"Wir dürfen nicht zulassen, dass wir kollektiv vergessen"

Bericht von der iPres Konferenz, Göttingen, 15-16.9.2005


Formate schon jetzt nicht mehr lesbar
Wer soll sich um Langzeitarchivierung kümmern?
Niggemann warnt vor "digitalem Alzheimer"
Deutschland ist schon gut aufgestellt
Digitalarchivierung bald normaler Bestandteil der Bibliotheksarbeit?
Ausgetrocknete Formate als Notlösung
Viele Ansätze, keine wirklichen nationalen Strategien

von Vera Münch

Die Frage, wie man digitale Objekte so archiviert, dass sie dauerhaft lesbar und damit für alle Zukunft zugänglich bleiben, ist international. International ungelöst. In unzähligen Forschungs- und Entwicklungsprojekten wird weltweit - von den USA über Europa bis nach China - auf nationaler Ebene nach organisatorischen und technischen Lösungen gesucht. Die Europäische Union (EU) hat eine über Länder- und Fachdisziplin-Grenzen greifende Arbeitsgruppe (Task-Force) mit dem Auftrag eingerichtet, Strategien und Lösungsvorschläge zu erarbeiten.

In Deutschland ist das Problem zwar angekommen, bislang aber erst in einer kleinen Gruppe engagierter Bibliothekarinnen und Bibliothekare, Dokumentare, Archivare und Ministerialbeamter. Die Öffentlichkeit nimmt die ungelöste Frage der Langzeitarchivierung digitaler Objekte überhaupt nicht wahr. Die Politik fängt erst sehr zaghaft an, sich für die wichtige Zukunftsaufgabe zu interessieren; und sogar die Fachwelt scheint hierzulande wenig bereit, sich mit dem Thema aktiv auseinander zu setzen. Nur etwas mehr als die Hälfte der rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der "International Conference on Preservation of Digital Objects" (iPres) Mitte September in Göttingen kamen aus Deutschland. Die anderen reisten aus insgesamt elf Nationen in Niedersachsen an, um im internationalen Austausch zu erfahren, welche Strategien die verschiedenen Länder in Sachen Langzeitarchivierung verfolgen, was wo getan wird und wie weit die Forschung ist. Unter den Teilnehmern fanden sich Vertreter aus Kuba, China und vielen europäischen Ländern. Für die Vorträge konnten Fachleute aus Australien, China, Deutschland, England, den Niederlanden und den U.S.A. gewonnen werden. Die Konferenzbeiträge sind, so weit elektronisch verfügbar, unter http://www.langzeitarchivierung.de/ipres/media im Internet bereitgestellt.

Formate schon jetzt nicht mehr lesbar

Gastgeber der iPres war die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB). Sie organisierte die Konferenz im Rahmen des deutschen Netzwerkentwicklungsprojekts "nestor - Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung", an dem die SUB als Partner beteiligt ist. Unterstützung gab es unter anderem vom Bundesforschungsministerium (BMBF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Letztere formulierte in ihrem Grußwort im Konferenzbegleitheft die Dimension, um die es geht: um nicht weniger als "...die Erhaltung und universale Zugänglichkeit des digitalen Welterbes (...), da die Gefahr besteht, dieses Erbe und somit die Quelle für Bildung, Kommunikation und Wissenstransfer für diese und zukünftige Generationen zu verlieren".

Dr. Christine Thomas, Leiterin des Referates 523: Digitale Bibliotheken im BMBF verwies in ihrem Grußwort auf die Auswirkungen der fehlenden Abwärtskompatibilität von Software und ihre Folgen. "Viele ältere Dateiformate können schon jetzt nicht mehr verlustfrei von aktuellen Softwareversionen gelesen werden", so Thomas. Ein (vermeintlich) technisches Problem mit gewaltigen volkswirtschaftlichen Auswirkungen: Schon heute werden in vielen Bibliotheken beinahe rund um die Uhr Dateien konvertiert und migriert, das heißt, so umkopiert, dass sie von neuer Technik gelesen werden können. Nur so kann derzeit einigermaßen sichergestellt werden, dass die Bibliotheken ihre Aufgabe erfüllen können; nämlich das aktuelle Wissen der Welt für Bibliotheksbenutzer bereitzustellen und für die nachfolgenden Generationen zu bewahren.

Wer soll sich um Langzeitarchivierung kümmern?

Vielleicht lag die schwache deutsche Beteiligung an der Konferenz auch daran, dass eigentlich überhaupt nicht so richtig klar ist, wer "die Fachwelt" zum Thema Langzeitarchivierung ist; mithin, wer sich um die akuten Fragen der Bewahrung des digitalen kulturellen Erbes des Landes kümmern sollte und kümmern muss. Auch dieses Problem ist international. Wie ein roter Faden zog sich der Satz "Wir brauchen Strategien und Konzepte" zwei Tage lang durch alle Konferenzbeiträge. Nach Ansicht des Direktors der SUB, Professor Dr. Elmar Mittler gibt es auch "...keinen Weg, dieses Problem ohne internationale Zusammenarbeit zu lösen." In seiner Begrüßungsrede forderte er die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf: "Lassen Sie uns zusammenarbeiten." Die hohe internationale Beteiligung, so Mittler, ließe ihn hoffen, dass neue internationale Kooperationen zustande kämen und existierende Kooperationsansätze verstärkt werden könnten.

Niggemann warnt vor "digitalem Alzheimer"

Warnt vor "digitalem Alzheimer": Die Generaldirektorin Der Deutschen Bibliothek, Dr. Elisabeth Niggemann. Neben ihr Konferenz-Organisator und Gastgeber Prof. Dr. Elmar Mittler, Direktor der SUB Göttingen.

Dr. Elisabeth Niggemann, als Generaldirektorin Der Deutschen Bibliothek (DDB) seit Jahren mit dem Strukturwandel von gedruckter zu digitaler Publikation an der vordersten Front befasst, warnte in Göttingen vor "digitalem Alzheimer". Niggemann erklärte: "Wir können und dürfen einfach nicht zulassen, das wir kollektiv vergessen." In einer komplex gebildeten Gesellschaft könne man nicht leben, wenn man die Vergangenheit nicht kenne. "Literatur", so Niggemann, "ist die wichtigste Visualisierung der Vergangenheit und Bibliotheken sind die Einrichtungen für den Erhalt des öffentlichen Gedächtnisses." Den Verantwortlichen in der Politik müsse deutlich gemacht werden, dass Langzeitarchivierung nur die Öffentlichkeit leisten könne.

Die Generaldirektorin Der Deutschen Bibliothek forderte von den Konferenzteilnehmern ein schnelles, pragmatisches Anpacken der Aufgaben, auch wenn man noch nicht hundertprozentig wisse, wie es technisch und organisatorisch gehen könnte. "Wir müssen kleine Schritte machen und keine Angst haben. Es wird nicht schaden. Tun wir es einfach", versuchte Niggemann die Fachwelt zu motivieren. Der Kampf gegen Schaden und Verlust sei ein alter Kampf und hätte nicht immer gewonnen werden können. Aber nichts zu tun sei kein Konzept, so Niggemann.

Sie regte an, für die Langzeitarchivierung aller Medientypen eine einheitliche Verfahrensweise und Strategie anzustreben. Dazu müsste zunächst geklärt werden, wer für die Aufgabe Langzeitarchivierung verantwortlich sei und wer bezahle. Es sei unabdingbar, für die laufenden Arbeiten stabile Mittel im Rahmen einer permanenten Finanzierung verfügbar zu haben. Darüber hinaus müsse jedoch zusätzliches Geld für Forschungsprojekte bereitgestellt werden. Gleichzeitig mit der Frage, welche Technologien zur Lösung der Aufgabe geeignet seien, müsste, so Niggemann, die Frage nach den benötigten nationalen und internationalen Strukturen geklärt werden.

Die Generaldirektorin hofft auf eine baldige Gesetzesnovellierung, die Der Deutschen Bibliothek als Nationalbibliothek den Auftrag für die Sammlung digitaler Netzpublikationen analog zu den bisherigen Medien gibt. Eine entsprechende Gesetzesnovellierung wurde bereits von der Bundesregierung auf den Weg gebracht.

Deutschland ist schon gut aufgestellt

Neben den Strategien und Konzepten für die Langzeitarchivierung bildeten technische Lösungsansätze und offene Fragen den zweiten Themenblock der Konferenz. Der dritte Block war dem Thema Web Archiving gewidmet.

Technisch und organisatorisch kann Deutschland mit den beiden Forschungs- und Entwicklungsvorhaben "nestor - Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung" (http://www.langzeitarchivierung.de) und kopal, einer Initiative zum kooperativen Aufbau eines Langzeitarchivs digitaler Informationen (http://www.kopal.langzeitarchivierung.de) im internationalen Vergleich bereits sehr gut mithalten. Das erklärten sowohl Gastgeber Mittler, als auch Reinhard Altenhöner, Leiter der IT-Abteilung der DDB und Gesamtprojektleiter für kopal auf der Konferenz in Göttingen. Altenhöner stellte in seinem Vortrag "Information Life Cycle Management and Long-Term Preservation - Technical Aspects Of Workflow-Organisation" die Forschungs- und Entwicklungsarbeit aus dem Projekt kopal und die ersten Ansätze zur organisatorischen Integration in die Betriebsabläufe einer "Gedächtnisorganisation" wie Der Deutschen Bibliothek vor. Stefan Strathmann präsentierte im Konferenzbeitrag "Developing A National Preservation Policy: Experiences In Germany" das Projekt nestor. Strathmann ist wissenschaftlicher Dokumentar an der SUB Göttingen.

Während kopal technische Lösungen erprobt und entsprechende, von Software unterstützte Arbeitsabläufe entwickelt, läuft in nestor keine technische Forschung. Das Projekt ist dem Aufbau eines Kompetenznetzwerkes Langzeitarchivierung sowie der Lösung übergeordneter Fragen gewidmet. Es vernetzt Fachleute, vorhandenes Know How, Forschungsergebnisse und andere Informationen primär in Deutschland, aber auch über die Grenzen hinaus. Eine weitere Aufgabe ist die Erarbeitung von Richtlinien für die Langzeitarchivierung von digitalen Objekten. nestor und Kopal werden vom BMBF gefördert. In beide Projekte sind Bibliotheken, Archive und Museen eingebunden. An kopal beteiligen sich auch Industriepartner, unter anderem IBM. Die Folien aus Altenhöners und Strathmanns interessanten Vorträgen sind auf der Konferenzhomepage bereitgestellt.

Digitalarchivierung bald normaler Bestandteil der Bibliotheksarbeit?

Den Umgang mit den Digitalmedien in den normalen Arbeitsablauf von Bibliotheken zu integrieren, ist Ziel aller Fachleute, die sich in den verschiedenen Ländern mit der Frage beschäftigen. Wie lange es noch dauern wird, bis Digitalarchivierung zu einem normalen Bestandteil der bibliothekarischen Arbeit wird, weiß allerdings noch niemand. Auf der iPres-Konferenz wurden zahlreiche Einzellösungen präsentiert. In England, Holland und den U.S.A. laufen spannende Pilotanwendungen. Sie verfolgen unterschiedliche Ansätze, sowohl bei der Speicherung, als auch bei der Beschreibung durch Metadaten und bei der Auswahl dessen, was überhaupt aufbewahrt werden soll. Einen der Hauptunterschiede findet man beim Umgang mit dem Dokument, das langfristig gespeichert werden soll. Während die einen das komplette Dokument inklusive seiner Metadaten in eine Datenbank packen, trennen die anderen dokumentarische und technische Metadaten vom digitalen Rumpfdokument resp. anderem Digitalwerk.

Ausgetrocknete Formate als Notlösung

John Kunze, Spezialist für Langzeitarchivierung bei der amerikanischen California Digital Library geht noch einen anderen Weg. In seinem Konferenzbeitrag und in der Pressekonferenz zur iPres brach er eine Lanze für die Rückbesinnung auf das, was man heute schon über die Lesbarkeit von digitalen Dokumenten aus der Vergangenheit weiß: Am sichersten seien jene lesbar, die im einfachsten Format - in "plain text" - vorlägen. Kunze schlägt vor, alle digitalen Medien in sogenannten "desiccated" (ausgetrockneten) Versionen zu speichern und meint damit, dass von jedem Digitaldokument eine Version in einem total abgespeckten Format ohne jegliches Multimedia-Schnick-Schnack aufbewahrt werden sollte. Ein derartiges Einfach-Format, so Kunze, sei vermutlich auch noch in 30 Jahren lesbar. Solche Formate sollten sicherheitshalber parallel zu den Originaldaten gespeichert werden. Gleichzeitig müsse aber das Ziel der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zur Langzeitarchivierung der dauerhafte Zugang zu den Originalformaten in allen Multimediafacetten sein.

Stevan Abrams, Direktor des Digital Library Program der Harvard University Library setzt hingegen darauf, die Originaldokumente in ihrem Originalformat zu archivieren und sie mit zusätzlichen technischen Metadaten zu versehen. Diese technischen Informationen sollen dauerhaft Auskunft über die Software geben, mit der das Dokument erzeugt wurde. Gleichzeitig müssten ein oder mehrere zentrale Register aufgebaut werden, in denen über die Jahre permanent alle Softwareformate aufgezeichnet werden, die von irgend jemandem zur Herstellung von Wissenschaftspublikationen, digitalen künstlerischen Werken, Bild- und Tondokumenten, Akten, Primärdaten usw. verwendet werden. Auf dieses Register könne man später bei Bedarf zugreifen. Abrams verwies ausdrücklich darauf, dass er sich keiner Illusion hingibt, dieser Zentralregisteraufbau sei im Alleingang zu schaffen. Ohne die Etablierung einer sogenannten Global Digital Format Registry (GDFR) sei wenig Erfolg zu erwarten.

Viele Ansätze, keine wirklichen nationalen Strategien

Im Verlauf der Konferenz wurden noch weitere Ansätze und Einzelllösungen präsentiert, unter anderem eine interessante, relativ weit fortgeschrittene Initiative aus England. Sie wurde von Manjula Patel als Vertreterin des erst kürzlich gegründeten britischen "Digital Curation Center" (DCC) in Göttingen vorgestellt (http://www.dcc.ac.uk). Eine einheitliche Landesstrategie zur Langzeitarchivierung scheint es jedoch noch in keinem Land zu geben, weder in den U.S.A, noch in England, noch in den Niederlanden, die alle drei schon seit einigen Jahren an der Problemlösung arbeiten. Lediglich die Vorträge der chinesischen Referenten ließen so etwas wie eine zentrale Sammelstrategie erahnen. Doch eigene Entwicklungsansätze für technische Lösungen scheint es in China kaum zu geben. Dort erwartet man die Bereitstellung geeigneter Werkzeuge offenbar vom freien Weltmarkt.

Dass sich der Weltmarkt allerdings um die dauerhafte Aufbewahrung sämtlicher Versionen der ständig in einem atemberaubenden Tempo weiterentwickelten Software kümmern wird, darf aus heutiger Sicht stark bezweifelt werden. Wenn man das digitale Welterbe erhalten will, wird das eine aber nicht ohne das andere gehen. Eine gewaltige Zukunftsaufgabe. Aber wie sagte Elisabeth Niggemann so schön: "Wir müssen kleine Schritte machen und keine Angst haben. Es wird nicht schaden. Tun wir es einfach."


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