Wissenschaftliche Bibliotheken - ein Auslaufmodell?

Streitgespräch zwischen einem Bibliothekar und einem Wissenschaftler


Abstract

von Christian Schlögl und Juan Gorraiz

An einem typischen Sommertag des Jahres 2005, stark bewölkt, ein leises Grollen aus der Ferne kündigte ein aufziehendes Gewitter an, wollte ein Wissenschaftler (Prof. Genios) in die Bibliothek gehen. Als er aber, an der Eingangstür der Bibliothek angekommen, zur Kenntnis nehmen musste, dass er sein Unterfangen um diese Zeit nicht mehr realisieren konnte, beschloss er nach gründlicher wissenschaftlicher Analyse, seinen Ärger in einem nahe gelegenen Kaffeehaus verpuffen zu lassen. Dort traf er zufällig einen Kollegen von der Bibliothek (Hofrat Schmöker). Eine lebhafte Diskussion nahm ihren Ausgangspunkt. ...

Genios:

Kein Wunder, dass die Bibliothek geschlossen ist, wenn sich das Bibliothekspersonal stattdessen im Kaffeehaus herumtreibt! Wie lässt sich das mit dem Umstand vereinbaren, dass die Hauptbibliothek die Öffnungszeiten neuerdings um zehn Stunden pro Woche gekürzt hat? Ich kenne Bibliotheken mit einem Bruchteil des Medien- und Personalbestandes, die doppelt so lange offen haben! Dass die Bibliothek mit einer derartigen Kürzung der Öffnungszeiten indirekt eingesteht, mehr oder weniger entbehrlich zu sein, das verstärkt meine negative Grundhaltung ihr gegenüber nur noch.

Schmöker:

Diese Maßnahme war notwendig. Sie ist eine Folge der Einsparungspolitik unserer Dienstgeber und der "Kommerzialisierung" der Universitäten, die sich in der Kürzung der Bibliotheksbudgets, dem Abbau von Personal und letztlich auch in der Reduzierung der Öffnungszeiten niederschlägt.

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Trotz dieser widrigen Rahmenbedingungen bemühen sich die Bibliotheken, ihre Services ständig auszubauen. Zum Beispiel wird das Angebot im Internet - denken Sie zum Beispiel an OPACs, Datenbanken, elektronische Zeitschriften, digitale Bibliothek (eingescannte Bücher) -, das 24 Stunden zur Verfügung steht, ständig erweitert. So können Bücher und Zeitschriftenartikel rund um die Uhr bestellt werden und sind dann nach spätestens 24 Stunden zum Abholen bereit. Dass Bibliotheken mit einem Bruchteil unseres Budgets und Personalbestands länger offen haben, kann ich mir nicht vorstellen. Derartige Aussagen müssen kritisch hinterfragt werden. So zeigen etwa die Benutzungsstatistiken unserer Bibliothek, dass die geringe Anzahl der Besucher in den Abendstunden den dafür notwendigen Verwaltungsaufwand in keiner Weise rechtfertigt.

Genios:

Wenn ich ehrlich bin - tatsächlich ist es so, dass ich die Bibliothek bei meiner wissenschaftlichen Arbeit kaum noch brauche. Einen großen Teil der wissenschaftlichen Zeitschriften, die ich zum Schreiben meiner Artikel benötige, beziehe ich über Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Vereinen. Wenn ich einmal einen Artikel brauche, den meine privaten Zeitschriften-Abos nicht abdecken, bitte ich die entsprechenden Autoren, mir den Preprint zu schicken. Das führt in den meisten Fällen zum Ziel. Mitunter finde ich die gesuchte Publikation auch in einer elektronischen Zeitschrift oder in einer Volltextdatenbank. Wobei ich auch hier immer wieder böse Überraschungen erlebe. So werden E-Journals einfach abbestellt, ohne dass ich von der Bibliothek je davon in Kenntnis gesetzt worden wäre. Wirklich gut läuft aus meiner Sicht hingegen die Literaturbeschaffung über subito.

Schmöker:

Es gibt manche Kollegen von Ihnen, die glauben, dass Artikel in elektronischen Zeitschriften kostenlos und mit Hilfe von Suchmaschinen wie Google leicht zu finden wären. Dies entspricht nicht der Realität. Die Bibliothek organisiert nicht nur den einfachen Zugang, sondern verhandelt auch günstige Bezugskonditionen und Lizenzgebühren. Neben der Bereitstellung von E-Journals werden auch fachspezifische Datenbanken für die Unterstützung der Literatursuche der Wissenschaftler angeschafft. Mit Google lässt sich wohl kaum eine Literatursuche in einer ähnlichen Qualität durchführen wie mit Datenbanken wie Chemical Abstracts, Web of Science oder Inspec. Neben der Bereitstellung dieser Datenbanken bieten Bibliotheken auch die Durchführung von kostenlosen Recherchen durch kompetentes Personal als weitere Dienstleistung an.

Und nun zu den Journals:

Zu den wissenschaftlichen Kernzeitschriften gehören mindestens 20.000 Titel, die aufgrund der hohen Kosten sicher nicht durch private Abonnements abzudecken sind. Preprint-Server gibt es nur in sehr wenigen Disziplinen. Und auch diese sind immer stärker durch die Interessen der Verleger bedroht.

Die Bestellung von Artikeln mittels Dokumentlieferdiensten, zum Beispiel via subito, kann auch direkt von Universitätsangehörigen vorgenommen werden. Auf Wunsch ist die Bibliothek aber gerne bei der Bestellung von Artikeln behilflich. Während Sie also im Kaffeehaus Ihre Zeitung durchblättern und einen Kaffee trinken, liefert die Bibliothek rasch und unkompliziert den von Ihnen gewünschten Artikel direkt an Ihren Arbeitsplatz. Und dies in etwa zu einem Preis Ihres "Verlängerten". Und was Sie vielleicht nicht wissen: subito ist ein Verbund von Bibliotheken, die diesen tollen und günstigen Service anbieten. Ohne Bibliotheken gäbe es diese Dienstleistung nicht.

Genios:

Was die zentrale universitätsweite Bereitstellung von wissenschaftlichen Kernzeitschriften betrifft, stimme ich Ihnen zu. Diese lässt sich durch private Abonnements natürlich nicht sicherstellen. Wenn aber andererseits die Zeitschriftenverleger für das Downloaden einzelner Zeitschriftenartikel (pay-per-download) keine derart überhöhten Preise verrechneten - 30 € pro Artikel sind keine Seltenheit -, könnten die Bibliotheken durch die Reduktion von Zeitschriftenabonnements viel Geld sparen. Es würde mich nämlich nicht wundern, wenn einige abonnierte Zeitschriften nur sehr selten genutzt werden.

Schmöker:

Dass die Zeitschriftenverleger überhöhte Preise verrechnen, das entspricht der Preisentwicklung der letzten Jahre. Die Preisgestaltung orientierte sich in der Regel nicht an den (den Verlagen) angefallenen Kosten. Dies äußert sich unter anderem daran, dass große Verlage ihre Profite in den letzten Jahren verdoppelt haben.

Außerdem bieten Verleger günstige Angebote meist nur für die gesamte Produktpalette. Die Abbestellung einzelner Zeitschriftentitel bringt meist kaum eine Einsparung.

Genios:

Die Bereitstellung von elektronischen Bibliotheksdiensten könnte - übrigens ebenso wie jene von E-Journals - doch problemlos auch vom Zentralen Informatikdienst der Universität übernommen werden.

Schmöker:

Auch jetzt schon gibt es eine gute und enge Zusammenarbeit mit dem Zentralen Informatikdienst. Dieser übernimmt primär die EDV-mäßige Bereitstellung der Dienste (Einrichtung des technischen Zugangs, Betreuung der Server, etc. ). Fachspezifische Bedürfnisse und die optimale Verwaltung dieser Dienste können hingegen nur von Bibliothekaren gewährleistet werden. E-Journals müssen beispielsweise auf ihre wissenschaftliche Bedeutung (zum Beispiel anhand des Impact-Faktors), die Bedeutung für die Sammlung, den Preis und alternative Bezugsquellen (zum Beispiel über Dokumentlieferdienste) hin analysiert werden. Wer kann diese Aufgaben sonst wahrnehmen wenn nicht die Bibliothek? Auswahl, Bewertung und Finanzierung von Datenbanken und elektronischen Zeitschriften sind mittlerweile zu den wichtigsten Aufgaben von wissenschaftlichen Bibliotheken geworden, die nur von diesen zufrieden stellend erledigt werden können.

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Und außerdem: Die Problematik der E-Journals wird von einem großen Teil der Universitätsangehörigen nicht erkannt: E-Journals sind derzeit sehr leicht und bequem direkt vom Arbeitsplatz aus zu benutzen. Aber was passiert, wenn die Lizenz nicht mehr finanziert und der Zugriff auf "bezahlte" Jahrgänge nicht mehr sichergestellt werden kann, zum Beispiel bei einem Verlagskonkurs? Wie kann dann noch die Kontinuität der Sammlung gewährleistet werden?

Genios:

Das Problem, dass ein Zeitschriftenabonnement nicht mehr finanziert werden kann, trifft auch auf gedruckte Zeitschriften zu. Und wenn eine Bibliothek so schlecht verhandelt, dass auf "alte" Zeitschriftenhefte, für die (noch) Lizenzgebühren bezahlt wurden, später nicht mehr zugegriffen bzw. davon keine Sicherungskopie - sei dies in digitaler oder in gedruckter Form - angefertigt werden darf, dann wundert mich gar nichts mehr!

Schmöker:

Schlecht verhandeln! Welchen Druck können Bibliotheken alleine schon ausüben?

Genios:

Einzelne Bibliotheken haben klarerweise nur eine geringe Verhandlungsmacht. Wenn sich aber viele Bibliotheken absprächen, dann wäre sicher einiges möglich. Ich denke da an einige Bibliotheken in den USA, die Zeitschriften eines bedeutenden Verlages nicht mehr abonnieren.

Schmöker:

Seit Jahren bilden Bibliotheken Konsortien, um diese Strategie zu verfolgen und umfassende Vereinbarungen für ein ganzes Land zu treffen. Eine internationale Kooperation wäre wünschenswert, sie scheitert aber meistens an unterschiedlichen nationalen Gesetzgebungen.

Wie wäre aber die Reaktion der Professoren zum Beispiel bei folgendem Szenario: Alle österreichischen Bibliotheken lehnen die übertriebenen Konditionen eines großen Verlages ab und bestellen alle Produkte (auch elektronische) ab?

Genios:

Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass viele Wissenschaftler für eine derartige Maßnahme zu gewinnen wären, wenn sie von der Bibliothek zahlenmäßig entsprechend aufbereitet wird.

Ein entscheidungsorientiertes Rechnungswesen gibt es nur in den wenigsten Bibliotheken. In der Zeit, in der ich Mitglied in der Bibliothekskommission war, war die Vorgehensweise seitens der Bibliothek in etwa so: "Aufgrund der stark gestiegenen Abonnement- und Lizenzgebühren müssen universitätsweit zehn Prozent der Zeitschriftenabos eingestellt werden. Bitte geben Sie uns die an Ihrer Fakultät zu streichenden Titel bis spätestens ... bekannt."

Auf meine Frage, wie sich nun die Kosten für Zeitschriftenabonnements auf die einzelnen Fakultäten verteilen, erhielt ich nie eine Antwort. Meine Grundüberlegung war, dass man mit der Abbestellung einer sehr teuren naturwissenschaftlichen Zeitschrift, die kaum verwendet wird, möglicherweise die Abbestellung vieler geisteswissenschaftlichen Zeitschriften hätte vermeiden können. Ich vermute, dass es derartige Aufzeichnungen gar nicht gab. Betriebswirtschaftliches Denken und das Treffen von transparenten Entscheidungen dürften in wissenschaftlichen Bibliotheken nach wie vor eher die Ausnahme sein.

Schmöker:

In die allgemeinen Budgetdaten der Bibliotheken können Sie jederzeit Einsicht nehmen. Diese werden sogar regelmäßig in den Jahresberichten der Bibliotheken veröffentlicht.

Die Kostenverteilung nach einzelnen Fakultäten oder Instituten kann keine Lösung oder Klärung des Problems bewirken, sondern nur unnötigen Neid erwecken, da die Literaturbedürfnisse und auch -kosten sehr stark vom jeweiligen Fachbereich abhängen, was nicht immer von allen Universitätsangehörigen verstanden wird. Aufreibende Konflikte, die zu keiner (gerechten) Lösung führten und letztlich nichts brächten, wären die Folge.

Genios:

Ich bin mir nicht ganz so sicher, ob die Möglichkeit bestand, in die Finanzaufzeichnung einer Universitätsbibliothek Einsicht zu nehmen, als diese vor einigen Jahren noch direkt dem Wissenschaftsministerium unterstellt war. Mir ging es bei meiner Kritik auch weniger um das Offenlegen von kameralistischen Budgetposten, sondern vielmehr um deren entscheidungsrelevante Aufbereitung.

Schmöker:

Sie haben aber immer noch nicht meine vorige Frage zufrieden stellend beantwortet: Wie würden Professoren reagieren, wenn sie keinen Zugriff auf die benötigte Literatur hätten, nur weil die Bibliotheken eine konsequente Haltung vertreten?

Genios:

Wie schon gesagt, ich glaube, dass viele Kollegen dafür Verständnis hätten. Sie dürfen ja nicht vergessen, dass schon jetzt unsere Wünsche bei weitem nicht erfüllt werden können. Abgesehen davon würde ich mir wünschen, dass bestimmte Maßnahmen nicht von der Bibliothek "verordnet", sondern gemeinsame Lösungen mit uns erarbeitet werden. Dies würde auch deren Akzeptanz deutlich erhöhen.

Schmöker:

Eine Ursache für die derzeitigen Probleme liegt auch darin, dass Gesetze und politische Entscheidungen ständig zu Gunsten der Verleger ausfallen und dadurch nicht der Wissenschaft und der Gesellschaft und letztlich uns allen zu Gute kommen, sondern den Profiten einzelner Unternehmen. Ich denke hier zum Beispiel an die Novellierung des österreichischen Urheberrechts, die unserer Bibliothek aufgrund einer unnötig strengen Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie die elektronische Dokumentlieferung an kommerzielle Kunden verbietet. Dadurch wird unserer Bibliothek eine mögliche Einnahmenquelle entzogen. Da andere EU-Mitgliedsländer keine so strengen Gesetze verabschiedet haben, ergibt sich darüber hinaus ein Nachteil für forschungsintensive österreichische Unternehmen, die Fachliteratur von Dokumentlieferdiensten nur mehr in gedruckter Form beziehen dürfen.

In diesem Zusammenhang frage ich mich auch, warum Professoren ihre Autorenrechte an die Verlage abtreten? Wurden diese Aufsätze nicht mit Mitteln der Universität finanziert bzw. überhaupt erst ermöglicht? Warum müssen dann Universitäten und Bibliotheken später den Verlegern für die "Kopien" in einigen Fällen Riesenbeträge zahlen? Ist dies nicht ein Mangel an Verantwortung von Seiten der Professoren gegenüber ihrer eigenen Institution?

Genios:

In diesem Punkt muss ich Ihnen leider großteils recht geben. Bis zu ihrer wissenschaftlichen Etablierung sind Kollegen gezwungen, in renommierten Zeitschriften zu publizieren. Sie müssen sich also mit Leib und Seele an den jeweiligen Verlag verkaufen, oder, mit anderen Worten ausgedrückt, alle Verwertungs- und Nutzungsrechte an die Verlage abtreten.

Gerade aber von der Wissenschaft wurden in den letzten Jahren Alternativen entwickelt, die sich in einem immer stärkeren Maße verbreiten. Denken Sie nur an die "Open Archive Initiative" oder an "Creative Commons". Hier ist zur Zeit sehr viel in Bewegung.

Es stimmt, dass Wissenschaftler einen Großteil der Arbeit (Verfassen der Publikationen, Durchführung des Begutachtungsprozesses) im wissenschaftlichen Publikationswesen übernehmen. Es darf daher sicher nicht so sein, dass Verlage für einen relativen kleinen Teil des Wertschöpfungsprozesses (Verteilen bzw. Zugänglichmachen der wissenschaftlichen Erkenntnisse) einen unverhältnismäßig hohen finanziellen Anteil abschöpfen. Vor allem bei E-Journals böte sich aber für Bibliotheken die Möglichkeit, diese Verteilungsfunktion zu übernehmen. Noch leichter zu bewerkstelligen wäre die universitätsweite Bereitstellung der Preprints und der übrigen Universitätsschriften. An unserer Universitätsbibliothek sehe ich diesbezüglich aber noch keine großen Anstrengungen.

Schmöker:

Bibliotheken zeigen prinzipiell großes Interesse an all diesen Projekten. Natürlich ist es bei knappem Personalstand sehr schwierig, neue Aufgaben zu übernehmen. Derzeit beschäftigen wir uns an unserer Bibliothek mit der Digitalisierung und Online-Bereitstellung der Dissertationen und mit, von der Universitätsleitung initiierten, E-Learning-Projekten.

Trotzdem glaube ich, dass es teilweise an der nötigen Kooperationsbereitschaft fehlt. Zum Beispiel haben wir den Instituten angeboten, die Verwaltung der Online-Skripten für Vorlesungen zu übernehmen. Leider haben wir kaum Rückmeldungen erhalten.

Die Errichtung eines "Hochschulschriftenservers" scheint mir zur Zeit verfrüht, da im Urheberrecht noch vieles im Fluss ist. Falls die Verlage den von ihnen gegen subito angestrengten Prozess gewinnen sollten, wird bald auch eine Klage gegen Preprint-Services folgen.

Genios:

Mir kommt es generell so vor, dass Bibliothekare noch immer zu sehr am Katalog fixiert sind. Oft wird ein unverhältnismäßig hoher Aufwand in die formale und inhaltliche Erschließung investiert. Solange ein Großteil der Bibliotheksbenutzer den Unterschied zwischen Schlagwort und (Titel)Stichwort nicht kennt, lohnt sich dieser Aufwand wohl kaum. Und eine Schlagwortnormdatei mit mehreren hunderttausend Einträgen bringt den Benutzer wohl auch nicht wirklich weiter. Andererseits werden viele Möglichkeiten (Bücher kommentieren, Inhaltsverzeichnisse einsehen, ...) noch immer sehr spärlich angeboten. Auch hier waren es nicht Bibliotheken sondern private Anbieter, welche die Initiative ergriffen haben. Besuchen Sie zum Beispiel die entsprechenden Web-Seiten von Amazon.

Schmöker:

Es stimmt sicher nicht, dass Bibliotheken innovationsfeindlich sind. Zum Beispiel werden an einigen Bibliotheken auch schon die Inhaltsverzeichnisse der Bücher eingescannt und sind dann im Katalog recherchierbar. Dadurch wird die inhaltliche Suche erweitert. Weiters laufen auch schon Versuche mit der automatischen Beschlagwortung.

Bibliotheken bieten aber auch fachspezifische Portale, Linksammlungen und Meta-Kataloge hoher Qualität im Internet an. Diese Leistungen müssen umso mehr hervorgehoben werden, als sie teilweise außerhalb der Dienstzeit erbracht werden und die dafür erforderlichen Kenntnisse meist autodidaktisch erworben wurden.

Dass Kataloge nicht richtig benutzt werden, hängt nicht unmittelbar damit zusammen, dass sie nicht richtig "gemacht" wurden. Die Qualität des Angebotes sollte im Vordergrund stehen. Für eine komplette und ausführliche Recherche ist eine gute Beschlagwortung noch immer notwendig.

Genios:

Genau eine solche Antwort hätte ich von einem "klassischen" Bibliothekar erwartet. Sie bringt das Berufsverständnis, das nach wie vor von vielen Ihrer Kollegen geteilt wird, deutlich zum Ausdruck: Auch wenn viele Benutzer nicht in der Lage sind, den OPAC optimal zu nutzen - Hauptsache ist doch, dass die formale und inhaltliche Erschließung auf Punkt und Komma den diversen Regelwerken entspricht! Oder um es noch drastischer zu formulieren: Hoffentlich benutzt niemand unsere Bücher, damit diese ja nur nicht beschädigt werden können!

Ich habe eine andere Vision von einer Bibliothek. Im Zentrum müssen die Benutzer und ihre Bedürfnisse stehen. Alleine schon die Tatsache, dass Bibliotheken in Zukunft immer weniger eigenen Bestand "besitzen" und in einem zunehmenden Maße zu Vermittlern von externen Informationen werden macht es notwendig, das Dogma der "Bestandsorientierung" aufzugeben und dafür den Benutzer in den Mittelpunkt zu stellen. Das hat aber zur Folge, dass man den Benutzer mit seinen Rechercheproblemen nicht alleine im Regen stehen lassen darf. Alleine schon aufgrund der in den letzten Jahren stark zugenommenen Komplexität im Informationswesen sollte eine Bibliothek bei Bedarf auch die entsprechenden Informationskompetenzen vermitteln. Damit meine ich nicht nur Aufklärung darüber, welche Informationsquellen es für einen bestimmten Nutzungskontext gibt, sondern auch die Vermittlung der zu ihrer Nutzung erforderlichen Recherchefertigkeiten sowie der Kompetenz, die Qualität dieser Quellen beurteilen zu können. Bibliotheken sollten meiner Meinung nach sogar noch einen Schritt weiter gehen. Gerade in unserer Zeit, in der aufgrund der Kurzlebigkeit des Wissens reines Faktenwissen immer mehr an Bedeutung verliert, bietet sich für Bibliotheken die Riesenchance, sich als primäre Orte lebenslangen Lernens zu positionieren: von einem Bücherspeicher zu einer "teaching and learning library".

Schmöker:

Ich stimme Ihnen zu, dass weder Titelaufnahme noch Beschlagwortung höchste Priorität haben sollten. In manchen Bibliotheken wird in die formale und inhaltliche Erschließung leider ein unverhältnismäßig hoher Aufwand gesteckt. Ich persönlich bin auch der Meinung, dass eine Bibliothek ein Informationszentrum ist, in dem die Benutzer und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen sollten. Folgende Aufgaben sollten daher aus meiner Sicht den Schwerpunkt einer modernen Bibliothek ausmachen: einen Überblick über alle Informationsquellen und die Beurteilung deren Qualität zu ermöglichen; die eigenen Informationsbestände und den Zugang zu den externen Informationsquellen so zu organisieren, dass diese möglichst einfach benutzt werden können; den Zugriff zu Informationsquellen (Kataloge, Datenbanken, usw.) sicherzustellen; die zur Informationssuche erforderlichen Kenntnisse zu vermitteln (inkl. Einschulungen) sowie den Benutzer bei komplexen Suchanfragen zu unterstützen; alle Informationsträger zu archivieren, vor allem jene, die nicht in gedruckter Form erscheinen, damit deren Benutzung und eindeutiger Nachweis in Zukunft sichergestellt werden kann.

Genios:

Es freut mich, dass wir bezüglich des Stellenwerts des Benutzers einer Meinung sind. Auch einzelne von Bibliothekaren gesetzte Initiativen beurteile ich positiv. Würde es aber nicht mehr Sinn machen, wenn Bibliotheken bei der Erstellung von fachspezifischen Portalen / Linklisten stärker zusammenarbeiteten? So könnten sie ihre Ressourcen und Kompetenzen bündeln und Doppelgleisigkeiten vermeiden.

Ähnlich verhält es sich beim Aufbau von digitalen Bibliotheken. Es gibt zwar viele Einzelprojekte, eine koordinierte Anstrengung aller Bibliotheken kann ich aber nicht erkennen. Es wundert mich daher nicht, wenn es wiederum ein privates, börsennotiertes Unternehmen (Google) war, welches das wohl ehrgeizigste Digitalisierungsprojekt startete. Wieder einmal haben Bibliotheken die Entwicklung verschlafen!

Schmöker:

Was heißt verschlafen? Bibliotheken waren schon immer maßgeblich beim Einsatz von neuen Medien beteiligt und haben an vielen innovativen Projekten mitgewirkt.

Ein weiteres Betätigungsfeld für Bibliotheken besteht in der Durchführung von bibliometrischen Analysen sowie der Datensammlung und -aufbereitung im Rahmen der Forschungsevaluierung. Diese Aufgaben können nur von kompetentem Personal durchgeführt werden. Der größte Teil der Professoren ist meist nicht gut über die richtige Anwendung bibliometrischer Indikatoren, zum Beispiel den Impact Factor, informiert. Die falsche Benutzung von komplexen Datenbanken, denken Sie zum Beispiel an den Web of Science, kann aber zu falschen Ergebnisse führen.

Genios:

In diesem Punkt bin ich voll auf Ihrer Seite. Wissenschaftler haben oft nicht die Kompetenz, derartige Analysen durchzuführen. In der Regel sind sie sogar froh, wenn ihnen diese Arbeit abgenommen wird, weil sie sich so stärker ihrer Forschung widmen können.

Abschließend möchte ich noch folgenden gewichtigen Vorwurf vorbringen: Obwohl sich das Bibliothekswesen in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark gewandelt hat und sich insbesondere auch wissenschaftliche Bibliotheken in Richtung komplexe Dienstleistungseinrichtungen hin entwickelt haben, haben es Bibliotheken großteils verabsäumt, auf die von ihnen erbrachten Leistungen entsprechend hinzuweisen. "Informations-Marketing" ist für viele Bibliotheken immer noch ein Fremdwort. Ich meine damit nicht, eine Bibliothek "marktschreierisch" zu bewerben. Ich finde es aber sehr wichtig, dass eine Bibliothek auf ihr Angebot und die von ihr erbrachten Leistungen hinweist.

Fakt ist leider, dass Bibliotheken und Bibliothekare in unserem Land immer noch ein negatives Image haben. Finden Sie nicht auch, dass Ihre "Zunft" in diesem Punkt viel initiativer sein müsste?

Schmöker:

Wie Sie sehr richtig gesagt haben, sind Bibliotheken und der Beruf des Bibliothekars noch immer mit negativen Vorurteilen belastet. Wir bemühen uns ständig um ein besseres Image, wie dies viele unserer Benutzer bestätigen. Wir haben es aber auch nicht immer leicht. Dass wir einen Teil unseres ohnehin schon knappen Budgets für "Informations-Marketing" ausgeben, ist uns Bibliothekaren derzeit unvorstellbar. Die Erfüllung unserer Aufgaben hat immer eine höhere Priorität als die Pflege unseres Images gehabt. Sehr wenige von uns würden einen derartigen Schritt setzen. Ich persönlich würde es in dieser Hinsicht sehr begrüßen, dass vom zuständigen Ministerium eine entsprechende Initiative, zum Beispiel eine Informationskampagne, gestartet wird, vor allem in Zeiten wie diesen, in denen gegen Verwaltungsbeamte (viele Bibliothekare sind es noch!) negativ Stimmung gemacht wird.

... In der Zwischenzeit ist das Gewitter wieder abgezogen. Aufgrund der Intensität, mit der die Diskussion geführt wurde, haben beide Disputanten die zahlreichen teils heftigen Blitzentladungen nicht einmal wahrgenommen.

In der festen Überzeugung, den anderen mit den eigenen Argumenten "übertrumpft" zu haben, verabschieden sich beide mit einem "sportlichen" Händeschütteln und gehen nach Hause.

Epilog

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Argumente der beiden Streithähne teilweise bewusst "überzogen" wurden, um die entsprechenden Positionen möglichst klar herauszuarbeiten. Wie in der Realität auch, wurde nicht immer detailliert auf die Fragen des Gesprächspartners eingegangen. Es sei weiters erwähnt, dass bei der Disputation auf keine konkrete Bibliothek Bezug genommen wurde. Hingegen ist eher davon auszugehen, dass die hier abgedruckte Diskussion in mehr oder weniger abgewandelter Form an vielen anderen Hochschul(bibliothek)en ausgetragen wird.

Schließlich sei noch betont, dass die beiden Disputanten nicht nur vor dem Streitgespräch ein besonders freundschaftliches und kollegiales Verhältnis verband, sondern dies noch immer der Fall ist. "Bibliothekar" Gorraiz und "Professor" Schlögl halten gemeinsame Lehrveranstaltungen am FH-Studiengang Informationsberufe in Eisenstadt und am interuniversitären Universitätslehrgang "Library and Information Management" ab. Darüber hinaus haben beide einige wissenschaftliche Aufsätze gemeinsam verfasst (und werden dies in Zukunft weiter tun).

Danksagung

Die Disputanten bedanken sich bei den "Einflüsterern" aus ihren Reihen für die argumentative "Unterstützung".


Zu den Autoren

o.a. Univ.-Prof. Dr. Christian Schlögl

Institut für Informationswissenschaft
Karl-Franzens-Universität
Universitätsstraße 15/F3
A-8010 Graz

E-Mail: christian.schloegl@uni-graz.at

Dr. Juan Gorraiz

Zentralbibliothek für Physik
Universität Wien
Boltzmanngasse 5
A-1090 Wien

E-Mail: juan.gorraiz@univie.ac.at


Literatur

Nachfolgend sind einige Publikationen aufgelistet, die sich entweder kritisch mit dem Berufsstand auseinander setzen oder Perspektiven über die künftige Rolle von (wissenschaftlichen) Bibliotheken entwickeln. Diese Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

  • Aparac-Jelušić, T.; Eschenbach, S.; Menou, M.; Schlacher, W; Schlögl, C.: Eine Informationsgesellschaft ohne (mit) Informationsspezialisten / Informationsspezialisten ohne (mit) Informationsgesellschaft? (An information society with(out) information professionals / Information professionals with(out) an information society?) - Impulsreferate im Rahmen der Podiumsdiskussion (organisiert von ASIS&T European Chapter) bei der ODOK'05-Tagung.
    http://www2.uibk.ac.at/voeb/odok2005/ [letzter Zugriff am 25.1.2006].

  • Bart, Robert: 5000 Jahre Bibliotheken - eine Geschichte ihrer Benutzer, Bestände und Architektur. Stadt- und Universitätsbibliothek Bern, 1997.
    http://biblio.unibe.ch/stub/vorl96/ [letzter Zugriff am 25.1.2006].

  • Brewerton, Antony: The Creed of a Librarian: A Review Article. In: Journal of Librarianship and Information Science, 35 (1) 2003, S. 47-55.

  • Brennicke, Axel: Der Schwund übernimmt die Bibliotheken - Ansichten eines Profs: Unischmarotzer. In: Laborjournal (12) 2003, S. 24-25.

  • Broadbent, Marianne: The Phenomenon of Knowledge Management: What Does It Mean to the Information Professional? In: Information Outlook 2(5) 1998, S. 23-36.
    http://www.sla.org/pubs/serial/io/1998/may98/broadben.html [letzter Zugriff am 25.1.2006].

  • Brophy, Peter: The Library in the Twenty-First Century: New Services for the Information Age. Library Association Publishing, London, 2000.

  • Corrall, Sheila: Knowledge Management: Are We in the Knowledge Management Business? In: Ariadne, (18) 1998.
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  • Davenport, Thomas; Prusak, L.: Blow up the Corporate Library. In: International Journal of Information Management 13 (6) 1993, S. 405-412.

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  • Häkli, Esko: Im Jetzigen muss das Künftige schon verborgen liegen. Laudatio zur Verleihung des Preises "Bibliothek des Jahres 2002". In: Bibliotheksdienst, 36 (12) 2002, S. 1709-1713. http://bibliotheksdienst.zlb.de/2002/02_12_04.pdf [letzter Zugriff am 25.1.2006].

  • Horton, F.W.: Librarianship and Information Management. In: Information Management Review, 4 (1) 1988, S. 59-64.

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  • Marcum, James W.: From Information Center to Discovery System: Next Step for Libraries? In: The Journal of Academic Librarianship, 27 (2) 2001, S. 97-106.

  • Mittler, Elmar: Der Zugang zur wissenschaftlichen Publikation: Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Strategie von Verlegern, Buchhändlern und Bibliothekaren. In: Wissenschaftspublikation im digitalen Zeitalter: Verlage, Buchhandlungen und Bibliotheken in der Informationsgesellschaft. Harrassowitz, Wiesbaden, 2001, S. 109-127.

  • Mittler, Elmar: Renaissance der Bibliotheken: Die wissenschaftliche Information in der Zukunft. Dankesrede anlässlich der Verleihung des Preises "Bibliothek des Jahres 2002" durch den Deutschen Bibliotheksverband und die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. 2002.
    http://www.bibliotheksverband.de/bibliothekdesjahres/html/2002/mittler.html [letzter Zugriff am 25.1.2006].

  • Musiker, Reuben: Some Reflections and Thoughts on the Future of Books and Libraries. In: South African Journal of Library & Information Science, 66 (4) 1998, S. 176-180.

  • Okerson, Ann: Asteroids, Moore's Law, and the Star Alliance. In: The Journal of Academic Librarianship, 29 (5) 2003, S. 280-285.

  • Rauch, Wolf: Bibliothek - Wozu? In: B.I.T.online 3 (4) 2000, S. 401-480.

  • Sundin, Olof: Professionalism and LIS: (Re)constructing the librarian and the user. In: Jensen, Jane K.; et al. (Hg.): Information, innovation, responsibility: The information professional in the network society. Proceedings of the 14th BOBCATSSS Symposium, Tallinn University/Royal School of Library and Information Science, Tallinn/Copenhagen, 2006, 11-16.