Der Neubau der Nationalbibliothek von Singapur


Zur Landesgeschichte
Zum Bibliothekswesen
Zur Gebäudetechnik

von Gernot U. Gabel

Gesamtanblick der neuen Nationalbibliothek
Ende April 2005 wurde in Singapur der 16-geschossige Neubau der Nationalbibliothek eingeweiht. Der spektakuläre Baukörper liegt im Herzen des Stadtstaates und soll die Hinwendung Singapurs zu einer Wissenschaftsmetropole baulich unterstreichen.

Zur Landesgeschichte

Singapur zählt zu den jungen Staaten Asiens, der seine Unabhängkeit erst vor vier Jahrzehnten erlangte. Ihre Gründung verdankt die Stadt einem Engländer, Sir Stamford Raffles (1781-1826), der 1819 auf dem kaum besiedelten Eiland vor dem Südzipfel der Halbinsel Malakka eine Handelsniederlassung der britische Ostindien-Kompanie errichtete. Fünf Jahre später kaufte er die Insel von ihrem Besitzer, einem Sultan. Der Handel führte schnell zur wirtschaftlichen Blüte Singapurs und brachte einen Vielvölkerstaat hervor, in dem die englischen Kolonialherren mit ihren Bauten ein Stück Europa in Südostasien zu schaffen suchten. Aus dieser Zeit sind heute nur noch wenige Zeugnisse erhalten. Eines der repräsentativen Gebäude der Kolonialzeit, das nicht der urbanen Umwandlung der letzten Jahrzehnte weichen musste, ist das traditionsreiche Raffles Hotel, eine Oase der gehobenen Gastlichkeit.

Als die britische Regierung 1867 die Besitzungen der East India Company übernahm, wurde die aufstrebende Hafenstadt direkt vom Colonial Office in London verwaltet. Im Zweiten Weltkrieg besetzten japanische Truppen die Stadt. 1946 erhob Großbritannien die Insel zu einer Kronkolonie, die man 1959 mit Malaya und British-Borneo zur Konföderation Malaysia vereinigte und 1963 in die Unabhängigkeit entließ. Zwei Jahre später, im August 1965, zerbrach der Staatenbund und Singapur wurde ein eigenständiger Staat. Die Bevölkerung besteht mehrheitlich aus Chinesen (76 %), neben denen Malaien (15%) und Inder (7%) die zahlenmäßig stärksten Minderheiten bilden. Die Nationalsprache Singapurs ist das Malaiische, aber Englisch wurde die Sprache der Verwaltung und auch zunehmend das von Handel und Industrie bevorzugte Idiom. Daneben gehören auch Chinesisch und Tamilisch zu den offiziellen Sprachen des Landes.

Zum Bibliothekswesen

Die Entwicklung des Bibliothekswesens in Singapur setzte bereits mit Gründung der ersten Schule in der Handelsniederlassung ein, der von Sir Stamford Raffles etablierten "Singapur Institution". Dort richtete man eine kleine Bibliothek ein, die 1844 in eine Privatbibliothek umgewandelt und 1849 um ein Museum erweitert wurde. Aufgrund von Finanzproblemen übernahm die britische Regierung diese Einrichtung im Jahre 1874 und führte sie unter dem Namen "Raffles Library and Museum" fort. Bereits 1886 erhielt sie das Copyright-Privileg für die in der Stadt veröffentlichten Publikationen verliehen. 1955 nahm man die Trennung von Bibliothek und Museum vor, und zwei Jahre später wandelte man die "Raffles Library" zu einer öffentlichen und nationalen Bibliothek um, die bis 1960 den Namen "Raffles National Library" trug. Dann unterdrückte man den Namen ihres Gründers, und seither firmiert sie als "National Library".

Im November 1960 bezog die Nationalbibliothek einen Neubau, der direkt neben dem Museum im Zentrum der sich rasch zu einer dynamischen Metropole wandelnden Stadt lag. Die Kollektion, zumeist englischsprachige Titel, hatte damals einen Umfang von ca. 50.000 Bänden. Seither hat man sie zu einer multilingualen Sammlung erweitert, die Angebote für die drei großen Volksgruppen der Chinesen, Malaien und Inder sowie für die anderen Minderheiten im Stadtstaat bereithält. Bis 1975 war ihr Bestand auf ca. 750.000 Bände angewachsen. Bereits 1968 verabschiedete das Landesparlament einen Zusatz zum Bibliotheksgesetz, der der Nationalbibliothek auch die Planungs- und Koordinationsfunktion für das öffentliche Bibliotheknetz im Lande übertrug. Im Laufe der folgenden Jahre entwickelte diese Aufgabe eine solche Eigendynamik, dass man sich im zuständigen Ministerium 1992 veranlasst sah, eine Arbeitsgruppe zur Evaluierung und Weiterentwicklung des Bibliothekswesens einzusetzen. Deren Bericht gipfelte in der Empfehlung, man möge ein zentrales, mit weitreichenden Befugnissen ausgestattetes Gremium schaffen und diesem alle Bibliotheken des Stadtstaates unterstellen. Das Parlament verabschiedete daraufhin im Frühjahr 1995 den "National Library Board Act", der die Aufgaben und Befugnisse dieser neuen Behörde (National Library Board = NLB) festlegt. Das NLB wurde mit Exekutivkompetenz ausgestattet und erhielt die Leitung der Nationalbibliothek, der Regionalbibliotheken sowie der öffentlichen Bibliotheken des Landes übertragen.

Bereits 1993 hatte die Regierung als strategische Vision vorgegeben, Singapur solle sich zu einem "science hub", einem weltweit beachteten Forschungs-, Bildungs- und Wissenschaftsland entwickeln, dessen Ausstrahlung sich über ganz Südostasien erstreckt. In diesem Masterplan kommt den Bibliotheken eine wichtige Rolle als "information provider" zu. Der ehrgeizige Projektvorschlag sah vor, innerhalb eines Jahrzehnts ein klar strukturiertes Bibliothekssystem zu schaffen, das als Computernetzwerk organisiert ist, eine koordinierte nationale Bestandsstrategie verfolgt und auf die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft setzt. In diesem Konzept soll die Nationalbibliothek als globaler Wissensmarkt an der Schnittstelle zwischen Ost und West agieren. Vor allem die asienspezifischen Bestände sollten aufgestockt und Dienstleistungen der National Library verbessert werden, um das Haus künftig als One-Stop-Informationszentrum für Singapur und Südostasien zu etablieren.

Typisches Bibliotheksgeschoss mit Info-Theke
Im Rahmen der neuen Prioritätensetzung erhielt die Nationalbibliothek als Aufgabe, sowohl die nationale Kollektion zu pflegen wie die Recherche- und Nachweisdienste umfassend auszubauen. Dies führte zur Entscheidung, die Bibliothek weniger als passive Sammelstelle für das nationale Schrifttum, sondern vielmehr als Reference Library zu gestalten. Nach übereinstimmender Meinung aller Projektbeteiligten ließ sich diese Entwicklung nicht in dem Ende der 50er Jahre erstellten Bibliotheksgebäude umsetzen, das man als technisch und räumlich unzureichend erachtete. Zudem galt es die Vorgabe zu berücksichtigen, im selben Haus auch bibliothekarische Dienstleistungen für eine breite Öffentlichkeit anzubieten. Im NLB stieß daher der Vorschlag für ein Neubauprojekt schnell auf Zustimmung, zumal sich dessen Finanzierung als problemlos erwies (der Bildungsektor Singapurs ist großzügig mit finanziellen Mitteln ausgestattet und nach dem Verteidigungshaushalt der zweitgrößte Posten im Haushaltsplan!). Auch eine der großen Stiftungen des Landes (Lee Foundation) trug mit 60 Millionen Dollar zu den Baukosten bei (zu Ehren des Stifters wurde der Neubau "Lee Kong Chian Reference Library" getauft).

Den Architekten Hamzah & Yeang war die Aufgabe gestellt, ein ausreichend dimensioniertes und für zukünftige Aufgaben anpassungsfähiges sowie für neue Nutzungskonzepte geeignetes Gebäude zu entwerfen, das mit einer Nutzfläche von rund 58.000 m² mehr als fünf Mal so groß wie der Altbau ist. Das Architektenteam entschied sich für einen 16 Stockwerke aufweisenden Baukörper, der aus zwei Blöcken geformt ist, die durch mehrere Brücken miteinander verbunden sind. Der größere Turm, "Library Block" genannt, erhebt sich über einem offenen Platz (Plaza) und nimmt die Medienkollektion auf. Der zweite Turm, "Public Block" genannt, ist Besucheraktivitäten und kommerziellen Veranstaltungen vorbehalten. Zwischen beiden Türmen liegt ein Theatersaal mit 615 Plätzen (3. bis 6. Stock) und ein 120 Plätze fassender Kinosaal. Das Dachgeschoss ist gleichfalls für Veranstaltungen aller Art nutzbar. Im Kellergeschoss sowie auf den Stockwerken 5 und 10 sind jeweils Gärten angelegt, in denen sich Besucher vom Lärm und Stress der Großstadt erholen können.

Die "Lee Kong Chian Reference Library" ist auf sieben Stockwerken (7. bis 13. Etage) des Hochhauses untergebracht. Auf einer Nutzfläche von 14.260 m² kann sie nun ihre Bücherschätze im Umfang von rund 530.000 Bänden präsentieren. Schwerpunkte der Sammlung sind neben Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Naturwissenschaft und Technik die Spezialkollektionen zu Singapur und ganz Südostasien. Die Rara-Abteilung auf der 13. Etage verwahrt gedruckte und handschriftliche Zeugnisse aus der Frühzeit Singapurs sowie die seit der Unabhängigkeit über die Pflichtablieferung eingegangenen Schriften. Für die Wünsche einer breiten Öffentlichkeit wurde im 1. Untergeschoss die Zentrale Leihbibliothek eingerichtet (Bestand ca. 135.000 Bände), in der populäre zeitgenössische Werke in allen vier Sprachen des Landes zu finden sind, insbesondere fiktionale Texte. Zwei großzügig bemessene Parkdecks befinden sich im 2. und 3. Untergeschoss. Auf allen Benutzerebenen sind Rechner installiert, die zur Abfrage der Kataloge und Datenbanken einladen. Der Zugang zu digitalen Ressourcen ist allen Bürgern selbstverständlich auch vom heimischen PC oder Büro aus möglich. Das wird weidlich genutzt, wie die Statistik belegt: 2004 zählte das Portal rund 1,4 Millionen registrierte Benutzer.

Zur Gebäudetechnik

Das Hochhaus wurde als Stahlbetonskelett mit einer Aluminium-Glas-Verkleidung gestaltet. Die gesamte Fensterfront erhielt eine Doppelverglasung. Alle Fensterflächen sind mit aktiven und passiven Beschattungssystemen ausgestattet, die ein direktes Eindringen des Tageslichtes verhindern und somit den Energiebedarf des Belüftungssystems reduzieren. Auf der Westseite des Gebäudes hat man zudem Jalousien installiert, die sich abends automatisch aktivieren, wenn die Sonne einen gewissen Tiefstand erreicht hat. Im Inneren des Gebäudes regelt ein integriertes Beleuchtungssystem den Ausgleich von künstlicher und natürlicher Beleuchtung und trägt damit auch zur Kontrolle der Energiekosten bei. Auf den Fluren und vor den Fahrstühlen wurden Bewegungsmelder installiert, um eine bessere Auslastung der Aufzüge zu erreichen. Ein Raum-Belegungssystem ermöglicht die automatische Abschaltung von Innenbeleuchtung und die Reduzierung der Raumkühlung, wenn Arbeitszimmer nicht genutzt werden. Flure und Toiletten sowie alle öffentlichen Schaltsysteme wurden behindertengerecht gestaltet und mit Braille-Beschriftung versehen. Der gesamte Bau ist mit Rauchmeldern ausgestattet, die im Alarmfall die Sprinkleranlage aktivieren. Die sensitiven Rechnerräume erhielten zudem Laserdetektoren eingebaut, die sicherstellen, dass die Wassersprüher nur bei Auslösen beider Systeme aktiv werden. In den Treppenhäusern sollen Luftdruckventilatoren dafür sorgen, dass Rauch im Brandfall nicht eindringen kann. Für die beiden unterirdischen Parkdecks wählte man ein Kontrollsystem für die Kohlenmonoxid-Belastung, dessen Belüftungstechnik besonders in den morgendlichen und abendlichen Spitzenzeiten zum Einsatz kommt. Selbst das Regenwasser wird in einer Zisterne gesammelt und zur Bewässerung der Innengärten und Außenanlagen eingesetzt.

Aufgrund seiner innovativen Gebäudetechnik erhielt die Nationalbibliothek im Mai 2005 die Umweltmedaille in Platin verliehen, die höchste Auszeichnung für umweltbewusstes Bauen, die die Baubehörde Singapurs bisher nur einmal vergeben hatte (Internet: www.nlb.gov.sg).


Zum Autor

Dr. Gernot U. Gabel

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