Macht des Wissens:
Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft

Herausgeber: Richard van Dülmen; Sina Rauschenbach,
unter Mitwirkung von Meinrad von Engelberg


- Köln; Weimar; Wien: Böhlau Verlag, 2004. VIII, 741 S.
ISBN 3-412-13303-5. Euro 49,90
Subskriptionspreis bis 31.03.2005, danach Euro 64,90

Vor mir liegt ein opulentes Werk. Es umfasst in einem Band 400 Jahre Kulturgeschichte des Wissens. Es besteht aus einem exzellenten Vorwort, aus 28 von Experten verfassten Beiträgen mit Marginalien, Literatur- und Quellenangaben und einer Vielzahl den Text ergänzender Abbildungen sowie aus einem Literaturverzeichnis, einem Bildnachweis und zwei ausführlichen Registern (Personen- und Ortsregister). Es wurde herausgegeben und bestens redigiert von dem leider mitten in der Arbeit an diesem Buch verstorbenen Richard van Dülmen und von Sina Rauschenbach. Nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen seines kolossalen Gewichtes von über 3,5 Kilogramm ist dies wahrlich kein "bed-time reading" oder "coffee-table book".

Das Ziel des Buches besteht darin, dem Wissen in der Frühen Neuzeit "auf die Spur zu kommen, es in der entscheidenden Formierungsphase der modernen Wissenschaft von der Mitte des 15. bis ins frühe 19. Jahrhundert zu verfolgen und in einer allgemein verständlichen Darstellung seine verschiedenen Aspekte und Facetten zu eröffnen." (S. 1) Grundlegend für diesen Versuch sind interdisziplinäre Aspekte, weil die Disziplinenbildung sowie die Trennung zwischen Wissenschaftsgebieten (z.B. Natur- und Geisteswissenschaften) in der Frühen Neuzeit aufgehoben sind und eher ein Produkt der Wissenschaftskultur des 19. und 20. Jahrhunderts sind.

Diese Betrachtungsweise entspricht den Ansätzen moderner wissenschaftshistorischer Forschung, in denen versucht wird, "die historischen Perspektiven zu rekonstruieren, das Wissen so zu analysieren, wie es in seiner eigenen Zeit von Bedeutung war." (S. 2) Damit unterscheidet sich der Inhalt sehr von disziplinorientierten populärwissenschaftlichen Darstellungen zur Geschichte des Wissens und der Wissenschaften. Dies kommt auch der kulturwissenschaftlich orientierten wissenschaftsgeschichtlichen Forschung in der Bibliothekswissenschaft entgegen. Die Auswahl der Themen "orientiert sich an wichtigen wissenschaftsgeschichtlichen Ereignissen, Entwicklungen und Deutungen, die jeweils in einer für sie prägenden Phase untersucht werden." Die Herausgeber unterschieden fünf solcher Phasen:

  1. Aufbruch in der Renaissance (1450-1580)
  2. Wissenschaftliche Revolution und neues Wissen (1580-1660)
  3. Repräsentation und Ordnung des neuen Wissens (1660-1730)
  4. Wissenschaft, praktische Aufklärung, Popularisierung (1730-1780)
  5. Wissenschaft im Revolutionszeitalter (1780-1820).

Die vorgegebenen Jahreszahlen sind eher Orientierungshilfe denn starre Fixpunkte. Die Beiträge gehen häufig über diesen Zeitrahmen hinaus und runden ihre Betrachtungen durch einen Blick zurück und nach vorn ab.

Ein Beweis für die interdisziplinäre Betrachtungsweise ist die Darstellung des Bibliothekswesens in mehreren Kapiteln, in verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Gesichtspunkten.

Da ist zum einen ein eigenständiges von Uwe Jochum mit "Am Ende der Sammlung. Bibliotheken im frühmodernen Staat" (S. 273-294) überschriebenes Kapitel im Rahmen der zweiten Phase "Wissenschaftliche Revolution und neues Wissen (1580-1660)". Im Mittelpunkt stehen die Gedanken von Leibniz und Naudé, die für die Entwicklung der Bibliotheken in den folgenden Jahrhunderten wegweisend waren.

Da sind zum anderen Abschnitte in anderen Kapiteln, z.B. über

  1. den Buchdruck (eigenständiges Kapitel von Wolfgang J. Weber),
  2. die Enzyklopädistik und Orte des Wissens (in dem Kapitel "Wissensapparate" von Ulrich Johannes Schneider und Helmut Zedelmaier),
  3. die Zeitungen und Zeitschriften (sehr oft, z.B. in dem Kapitel "Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften" von Martin Gierl und in dem Kapitel "Populäraufklärung - Volksaufklärung" von Holger Böning),
  4. die Lesebibliotheken (in dem Kapitel "Popularisierung gelehrten Wissens im 18. Jahrhundert") und
  5. die Alphabetisierung, die Grundlage jeder Bibliotheksbenutzung (in dem Kapitel "Alphabetisierung - Lesen und Schreiben" von Ernst Hinrichs).

Dieses Beispiel zur Entwicklung des Bibliothekswesens in der Frühen Neuzeit zeigt auch eine empfindliche Lücke bei der interdisziplinären Darstellung der Geschichte des Wissens und der Wissenschaften: Es fehlt ein Schlagwortregister, mit dem Disziplinäres zusammengefügt werden kann.

Noch eine Bitte an die Verleger: Das schwere Buch sollte durch eine leichtere und entsprechend preiswertere Studienausgabe ergänzt werden.

Peter Burke untersuchte in seinem in B.I.T.online vorgestellten Buch "Papier und Marktgeschrei" (1) die Veränderungen des Wissens in einem Zeitraum von 300 Jahren - von der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg 1450 bis zum Erscheinen von Diderots "Encyclopédie" 1750. Er beschäftigte sich vorrangig mit den Veränderungen in der Lehre, Organisation, Lokalisierung, Klassifizierung, Kontrolle und Zuverlässigkeit des Wissens sowie mit dem Verkauf und Erwerb des Wissens.

Nun stellt B.I.T.online mit der "Macht des Wissens" eine weitere, allerdings wesentlich tiefergehende und umfassendere Publikation zu diesem Thema vor. Sie ist eine unverzichtbare Lektüre für Wissenschafts- und Bibliothekshistoriker, gleichzeitig eine Anregung für Museologen, Archivare, Verleger, Buchhändler, Bibliophile und Informationsfachleute. Und letztlich ist sie wie Burkes Ausführungen auch ein wichtiger Ansatz zur Wiederbelebung des Lehrfaches Wissenschaftskunde in der Aus- und Fortbildung des Bibliothekars (2).


Anschrift des Rezensenten

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
D-12557 Berlin
E-Mail: dieter.schmidmaier@schmidma.de


Anmerkungen

  1. Burke, Peter: Papier und Marktgeschrei : Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin : Verlag Klaus Wagenbach, 2001. 317 S. (Rez. in B.I.T.online 5(2002) 1, S. 85-86)
  2. Dass sich Bibliothekshistoriker in den letzten Jahren intensiv mit der Stellung der Bibliotheken in der Wissensgesellschaft beschäftigen, zeigt u.a. das Symposium "Buch und Bibliothek als Wissensräume in der Frühen Neuzeit". Vgl. Werner Arnold: Bibliotheken in der Wissensgesellschaft. In: Bibliothek 27 (2003) 3, S. 226-228.