Koch, Christine:
Das Bibliothekswesen im Nationalsozialismus: eine Forschungsanalyse


- Marburg: Tectum Verl., 2003. 144 S.
ISBN 3-8288-8586-1, € 25,90

In den letzten Jahrzehnten sind im In- und Ausland zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, die sich mit verschiedenen Aspekten der NS-Bibliothekspolitik befassen. Mit der vorliegenden Arbeit will Christine Koch den Stand der Forschung anhand der Fachliteratur analysieren, wobei sie auch die mit der nationalsozialistischen Machtübernahme einhergehenden Veränderungen im öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliothekswesen darstellen will.

Im ersten Kapitel erläutert die Autorin die Problemstellung, den Untersuchungsgegenstand, den Forschungsstand und die Quellenlage.

Das zweite Kapitel ist ein kurzer Abriss der historischen Rahmenbedingungen als notwendige Voraussetzungen zum Verständnis der kultur-, literatur- und bibliothekspolitischen Ereignisse in der Phase der Machtergreifung 1933. Die Autorin macht auch den Kontext der Bibliotheken mit den Verlagen, Buchhandlungen, Archiven und Museen sichtbar.

Im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen die Bücherverbrennungen im Mai 1933. Dabei geht es nicht nur um die Vorbereitung, die Durchführung und die Folgen dieser "Aktion wider den undeutschen Geist", sondern auch um die Frage, warum die Bibliotheken als Zielscheibe der Deutschen Studentenschaft dienten.

Die folgenden drei Kapitel untersuchen einzelne Bibliothekstypen:

  1. Die Bedeutung der Volksbüchereien für die politischen Machthaber und die Maßnahmen, die sie zur Durchführung ihrer Ziele ergriffen, die Haltung der Volksbibliothekare sowie die Rolle des Verbandes Deutscher Volksbibliothekare (VDV) im vierten Kapitel.
  2. Die Wissenschaftlichen Bibliotheken, Fragen der Zentralisierung und Gleichschaltung, staatliche Reglementierungsmaßnahmen, die Haltung der Wissenschaftlichen Bibliothekare sowie die Rolle des Vereins Deutscher Bibliothekare (VDB) im fünften Kapitel.
  3. Die Arbeit in den Leihbüchereien, konfessionellen Büchereien, Büchereien in den annektierten und besetzten Gebieten, Bibliotheken in nationalsozialistischen Konzentrationslagern sowie Musikbibliotheken im sechsten Kapitel.

Das siebente Kapitel enthält eine Schlussbetrachtung.

Im Anhang befinden sich ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Verzeichnis der Abkürzungen.

Fazit der Autorin: "Im Hinblick auf die Forschungslage ist zu resümieren, dass eine umfassende Gesamtdarstellung zum Bibliothekswesen im Nationalsozialismus, die alle relevanten bibliotheksspezifischen Aspekte erfasst, noch nicht existiert." (S. 121) Desiderate gibt es insbesondere bei den konfessionellen Bibliotheken, im Kinder- und Jugendbüchereiwesen sowie bei den Werk-, Partei- und jüdischen Bibliotheken, und "Regionalstudien zu einzelnen Bibliotheken stehen noch aus". (S. 122)

Fazit des Rezensenten: Dies ist eine auf der Grundlage von über 200 z.T. sehr umfangreichen Veröffentlichungen erarbeitete, logisch aufgebaute, sehr gut durchdachte und akribische Untersuchung, mit konkreten Hinweisen für künftige Forschungen, auch mit Überraschungen, wie die Abschnitte über die Büchereien in den annektierten und besetzten Gebieten und die Bibliotheken in nationalsozialistischen Konzentrationslagern zeigen. Die Bibliothekswissenschaft ist um eine wichtige historische Untersuchung reicher. Christine Koch hat eine sehr gute Vorarbeit für eine umfassende Geschichte des Bibliothekswesens in Deutschland für die Zeit von 1933 bis 1945 geleistet.(1) Ihre Arbeitsergebnisse sind vielfältiger und weitreichender, als der Rezensent dies zuvor angenommen hatte.

Einige kleine Anmerkungen des Rezensenten:

Die Überschrift "5.6.1. Die Preußische Staats- und Universitätsbibliothek Berlin" (S. 90) ist falsch, denn eine Vereinigung der beiden großen Berliner wissenschaftlichen Bibliotheken gab es nicht.

Der Satz "Das deutsche Leihbüchereiwesen gehört allgemein zu einem der bislang kaum erforschten Gebiete in der deutschen Bibliotheksgeschichtsschreibung" (S. 103) ist so eine unzulässige Verallgemeinerung. In den letzten zwanzig Jahren ist eine fast unübersehbare Fülle von Veröffentlichungen erschienen.(2)

Die richtige Feststellung "Auch hinsichtlich der Benutzerkreise gab es Einschränkungen, was vornehmlich Bürger jüdischer Herkunft betraf" (S. 120) verlangt nach Beispielen. In der Fachliteratur wird immer wieder auf den Berliner Germanisten und Theaterwissenschaftler Prof. Dr. Max Herrmann hingewiesen.(3)

Der Typ Gewerkschaftsbibliothek fehlt im Kap. 7 "Sonstige Bibliotheken" (S. 101-117), obwohl es hierzu wichtige Veröffentlichungen gibt und sich insbesondere die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung dieser Thematik angenommen hat.(4)

Die Arbeit ist Buch- und Bibliothekswissenschaftlern, Historikern insbesondere auf dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften, Bibliophilen sowie Studenten der Bibliothekswissenschaft sehr zu empfehlen.

Das Buch ist zugleich ein Aufruf an alle Bibliotheken, die sich bisher noch nicht oder nur ungenügend mit der Geschichte ihrer Bibliothek zwischen 1933 und 1945 beschäftigt haben, dies zu tun.


Anschrift des Rezensenten

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
D-12557 Berlin
E-Mail: dieter.schmidmaier@schmidma.de


Anmerkungen

1. Eine weitere wichtige Bestandsaufnahme, und zwar zur Geschichte der Bibliothekswissenschaft in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert mit allen Fortschritten und Rückschlägen, Brüchen und Verwerfungen, legt Margit Bornhöft in ihrem Buch "Bibliothekswissenschaft in Deutschland" (Aachen, 1999) vor. Vgl. die Besprechung in B.I.T.online 5 (2002) 1, S. 86-87.

2. Das Standardwerk ist: Martino, Alberto: Die deutsche Leihbibliothek: Geschichte einer literarischen Institution 1756-1914. Wiesbaden, 1990. XV, 1170 S. - Vier weitere Beispiele: Günther Meyer: Bücher, Bibliotheken und Leser in der Uckermark. Prenzlau, 1999. 244 S. - Walter Schellhas: Die Vorläufer der "Volksbibliothek für die Stadt Freiberg". Freiberg, 1984. 104 S. - Dieter Schmidmaier: Leihbibliotheken in Güstrow zur Goethezeit. In: Mecklenburgische Jahrbücher 115 (2000) S. 185-213. - Uwe Puschner: Lesegesellschaften. In: Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart, 2002. S. 193-206.

3. Vgl. hierzu die exzellenten Arbeiten von Friedhilde Krause "Jüdische Bibliophile in ihrer Verbindung mit der Staatsbibliothek zu Berlin 1905 bis 1933" (in: Marginalien 125 (1992) S. 28-48) und Renate Gollmitz "Max Herrmann, ein jüdischer Germanist an der Berliner Universität (in: Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin 23 (1989) S. 77-85).

4. So in: Verbrannt, geraubt, gerettet! Bücherverbrennungen in Deutschland. Eine Ausstellung. Bonn, 2003. 56 S. (Veröffentlichung der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung; 13) mit dem Beitrag von Detlev Brunner: 2. Mai 1933 - Der Sturm auf die Gewerkschaftshäuser und das Schicksal der Gewerkschaftsbibliotheken. S. 23-29.