Ratzek, Wolfgang: Schwarze Löcher: Im Sog der Informations- und Wissensindustrie


- Frankfurt am Main: Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und
Informationspraxis, 2005. 244 S. (DGI-Schrift. Informationswissenschaft; 5)
ISBN 3-925474-51-X; ISSN 0940-6662

Wolfgang Ratzek will einigen Phänomenen der Informations- und Wissensgesellschaft nachgehen und den Kern freilegen, "der sowohl den IT-Sektor ausmacht, aber auch die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Aspekte in die Betrachtung einbezieht. Dabei geht des dem Autor nicht um eine präzise Systematik, sondern vielmehr darum, die jeweiligen Leitkonzepte herauszuarbeiten, die dann in der Gesamtschau - einer Synopse also - einen sinnvollen Kontext erkennen lassen." (S. 12) Er will aufzeigen, dass nicht die Informations- und Kommunikationstechnologien an sich einen Mehrwert schaffen, "sondern kreative, leistungsorientierte und motivierte Menschen, die mit der Informations- und Kommunikationstechnik etwas anzufangen wissen, um zum Beispiel neue Produkte auf den Markt zu bringen oder durch Dienstleistungen die viel zitierte Nähe zum Kunden zu praktizieren." (S. 12) Hier liegt der Ansatz für die harte, aber in allem nachvollziehbare und richtige Kritik des Autors an den momentanen Auffassungen der Informations- und Wissensgesellschaft.

Wolfgang Ratzek ist durch seine langjährige Erfahrung in der Informationswissenschaft für eine solche Synopse prädestiniert, z.B. durch die Ergebnisse seiner Projekte in Großunternehmen und durch seine Vorlesungen an verschiedenen Hochschulen (S. 12), durch seine Seminare an der Fachhochschule der Telekom und an der Schiller International University/Berlin Campus (S. 63) sowie durch seine zahlreichen Veröffentlichungen (S. 240-241).

Der Autor wählt für seine Synopse eine thematische Dreiteilung.

Teil A "Grundlagen" legt das theoretische Fundament. Im Mittelpunkt stehen Einführungen in die Kommunikation (A2), die Semiotik (A3), die IT-Philosophie (A5), die Innovation (A6) und das Informations- und Wissensmanagement (A7).

Teil B "Techniksynopse" soll das eng miteinander verwobene Geflecht einer Informations- und Wissensgesellschaft "aufknoten", so dass am Ende dieses Teils "die wesentlichen Elemente wie Teile eines Puzzle auf dem Tisch liegen" (S. 13). Dazu gehören u.a. Medienkonvergenz (B1), Basismedien (B2), Vernetzungsphilosophie und Vernetzungstopologie, Speichersysteme (B4), Indexierung und Information Retrieval (B6), Netzsicherheit (B9) und Computerkriminalität (B10).

Teil C "Visionen" ist eine "mehr spekulative, visionäre und kritische Auseinandersetzung" (S. 13) und beinhaltet u.a. die Themenfelder Realität, Komplexität, Abbild, Modell, Objektivität (C1), Technik und Skeptizismus (C2), virtuelle Netzwerke und Unternehmen (C4), Medienkompetenz und -ethik (C8), Informationsutopien (C9) und das Märchen von der Informationsgesellschaft (C11).

Bei der Fülle der Gedanken des Autors kann der Rezensent das Buch nur im eigentlichen Sinne des lateinischen Wortes re-censeo "in Gedanken durchgehen".

Dem Leser präsentiert sich ein mit Informationen prall gefülltes, manchmal auch überladenes Buch. Eine Bettlektüre ist es nicht, sondern erfordert konzentriertes Lesen. Der Autor setzt voraus, dass der Leser mitten im "Informationsleben" steht und einen großen Teil der Terminologie und der Denk- und Arbeitsvorgänge in den vom Autor behandelten Disziplinen und Arbeitsvorgängen beherrscht.

Der Autor stößt an - im doppelten Sinne des Wortes. Er will Anstoß geben, dass sich der Leser intensiver und ausführlicher mit dem Status quo und den Entwicklungstendenzen der Informations- und Wissensindustrie beschäftigt. Er wird bei so manchen Kolleginnen und Kollegen anstoßen, wenn er u.a. ausführt,

  1. dass das enorme Produktionstempo der Informations- und Wissensindustrie dazu führt, "dass nicht mehr jeder potentielle Abnehmer finanziell mithalten kann." (S. 232)
  2. dass das Projekt Informations- und Wissensindustrie gescheitert scheint. "Aus meiner Sicht aus einem grundlegenden Fehler: Wir haben die Menschen als Projekte betrachtet, die sich an Spielregeln halten müssen, die sie nicht mitbestimmt haben. Überall greift die Maschine-Mensch-Kommunikation um sich, bei gleichzeitiger Reduzierung des Services." (S. 233-234.) Für viele Menschen unbemerkt hat die Informations- und Wissensindustrie "die Spielregeln für eine Informations- und Wissensgesellschaft vom Realen zum Virtuellen, oder besser: zu einer Welt der Simulationen verändert." (S. 234)
  3. dass es begrüßenswert wäre, "wenn die BID-Professionen ihren Informatik-Mimikry aufgäben und demonstrierten, dass nicht die Technik das Entscheidende ist, sondern kreative Menschen, die den sinnvollen und nutzbringenden Umgang mit ihr beherrschen; so würde der Informationswelt wieder ein Gesicht verliehen werden, das unserem Image sicher nicht abträglich wäre." (S. 235-236)
  4. dass eine hypermoderne IT-Infrastruktur keinen Nutzen besitzt, "wenn es nicht mindestens zwei Menschen gibt, die sich etwas zu sagen haben. Es sei denn wir gehören zu den Anhängern einer leblosen Maschine-Maschine-Kommunikation ... Wir müssen darauf achten, dass die ′intelligenten′ und fehlerresistenten IT-Systeme nicht zu dem Schluss kommen: Unsere Schöpfer stören unsere Kreise." (S. 237).

Fazit des Autors: "Für unseren Lebensentwurf bleibt die grundsätzliche Frage zu klären: Gestalte ich mit oder werde ich gestaltet?" (S. 237)

Starker Tobak? Wohl nicht. "Back to the roots", wie es heute neudeutsch heißt: Ja, denn es ist noch nicht zu spät!

Der Autor hätte noch andere Themen hinzufügen können, die seine Thesen stützen, z.B. das Imitationsmanagement, mit dem immer mehr Betriebe Innovation durch Imitation(1) ersetzen sowie die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der Internet-Kommunikation am Beispiel des Online-Journalismus(2).

Schade, dass eine Durchsicht "von letzter Hand" fehlt und sich dadurch zahlreiche Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen haben (richtigerweise müsste es heißen z.B. auf S. 12 anstelle von Phänomen Phänomenen, S. 32 anstelle von 9. November 1991 /Maueröffnung!/ 9. November 1989, S. 52 anstelle von Wersig 200 Wersig 2000, S. 144 anstelle von Zusammen Zusammenhang, S. 237 anstelle von Bohn Bohm).

Das Buch ist nicht nur Informationsfachleuten, Bibliothekaren, Studenten der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, Kommunikationswissenschaftlern und Wissenschaftstheoretikern dringend zur Lektüre zu empfehlen, sondern müsste auch den Politikern übergeben werden, die mit neuen Begriffen wie dem der Informations- und Wissensindustrie oft in unverantwortlicher Weise umgehen. Vielleicht könnte die Synopse der seit November 2005 im Amt befindlichen Bundesregierung bei einer objektiveren Beurteilung der in der Informations- und Wissensgesellschaft zu lösenden Probleme helfen. An der Untersuchung des Phänomens "schwarze Löcher" im übertragenden Sinn in der Politik müsste die Bundeskanzlerin als Naturwissenschaftlerin ein gewisses Interesse haben. Ist die Widmung des Autors "Für Angela" gar ein Hilferuf?


Anschrift des Rezensenten

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier
Ostendorfstraße 50
D-12557 Berlin
E-Mail: dieter.schmidmaier@schmidma.de


Anmerkungen

  1. Schewe, Gerhard: Imitationsmanagement: Nachahmung als Option des Technologiemanagements. Stuttgart, 1992. XV, 403 S.
  2. Hierzu z.B. die Themen der Veranstaltung 10. MainzerMedienDisput vom 9. und 10.11.2005, herausgegeben von netzwerk recherche e.V. u.d.T. Online-Journalismus: Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der Internet-Kommunikation Wiesbaden, 2005. 160 S.