Editorial
"Netzwerk Bibliothek" - quo vadis?

Kann die Bibliothek ein Netzwerk sein, fragt sich der kritische Leser, wenn er das Programmheft des diesjährigen Bibliothekartages in die Hand nimmt und dies als Motto eben dieser Tagung entdeckt? Vermutlich wird er aber weder innerhalb noch außerhalb des Bibliothekartages schnell eine Antwort bekommen oder finden - vielleicht bis ihn zum Ende der Tagung die Generaldirektorinnen der größten deutschen Bibliotheken in ihrer Podiumsdiskussion zu diesem Thema aufklären wenn sie fragen: "Hält das Netzwerk Bibliothek?" - wenn es denn ein solches gibt!

Die Bezeichnung "Netzwerk" wird heute inflationär für jegliche Zusammenarbeit oder auch Kooperation verwendet, nachdem sie erstmals in Lexika des 19. Jahrhunderts auftauchte - dort allerdings noch für das Geäder eines Blattwerkes. Heute dagegen werden Arbeitskreise und Arbeitsgemeinschaften mit einem Male zu Netzwerken, Verbünde und Verbundsysteme ebenso, die bisherigen Bibliothekssysteme der Universitäten wandeln sich mancherorts ebenfalls zu Netzwerken, unterschiedliche Bibliotheken schließen sich unter einem oder mehreren Sachthemen zu Netzwerken zusammen (Netzwerk Mediatheken), gleichartige ebenso (Gabriel, heute The European Library, die Vernetzung der Kataloge von derzeit 43 Nationalbibliotheken); mehrere Köche kochen einen Brei und nennen sich Kompetenznetzwerk (Medienkompetenz, Netzwerk Informationskompetenz Baden-Württemberg, Kompetenznetzwerk Leseförderung oder Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung) und vieles mehr.

Aber ist das nur eine moderne Masche? Warum nicht, wenn man damit an den Ursprung gelangt? Und dieser mag das "Netz" in seiner ursprünglichen Bedeutung sein, das geknüpfte, das Knoten mit Knoten zu Maschen verbindet, deren Vielzahl ein einheitliches Ganzes bildet, das einem bestimmten Zweck dient. Auch der mathematische Gedanke mag als Ursprung gedient haben, wo als Netzwerk solche Systeme bezeichnet werden, deren Struktur sich als Graph darstellen lassen. Ein solches besteht aus Knoten, die mittels Kanten zu einer Masche verbunden werden, von denen mehrere zusammen ein Netzwerk bilden - wie es auf dem Umschlag des Programmheftes abgebildet ist - und deren Gesetzmäßigkeiten mit der Graphentheorie ermittelt werden.

In der Praxis nun haben viele Fachgebiete dieses Bild übernommen. Man spricht z.B. vom Sozialen Netzwerk, Karriere Netzwerk (Seilschaften), Verbrecher Netzwerk (Mafia), Logistik Netzwerk, Osteuropa Netzwerk, Begabten Netzwerk, Netzwerk für Wissensweitergabe u.a.m. - es gibt also heute nichts, was sich nicht als Netzwerk bezeichnen lässt, so dass hier wirklich eine inflationäre Entwicklung eingesetzt hat, bei der die Ursprungsgedanken (auch mathematische) außer Acht bleiben: durch die Verbindung mehrerer Knoten oder Maschen, d.h. durch die Vernetzung, treten neue Qualitäten auf, die auf der Ebene der einzelnen Teilnehmer nicht vorhanden waren; wie z.B. aus "dummen" Einzelzellen durch Vernetzung ein "intelligentes" Gehirn wird. Die Biologik sagt: aus nicht intelligenten Elementen entsteht durch Vernetzung Intelligenz.

Dieser strenge Gedanke ist aber bei den heutigen Netzwerkbildungen meist verloren gegangen, sondern man sagt ganz allgemein, ein Netzwerk ist ein System von miteinander verbundenen Institutionen, Personen oder Objekten, die sich insbesondere der Möglichkeiten der Kommunikation durch die modernen Medien bedienen. Und so bleibt abzuwarten, ob das "Netzwerk Bibliothek" nicht nur hält, sondern auch, wie es definiert wird - von den Generaldirektorinnen beim Bibliothekartag!?

Vielleicht aber stellt nach solcherart Definition auch diese Zeitschrift ein Netzwerk dar? Bevor wir uns aber zu dieser Bezeichnung versteigen, belassen wir es lieber bei der Vielfalt der Themen, die wir unseren Lesern bieten wollen, so auch in diesem Heft - mit oder ohne Netzwerk!

So lenken wir zunächst unseren Blick wieder einmal nach Asien, von wo unser Autor Ulugbek Karimov diesmal über das Bibliothekwesen in Kirgisien und Tadshikistan berichtet. Aus dem Goethe-Institut in Kasachstan hören wir über dessen bibliothekarische Tätigkeiten dort. Von weiter südöstlich berichtet uns Gernot Gabel über den Neubau der Nationalbibliothek in Singapur. Um beim Bibliothekbau zu bleiben liefern uns Robert Jopp und Klaus Ulrich Werner kompetente Einsichten in den spektakulären Neubau der Philologischen Bibliothek der FU Berlin.

Ganz andere Themen bieten unsere Fachbeiträge. Jürgen Seefeldt will verdeutlichen, in welchem Maße die Professionalisierung der Außendarstellung einer Bibliothek zum Aufbau eines guten Images erforderlich ist. Joachim Kreische dagegen untermauert seine These, dass dem hybriden Medienangebot auch eine hybride Nutzung entspricht, wozu die Bibliothek eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung stellen muss. Schließlich nimmt sich Wolfgang Ratzek einmal einer umfassenden Betrachtung des Einsatzes der RFID-Technik an.

Uwe Dierolf und Michael Mönnich schildern Einsatzmöglichkeiten von Recommendersystemen in Bibliotheken. Matthias Neubauer und Thomas Wollschläger zeigen erste Erfahrungen mit der Journal Storage Software der Harvard University Library im Projekt "kopal". Um dem Bedarf ihrer Nutzer nahe zu kommen, setzen Bibliotheken vielfach das Mittel der Umfrage ein, in letzter Zeit mehr und mehr das der Online-Befragungen. Ihre Einsatzmöglichkeit im Spannungsfeld zwischen diesen und nicht-elektronischen Befragungen legt Marta-Inti Metzendorf dar. Über diese Sachthemen hinaus bieten wir unseren Leser/Innen auch wieder ein breites Spektrum von Tagungsberichten und anderen Informationen - ohne diese zu vernetzen! Viel Vergnügen und Informationsgewinnung wünscht

Dr. Rolf Fuhlrott
Chefredakteur