf Bundesebene koordinierenden Instanz, einer BibliotheksEntwicklungsAgentur (BEA), die in Form einer Stiftung des öffentlichen oder privaten Rechts als entscheidender Impulsgeber zur Erneuerung der Bibliotheken auftreten soll. Der Bibliothekssektor, der den gesellschaftlichen Anforderungen auch zukünftig gerecht werden soll, braucht - mit Blick auf erfolgreiche ausländische Vorbilder - ein abgestimmtes Miteinander von lokaler Initiative und zentraler Steuerung und Unterstützung. Zielgerichtete Investitionen in die Bildungssysteme und die forcierte Entwicklung von Bibliotheken innerhalb vernetzter Bildungsangebote wären auf allen Ebenen ein fundamentaler Beitrag zur Sicherung der Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Von den Besten lernen und durch sinnvolle Programme das Beste fördern, Qualitätsstandards einführen und mehr Wettbewerb durch Ranking zulassen, konstruktive Entwicklungsplanung und Qualitätssicherung betreiben, Distributionsstrategien entwickeln und mehr Kooperationen unterstützen - das alles sind Schlagworte, von denen sich die Initiatoren des Konzepts neue Impulse für das deutsche Bibliothekswesen erhoffen.8

Die zukünftige Wissensgesellschaft sollte nicht nur Schlagwort, sondern eine wesentliche Herausforderung für die Zukunft sein. Auf diese Herausforderung zu reagieren, ist Chance und Anforderung an Bibliotheken. Bibliotheken können Zukunft gestalten, sie können zur Entwicklung einer innovativen Lernkultur beitragen, um eine nachhaltige und verantwortungsbewusste Partizipation am gesellschaftlichen Wandel zu unterstützen. In der Dynamik und Fülle des zunehmenden weltweiten Wissens muss der Einzelne neue Qualifikationen zur Auswahl, Bewertung und Umsetzung von Information in Erkenntnisprozesse und verantwortungsbewusstes Handeln entwickeln.

Die Experten sind sich einig: Wissen schafft Zukunft. Bildung spielt in der Wissensgesellschaft von morgen eine zentrale Rolle. Die Zukunft des Einzelnen sowie die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung hängen entscheidend davon ab, ob es gelingen, heute das Wissen zu erschließen und zu vermitteln, das morgen gebraucht wird. Hierfür benötigen wir eine Neugestaltung des Lehrens und Lernens.9

Die Zukunft der Bibliothek steht ganz stark im Kontext des Schlagwortes "Local Access, Global Information". Politischer Wille sollte es sein, die Bibliotheken aller Sparten in die Lage zu versetzen, die Digitalisierung der Medien, des Medientransports, der Auskunftstätigkeit und der Strukturierung des Wissens voranzutreiben und dabei modellgebend und wegweisend zu sein. Gleichzeitig müssen Bibliotheken als Anlaufstelle für Kulturerzeugnisse, für Veranstaltungen, für Nachfragen fungieren. Dabei hat der unternehmerische Gedanke mehr im Vordergrund zu stehen als bisher. Vermieden werden sollte dabei, dass die Bibliotheken in ihrer zukünftigen Entwicklung irgendeiner Medienkonkurrenz vorarbeiten, denn schädlich wäre, das eine Medium gegen das andere auszuspielen oder sich in die Vermarktung und Kommerzialisierung der Medien hineintreiben zu lassen. Bibliotheken müssen ihre Unabhängigkeit und eine Position behalten, die es ihnen erlaubt, mit den Produkten der globalen Medienproduzenten nach ihren Zielen umzugehen.10

Die Zukunft auch des Lernorts Bibliothek liegt sicher in ihrem Wandel von geistigen Schatzhäusern der Bücher zu Multimediazentren, die neben den herkömmlichen die neuen Medien, neben dem Gedruckten das Virtuelle gleichermaßen bereitstellen. Sie sollten sich zu Zentren der Informationsgesellschaft entwickeln, die durch ihre Kompetenz den geregelten Zugang zur Informationsflut sichern. Die Virtuelle Bibliothek ist dabei als ein medientechnisches und medientheoretisches Konzept zu verstehen, wobei nicht ausgeklammert werden kann, dass sie zugleich auch ein gesellschaftspolitisches Konzept von erheblicher Brisanz ist. Wenn ein digitalisierter Textbestand entsprechender Größe jedem jederzeit zur freien Verfügung gestellt wird, bedeutet dies eine schrankenlose Individualisierung der Informationsaufnahme und Wissensaneignung. Jeder kann sich nicht nur sein Informationsportfolio zusammenstellen. Jeder kann und muss sich, unabhängig von vermitteltem Wissen, frei und eigenständig in einer selbsterschaffenen Informationswelt bewegen. Für eine schon heute existierende Informationselite, die sich zuallererst über das Buch und erst sekundär über den digital gespeicherten Text definiert, kann dies erstrebenswert und von Vorteil sein. Ob allerdings die völlige Individualisierung des Informationsverhaltens als generelles gesellschaftspolitisches Programm taugt, wird die Zukunft erweisen müssen. In jedem Falle sollte dies vor dem Hintergrund des neuerdings in der Pädagogik entwickelten Leitgedankens des autonomen und lebenslangen Lernens gesehen werden. Dieser postuliert eine bislang weder für zweckmäßig noch für realisierbar gehaltene Frühform von intellektueller Mündigkeit.11

Weitere Visionen: Die Bibliothek mit und ohne Raum

Viele Fragestellungen drehen sich immer wieder um den Begriff des Bibliotheksortes und des Bibliotheksgebäudes. Die Diskussion um die Auswirkungen des Ortsbegriffs befindet sich noch ganz in ihren Anfängen. Gerade für die Öffentliche Bibliothek sind die Fragezeichen besonders groß: Werden wir weiterhin Bibliotheken als feste Einrichtungen am Ort benötigen - wenn ja in welcher Form?

Nicht wenige Fachleute haben bereits begonnen, sich unter dem Begriff Bibliothek etwas anderes vorzustellen als ein Gebäude oder eine Sammlung von Büchern, so wie sie derzeit noch als modernes Beton-, Stahl- und Glas-Bauwerk oder als Backsteinbau der vorletzten Jahrhundertwende dasteht. Die technologische Entwicklung und die Art und Weise, wie viele Menschen sowohl die virtuelle als auch die digitale Medienwelt wohlweislich in ihren Bann zieht, lässt den Visionär nach futuristischen Konzepten suchen, in denen die Bibliothek von morgen und übermorgen losgelöst sein muss von realen Dingen. Ein erstes Bild der zukünftigen Bibliothek mit Bits und Bytes, aber gänzlich ohne Raum und Wände, festigt sich hier allmählich.

Offenkundig erwarten jene Visionäre, dass die Bibliothek der Zukunft ein multidimensionaler Ort sein muss, wo Menschen und Informationen sich quasi im Cyberspace begegnen wie in einem futuristischen Forum, nur eben ins 21. Jahrhundert versetzt. Die dabei neubestimmten Rollen und Aufgaben beruhen nach wie vor auf jener demokratischen Denkweise, die bei der Gründung und Definition der modernen Bibliothek, insbesondere der Öffentlichen Bibliothek, Pate stand. Ändert sich etwas an dieser Rolle, wenn die Bibliothek zukünftig nur noch ein virtuelles Format annimmt? Die Verfechter der virtuellen Bibliothek erhoffen vielmehr, dass sie die Notwendigkeit von Ordnung, sozialem Ausgleich und Zugangsvermittlung eher verstärkt - eine Idealvorstellung, wenn bei begrenzten Ressourcen ein reales Gebäude nicht mehr errichtet, so dann wenigstens in einer virtuellen Welt aufgebaut werden kann.

Und doch ist es eben dieser Bedeutungswandel des Ortsbegriffs, von dem die größte potenzielle Bedrohung für die heutige Öffentliche Bibliothek ausgeht. Er ist von der Tatsache bestimmt, dass Menschen sich sowohl in realen als auch in virtuellen Räumen aufhalten können und dort Möglichkeit zu Begegnung, Einkauf, Arbeit, Lernen und Wissenserwerb sowohl in realer Form als auch virtuell haben. Der relativierte Ortsbegriff verändert möglicherweise die Gesellschaft als Ganzes.

Aber muss denn die Bibliothek der Zukunft zwangsläufig eine rein virtuelle sein? Gibt es keine Alternativen oder Parallelentwicklungen? Als Kontrapunkt zur virtuellen Welt, dem Cyberspace, könnte die neue, reale Bibliothek von morgen an jedem Ort der Welt den Bezugspunkt mit Wissenszugang, persönlicher Betreuung und Chancengleichheit aller darstellen, sozusagen einen gemeinsamen Identifikationsrahmen bieten und so dem seit alters her bestehenden und weiterhin wachsenden Bedürfnis nach Gemeinschaft entsprechen, und das nicht bloß als Wunschtraum.

Immerhin: Heute wird von keinem Fachmann mehr ausgeschlossen, dass es technisch möglich ist, die ultimative Bibliothek zu schaffen: Ein vernetztes Matrix-Konstrukt, räumlich irgendwo präsent, das alles menschliche Wissen mit einem Schlag verfügbar hat - katalogisiert und mit Suchfunktion. Der Zugriff auf Datenbanken zahlreicher Online-Zeitschriften oder die Benutzung der Online-Version diverser Enzyklopädien geben heute schon einen Vorgeschmack auf das, was in zehn oder zwanzig Jahren kommen wird. Jeder Mensch könnte sich zur ultimativen Bibliothek Netzzugänge kaufen, um sich via Internet an die enorme Wissensmenge anzudocken. Das Internet steht hier als Synonym für die komplette Weltbibliothek. Damit bildet sich ein zweites Bild von der Bibliothek der Zukunft heraus: die Bibliothek, zugleich präsent als konkreter Raum wie auch als virtueller Ort im Cyberspace, die Zugang zu allen jemals benötigten Informationen bietet. Der früher als Hindernis empfundene Katalog wird eins mit seinem Inhalt. Ein Finger des tastenden Menschen auf dem Bildschirm bringt ihn zum gesuchten Wissensobjekt - egal ob Roman, Stichwort, Kunstwerk, Musikstück, chemische Formel oder Reiseführer.

Immerhin: Technisch gesehen wird heute von keinem Fachmann mehr ausgeschlossen, dass es möglich ist, die ultimative Bibliothek zu schaffen: Ein vernetztes Matrix-Konstrukt, räumlich irgendwo präsent, das alles menschliche Wissen mit einem Schlag verfügbar hat, katalogisiert und mit Suchfunktion versehen. Die Einwahl per Server in die Datenbanken zahlreicher Online-Zeitschriften oder die Benutzung der Online-Version diverser Enzyklopädien geben heute schon einen Vorgeschmack auf das, was in zehn oder zwanzig Jahren kommen wird. Jeder Mensch könnte sich zur ultimativen Bibliothek Netzzugänge kaufen, um sich so an die enorme Wissensmenge anzudocken, die das Internet bietet. Das Internet steht hiermit als Synonym für die komplette Weltbibliothek, wie es einige Visionäre unter den Bibliothekaren im Sinn haben. Damit wird ein zweites Bild der Bibliothek der Zukunft sichtbar: Die Bibliothek, zugleich präsent als konkreter Raum wie auch als virtueller Ort im Cyberspace, die Zugang zu allen jemals benötigten Informationen bietet. Der sich früher als Hindernis entpuppende Katalog wird eins mit seinem Inhalt. Ein Finger des tastenden Menschen auf dem Bildschirm bringt ihn zum gesuchten Wissensobjekt, egal ob Roman, Stichwort, Kunstwerk, Musikstück, chemische Formel und gesuchter Reiseführer.

Das Hauptcharakteristikum der Bibliothek der Zukunft wird vielfach pointiert mit dem Schlagwort der just-in-time-Bibliothek beschrieben, die auf Abruf binnen weniger Minuten alles gleichzeitig bieten kann. Damit grenzt sie sich von der herkömmlichen Konzeption der just-in-case-Bibliothek ab12, die bisher in erster Linie auf Lagerung von Medien spezialisiert war, d.h. für den nicht genau vorhersehbaren Fall einer potentiellen Nutzung. Die technologische Entwicklung in Bibliotheken ist unter dem Aspekt der stetigen Zunahme von Fernnutzung praktisch vorhersehbar gewesen. Fernnutzung kann bedeuten, Nutzung externer z.B. kooperativ gepflegter Ressourcen wie wir sie schon lange in Verbundkatalogen kennen, aber auch Fernnutzung im Sinne von Nutzung lokaler Ressourcen durch externe Nutzer, wie sie sich zunehmend abzeichnet. Der Einsatz der Datenverarbeitung in der Bibliothek hat zwar auch bisher schon zu wesentlichen Rationalisierungseffekten und organisatorischen Veränderungen geführt, aber die Entwicklungen, die sich jetzt abzeichnen, zeugen von einer gänzlich neuen Qualität. Für die Bibliothek kommt es darauf an, die Situation aktiv und strategisch zu nutzen. Wesentlich ist vor allem, dass gerade durch die Informationstechnik die Notwendigkeit einer hohen Kundenorientierung gewachsen ist.13

Die unter dem Schlagwort der Digitalen Bibliothek subsumierte Institution lässt sich als drittes Bild der Bibliothek der Zukunft beschreiben. Dieses Bild geht immerhin davon aus, dass in ihr die Mischfunktion des Sammelns, Erschließens und Vermittelns auch - wenn auch unter digitalem Vorzeichen - wird fortbestehen können. Der Begriff der "Elektronischen", besser: "Digitalen Bibliothek" deutet dabei vor allem einen Wechsel der Medien an, während der weiterreichende Begriff der Virtuellen Bibliothek tatsächlich konzeptionelle Veränderungen impliziert. Forschungen zur Digitalen Bibliothek beziehen sich fast ausschließlich auf die technische Komponente des vernetzten, für den Endnutzer komfortablen Zugriffs auf elektronische Informationsressourcen. Die Hypothese ist wahrscheinlich, dass die Bibliothek der Zukunft auf jeden Fall auch eine Digitale Bibliothek sein wird.14

Elmar Mittler postulierte vor einigen Jahren bereits: "Für die Bibliothek des beginnenden 3. Jahrtausends und ihre Dienstleistungen sind sechs Ziele aufzustellen, die als utopische Idealvorstellungen wirken müssen, aber - optimistisch betrachtet - mit modernen Mitteln durchaus in erreichbare Nähe zu rücken scheinen. In der Bibliothek der Zukunft bekommt man als Benutzer

Oberstes Ziel sollte in der Tat sein, alles, was man an Informationen und Medien benötigt, in der Bibliothek zu erhalten. Die Bibliothek der Zukunft kann und muss ihren Nutzern gedruckte und elektronische Bestände bereitstellen, die sich nur teilweise am Ort befinden. Zugriffsmöglichkeiten auf Gedrucktes von außerhalb hatte sie in der Vergangenheit schon über die Fernleihe. In Zukunft wird sie auch Zugriffsmöglichkeiten auf digitale Medien über Server von Verlagen, Bibliotheken, Universitäten anbieten.

Die Lösung? Die Bibliothek als Hybridmodell

Bei der Planung von modernen Bibliotheken beginnen viele Fachleute zu akzeptieren, dass die beste Kompromisslösung offenkundig diejenige Bibliothek sein wird, die alle ihre Dienste künftig als "Hybridangebot" vorhalten kann, d.h. in einer Kombination aus allen Formaten, gedruckt wie digital. Die Hybridbibliothek vereint Traditionelles und Modernes, sie besteht aus einem physischen Ort mit festen Bibliotheksräumen, sie ist wie ein reales Lagerhaus des aufgezeichneten Wissens, aber sie ist zugleich hochtechnisierte Datenzentrale und Wissensserver.

Die sich abzeichnende Aufhebung der künftigen Bibliothek in die Welten digitaler Medien macht nicht zwangsläufig die Aufhebung des realen Ortes Bibliothek notwendig. Wie die jüngste Architekturgeschichte zeigt, gibt es eine große Palette von Beispielen neuester bedeutender Bibliotheksgebäude, wie sie den oder einen Ort in der Stadt hervorheben. Das bildhafte Beispiel hierfür bilden die metaphorischen Büchertürme der neuen Bibliothèque nationale de France auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs Paris-Tolbiac, die ein gänzlich neues Stadtviertel habe entstehen lassen. Besonders frappierend sei, dass der Architekt in seiner Konzeption neben den aufgeklappten Glasbüchern vor allem das Kloster mit seinem Kreuzgang in die Mitte gestellt hat.16

Dennoch wird oft genug bezweifelt, ob die Bibliothek als "Sammlung von Informationsquellen an einem Ort" auch in der Zukunft diese Aufgabe noch wird ausfüllen können. Der Paradigmenwechsel in den Bibliotheken ist zwangsläufig vorprogrammiert: Vom Besitz zum Zugang, vom Gutsherrn zum Pächter, könnte die Devise der Bibliotheksarbeit von morgen sein. Konkret bedeutet dies: Bibliotheken werden ihre Information nicht mehr wie bisher in Form von Buch, Zeitschrift oder CD als Besitz erwerben, sondern vor allem den Zugang zu den elektronischen Medien anbieten, für die sie eine Lizenz erworben haben. Immer mehr kommt es dann darauf an, den Benutzern zu helfen, die richtigen Fragen zu formulieren. Im Zentrum der Bibliothek steht die Organisation, Auswahl und Verfeinerung der kommerziellen Angebote durch Aufbereitung und Integration der zerstückelten Informationslandschaft, indem Informationen gesucht, bereitgestellt und bewertet werten, die sehr komplex oder sehr schwierig zu finden sind. So wie heute die Bibliothek es den suchenden Kunden abnimmt herauszufinden, wo welches Buch am schnellsten und billigsten zu bekommen ist, wird sie im günstigsten Fall in der Zukunft den Service anbieten, wo und wie welche Informationen preisgünstig und schnell zu erreichen sind.

Die Bibliotheksnutzer von morgen sind nicht mehr ausschließlich Kunden, sie sind gleichzeitig fachkundige Partner und Informationsspezialisten, wozu auch die Bibliotheken sie gemacht haben. Denn: Informationstechnologie bietet den Menschen die Möglichkeit zur Teilhabe an vielen gesellschaftlichen Prozessen; sie können ihre Web-Seiten zusammen aufbauen, eigene Informationen digital verbreiten und mit anderen teilen, Meinungen austauschen. Unversehens wird der Amateur zum Spezialisten. Die Bibliothek wird in diesem Prozess zur unverzichtbaren, kollektiven Einrichtung, im besten Fall zu einem neuen öffentlichen, sowohl virtuellen als auch realen Raum, der allen zugänglich ist.17

Die Vision der zu bauenden Hybridbibliothek der Zukunft hat einen Ort der Begegnung zwischen Bibliotheks- und Informationsspezialisten und ihren mannigfachen Nutzern im Blick: Je nach Trägerinstitution und Zielgruppe sind es Menschen aller Altersschichten und Interessen, die sich im Zentrum einer Kommune in der Öffentlichen Bibliothek treffen oder es sind Lehrer und Schüler in zentralen Schulbibliotheken bzw. Studierende und der Lehrkörper in Hochschulbibliotheken. Zu diesem nach wie vor realen Bibliotheksort gehören zahlreiche Angebote, die wiederum vom Standort und der Zielgruppe abhängig sind:

Die moderne Bibliothek funktioniert nicht nur als Bibliothek im klassischen Sinne, sie hat darüber hinaus eine vielfältige Bedeutung für die Bevölkerung und die Politik einer Kommune. Sie ist bedeutungsvoll aufgeladen, als wirklich öffentlicher Ort, als allround-nutzbare Grundeinrichtung der lokalen Demokratie, als örtlicher Zugang zum Wissen. Dieser Bedeutung muss gerade durch Ästhetik, durch die Art der Ausstattung, entsprochen werden, wenn die Bibliothek als ein ernst gemeintes Angebot vermittelt werden soll. Erst wenn die Bibliothek so interessant und beeindruckend designt und ausgestattet ist wie bedeutende Museen, Banken, Buchhandlungen wird sie ihrer Bedeutung entsprechend in der Bevölkerung und von der Politik wahrgenommen, geschätzt und benutzt werden.18

Die zukünftige Bibliothek stellt eine Herausforderung nicht nur für Bibliothekare dar. Sie ist strategischer Teil des Wissenschaftsmanagement jeder Universität, jeder Kommune und jedes Landes. Die neue Bibliothek schaffen können in den Kommunen nur Politiker, Bibliotheksfachleute und Architekten gemeinschaftlich zusammen, in den Universitäten Wissenschaftler, Bibliothekare und Fachleute der Rechenzentren in Partnerschaft mit Verlagen und der Wirtschaft. Diese Kooperationsbereitschaft ist regional wie auch national, europäisch und letztlich weltweit einzufordern.19

Kritiker verhehlen nicht, dass sie in der Virtuellen Bibliothek in ihrer Vollform eine reine Utopie sehen und begründen dies mit den immensen Kosten, die die Digitalisierung als teuerste Variante der Konversion eines gedruckten Textes mit sich bringe; sie beziehen sich dabei auf die kaum zu bewältigenden, unabsehbaren Textmassen. Für viele übt sicher die elektronische Verfügbarkeit ihren ganz besonderen Reiz aus, sie entwickelt sich praktisch zum Gütesiegel für einen Text schlechthin. Der nur gedruckte Text könnte Gefahr laufen, als zweitrangiges Beiwerk zum eher inaktiven Bestand der traditionellen Bibliothek zu mutieren und damit auf lange Sicht zwangsläufig sogar entbehrlich zu werden.20

Welche realen Bilder gibt es schon heute von der hybriden Bibliothek von morgen? Grenzen zwischen Öffentlicher und Wissenschaftlicher Bibliothek verwischen zusehends, ganz aufgehoben werden sie aber wohl in keinem Land, Eigenständigkeiten und Besonderheiten werden auch in 30 Jahren bleiben. Das visionäre Buch "Bibliotheken 2040" schaut mit mehreren Szenarien sehr plastisch voraus: Ist die Zukunftsbibliothek eine prächtige "Hotellounge", in dem sich die Bücher nicht lange aufhalten, sondern lediglich zu Besuch sind? Oder ist sie eine "Survival- und Selbstbedienungs-Bibliothek", die in freier Natur oder im Wald in Gebäuden versteckt liegt und wo Bücher gefunden werden können? Oder kommt jenes Bild der künftigen Realität näher: Die Bibliothek könnte ein riesiger, spiralförmig in den Himmel strebender "Bücherturm" sein mit Hunderten von gläsernen Arbeitskabinen, gläsernen Aufzügen, einem raffinierten Navigationssystem und selbstverständlich durchgehenden Öffnungszeiten rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche.21

Entscheidend für die Zukunft der Bibliotheks-, Freizeit- und Bildungslandschaft ist sicher, wie sich die Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln wird. Wird sie eine aktive Gesellschaft sein, die den Dienstleistungsgedanken positiv weiterentwickelt, ohne dass sich der Staat vollends aus dem Prozess heraushält? Werden die Unternehmen das Bildungswesen noch stärker beeinflussen können? Werden der Spaßgedanke und mit ihm die Unterhaltungsindustrie und die Erlebniseinrichtungen weiter an Bedeutung gewinnen - bis hinein in die Formen des Lehrens und der Information? Oder wird sich eine zurückgezogene Gesellschaft bilden, die das Streben nach Dauerhaftigkeit, Umweltschutz und Werteerhalt unter gleichzeitig wachsendem Einfluss von Staat und Politik in den Vordergrund stellt? Bleibt in ihr der ungebremste Individualismus vorhanden?

Die (Öffentliche) Bibliothek in der aktiven Gesellschaft müsste als ein "Zentrum für Kunst und Kultur" eine Vielzahl von Aufgaben in sich vereinen, praktisch auf alle Bedürfnisse eingehen wollen und wäre dabei zwangsläufig dem harten Wettbewerb im Freizeitsektor und dem freien Spiel der Marktkräfte ausgeliefert. Die (Öffentliche) Bibliothek in der zurückgezogenen Gesellschaft , wie die Futurologen von Bibliothek 2040 annehmen, wäre wahrscheinlich ein mit anderen Kultur- und Bildungseinrichtungen fusioniertes Kulturzentrum, das wichtige Bildungsaufgaben übernimmt und den Menschen vom Kindergarten- bis ins Seniorenalter intensiv begleitet.22 Jedes Szenario birgt Chancen wie auch Risiken und ohne aktives Mitwirken aller Verantwortlichen wird eine feste Verankerung der Bibliothek im Gefüge der Bildungsinfrastruktur und der Freizeitangebote sowie der Forschung und Lehre nicht gelingen.

Es hat immer wieder Prognosen gegeben, dass mit der fortschreitenden Digitalisierung der Medien gedruckte Formate sehr bald aussterben würden. Heute ist die generell akzeptierte Position, dass dieser Prozess wesentlich länger dauert als erwartet, und dass in manchen Bereichen gedruckte Medien noch lange existieren werden, wenn nicht gar für immer. "Warum sollten wir uns unsere Zukunft von der Technologie bestimmen lassen?", beschwört uns das Zukunftsbild von Bibliotheken 2004 eindringlich und verweist auf die Erfolgsgeschichte des Buches, dessen letztes Kapitel noch lange nicht geschrieben ist. "Als ob wir weniger spazieren gegangen wären seit der Erfindung des Fahrrads, des Autos oder des Flugzeugs! Menschen werden weiterhin spazieren gehen, weil sie gerne spazieren gehen und es wird heute mehr spazieren gegangen als jemals zuvor. So lange Menschen spazieren gehen, wird es auch Bücher geben und deshalb wird es auch 2040 noch Bücher geben. Die Zukunft wird dann nicht länger Diktat, sondern die Chance, Phantasie und Inspiration großzügig Raum zu geben. Keine Zukunft des hochgerechneten Trends, aber eine Zukunftsperspektive, bei der die Phantasie eine Blankovollmacht erhält. Eine Zukunft, in der alles denkbar und realisierbar ist."23


Sekundärliteratur

Bibliothek 2007:
Strategiekonzept / Hrsg.: Bertelsmann Stiftung, Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e.V. Von Gabriele Beger u.a. - Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 2004. 40 S.

Bibliotheken 2040:
Die Zukunft neu entwerfen / Red. Rob Bruinzeels und Nicole van Tiggelen. Übers. Von Uta Klaassen. - Bad Honnef : Bock + Herchen, 2003. - 84. S.

Ingrid Bussmann:
Die Bibliothek als Atelier des innovativen Lernens, in: Bibliothek in der Wissensgesellschaft. Festschrift für Peter Vodosek. München 2001, S. 74-86.

Fabian, Bernhard:
Ansprache anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Humboldt-Universität zu Berlin am 14.Mai 2002. - Berlin 2002, 6 S. (pdf-Dokument)

Heyde, Konrad:
Vor allem Schönheit, in: ekz-konzepte; Bd. 8: Zukunft der Bibliothek, Nutzung digitaler Ressourcen, Schule und Bibliothek. Reutlingen: ekz, 2000. S. 75-78.

Hobohm: Hans-Christoph:
Auf dem Weg zur lernenden Organisation: neue Management-Konzepte für die Digitale Bibliothek, in: Bibliothek 21. 1997, S. 293-300. (pdf-Dokument)

Hobohm, Hans-Christoph:
Bibliothek - Mythos, Metapher, Maschine oder: Der Ort der Bibliothek in der Lebenswelt der Stadt. Vorlesungsmanuskript, S. 1-7. (pdf-Dokument)

Hobohm, Hans-Christoph:
Veränderte Managementkonzepte für die Digitale Bibliothek; Vortrag auf dem internationalen Seminar "Business Information" in der Akademie Frankenwarte in Würzburg, vom 19.6. bis 4.7.1997, der Bibliothekarischen Auslandsstelle der BDB. - Potsdam 1997. - 13 S. (pdf-Dokument)

Kempf, Klaus:
Gutachterliche Stellungnahme zur Situation und den Entwicklungsmöglichkeiten der Oberösterreichischen Landesbibliothek im Hinblick auf die Erweiterung und die Sanierung des Bibliotheksgebäudes; Rohbericht ; Stand: 11.9.2000. - München, Linz 2000. - 76 S. (pdf-Dokument)

Machbarkeitsstudie "Information und Lernen in Gütersloh";
Endbericht, Stand: 1. September 2002 / Solon. - Gütersloh 2002. - 127 S. (pdf-Dokument)

Mittler, Elmar:
Die Bibliothek der Zukunft; Überlegungen aus Anlass der Planungen zu einem Informations- und Kommunikationszentrum in Adlershof (Berlin), in: Bibliothek 20. 1996, S. 259-261.

Die Öffentliche Bibliothek als realer und virtueller Ort / von Conny Äng, Henk Das, Allison Dobbie, Susan Kent. - Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2001. 55 S. (pdf-Dokument)

Seefeldt, Jürgen; Syré, Ludger:
Portale zu Vergangenheit und Zukunft - Bibliotheken in Deutschland. Im Auftrag der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände herausgegeben und mit einem einführenden Essay sowie einem Nachwort von Georg Ruppelt. - Hildesheim: Olms 2003. - 112 S.

Weyer, Guido:
Mitarbeit von Jugendlichen in der Bibliothek, in: Bibliotheksarbeit für Jugendliche - voll krass? Neue Impulse. ekz-Workshop, vom 28. bis zum 29. Mai 2002 in Reutlingen. Reutlingen 2002, S. 1-4. (pdf-Dokument)


Zum Autor

Jürgen Seefeldt

Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz
Büchereistelle Koblenz
Eltzerhofstraße 6a
D-56068 Koblenz
E-Mail: seefeldt@landesbüchereistelle.de


Anmerkungen

1. Vgl. Bibliotheken 2040 : Die Zukunft neu entwerfen / Red. Rob Bruinzeels und Nicole van Tiggelen. Bad Honnef 2003, S. 7.

2. Vgl. Kempf, Klaus: Gutachterliche Stellungnahme zur Situation und den Entwicklungsmöglichkeiten der Oberösterreichischen Landesbibliothek im Hinblick auf die Erweiterung und die Sanierung des Bibliotheksgebäudes. München, Linz 2000, S. 10.

3. Vgl. Machbarkeitsstudie "Information und Lernen in Gütersloh"; Endbericht / Solon. - Gütersloh 2002, S. 6.

4. Vgl. Kempf, Klaus: Gutachterliche Stellungnahme zur Situation und den Entwicklungsmöglichkeiten der Oberösterreichischen Landesbibliothek im Hinblick auf die Erweiterung und die Sanierung des Bibliotheksgebäudes. München, Linz 2000, S. 45.

5. Vgl. Bibliotheken 2040 : Die Zukunft neu entwerfen / Red. Rob Bruinzeels und Nicole van Tiggelen. Bad Honnef 2003, S. 9.

6. Vgl. Zimmer, Dieter E.: Die Bibliothek der Zukunft. - Hamburg 2000, S. 124.

7. Vgl. Bibliothek 2007: Strategiekonzept / Hrsg.: Bertelsmann Stiftung, Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e.V. Von Gabriele Berger u.a. Gütersloh 2004, S. 13.

8. Vgl. ebenda, S. 27 ff.

9. Vgl. Ingrid Bussmann: Die Bibliothek als Atelier des innovativen Lernens , in: Bibliothek in der Wissensgesellschaft. Festschrift für Peter Vodosek. München 2001, S. 79.

10. Vgl. Dankert, Birgit, zit. aus: Seefeldt, Jürgen; Syré, Ludger: Portale zu Vergangenheit und Zukunft - Bibliotheken in Deutschland. Hildesheim 2003, S. 98.

11. Vgl. Fabian, Bernhard: Ansprache anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Humboldt-Universität zu Berlin am 14.Mai 2002. - Berlin 2002, S. 6.

12. Vgl. Hobohm: Hans-Christoph: Auf dem Weg zur lernenden Organisation, in: Bibliothek 21. 1997, S. 293.

13. Vgl. Hobohm, Hans-Christoph: Veränderte Managementkonzepte für die Digitale Bibliothek, S. 2.

14. Vgl. Hobohm, Hans-Christoph: Veränderte Managementkonzepte für die Digitale Bibliothek, S. 1.

15. Vgl. Mittler, Elmar: Die Bibliothek der Zukunft; Überlegungen aus Anlaß der Planungen zu einem Informations- und Kommunikationszentrum in Adlershof (Berlin), in: Bibliothek 20. 1996, S. 259.

16. Vgl. Hobohm, Hans-Christoph: Bibliothek - Mythos, Metapher, Maschine oder: Der Ort der Bibliothek in der Lebenswelt der Stadt. Vorlesungsmanuskript, S. 4.

17. Vgl. Bibliotheken 2040 : Die Zukunft neu entwerfen / Red. Rob Bruinzeels und Nicole van Tiggelen. Bad Honnef 2003, S. 81.

18. Vgl. Heyde, Konrad: Vor allem Schönheit, in: ekz-konzepte; Bd. 8: Zukunft der Bibliothek, Nutzung digitaler Ressourcen, Schule und Bibliothek. Reutlingen: ekz, 2000. S. 78.

19. Vgl. Mittler, Elmar: Die Bibliothek der Zukunft, in: Bibliothek 20. 1996, S. 261.

20. Vgl. Fabian, Bernhard: Ansprache anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Humboldt-Universität zu Berlin am 14.Mai 2002. - Berlin 2002, S. 6. (pdf-Dokument)

21. Vgl. Bibliotheken 2040 : Die Zukunft neu entwerfen / Red. Rob Bruinzeels und Nicole van Tiggelen. Bad Honnef 2003, S. 26 ff.

22. Vgl. ebenda, S. 67 ff.

23. Vgl. ebenda, S. 9.