Schochow , Werner: Die Berliner Staatsbibliothek und ihr Umfeld: 20 Kapitel preußisch-deutscher Bibliotheksgeschichte


Mit einem Geleitwort von Peter Vodosek
- Frankfurt am Main: Klostermann, 2005. 384 S. (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie : Sonderheft; 87)
ISBN 3-465-03342-2

Werner Schochow, der im November vergangenen Jahres seinen 80. Geburtstag feierte, nimmt sich als gelernter und gelehrter Historiker seit Jahrzehnten der Geschichte der Staatsbibliothek an, in der er sein Berufsleben verbrachte. In ihr konzentriert sich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die gesamte deutsche Bibliotheksentwicklung, mehr noch, ihr Schicksal spiegelt wie das keiner anderen Einrichtung Höhepunkte und Katastrophen deutscher Geschichte überhaupt. Die Geschichte dieser Bibliothek ist somit ein nicht auszuschöpfender Gegenstand von hohem Interesse weit über das Bibliothekswesen hinaus.

Einem Ausstellungskatalog (1) und zwei grundlegenden monographischen Veröffentlichungen zur Geschichte der Preußischen Staatsbibliothek zwischen 1918 und 1945 sowie zur Verlagerungsgeschichte ihrer Bestände in der Endphase des Zweites Weltkrieges (2) stellt er nun den vorliegenden Band zur Seite. Aus fast 50 unselbstständig erschienenen Arbeiten, die Schochow - zum Teil unter dem nicht ganz glücklich gewählten Reihentitel: "Griff in die Geschichte der Staatsbibliothek" - zunächst in der Hauszeitschrift, später mehr und mehr in den großen bibliothekarischen Fachorganen veröffentlichte (3), hat er die zwanzig wichtigsten für den vorliegenden Band ausgewählt. Beabsichtigt und entstanden ist freilich mehr als eine bloße Sammlung, die Verstreutes bequemer zugänglich macht. Der Autor, der, wie er selbst sagt, in seinen Forschungen zunächst keinem vorgefassten inhaltlichen Konzept folgte (S. 365), sondern Anregungen des Tages aufgriff, darunter auch solche, die ihm der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte verschaffte, setzt sich das Ziel, seine einzelnen Studien zu einer "schlüssigen Kapitelfolge" zusammenzufügen, "die markante Einschnitte und Bausteine zur allgemeineren und spezielleren preußisch-deutschen Bibliotheksgeschichte bereitstellt". Im Sinne dieser Intention wurden alle bereits gedruckten Arbeiten durchgesehen sowie durch fünf bisher unpublizierte Kapitel ergänzt.

Der Band gliedert sich in zwei Teile von gleichem Umfang (je zehn Kapitel), die "Sachthemen" und "Lebensbilder" überschrieben sind. Die Sachthemen werden dann noch einmal in "übergreifende" (Kap. 1-4) und "begrenzte" (Kap. 5-10) unterteilt. Diese zusätzliche Gliederung will dem Rezensenten jedoch nicht mehr so recht einleuchten, zumal sich thematisch nahe verwandte Arbeiten in verschiedenen Rubriken finden. Das 2. Kapitel (Jubiläen der Staatsbibliothek - jüngst und einst) hätte sich nämlich ebenso gut dem 8. (1961: Zwei herbstliche Säkularfeiern in einer Stadt) an die Seite stellen, oder besser noch, mit ihm vereinigen lassen.

Ob "begrenzt" oder "übergreifend" - der Mehrwert des Ganzen gegenüber den isolierten Einzelstudien springt ins Auge, vor allem bei vollständiger Lektüre in einem Zuge. Insofern verwirklicht sich die Intention des Autors überzeugend. Es wird ein detailreiches Panorama der bedeutendsten deutschen Bibliothek und der sie bestimmenden Zeitumstände entrollt, auch und gerade anhand der minutiösen Darstellung von "begrenzten" Themen wie dem Schicksal eines einzelnen Buches, der teilweisen Zerstörung ihres Gebäudes 1944/1945 oder der Grundsteinlegung und Eröffnung des Neubaus an der Potsdamer Straße (Haus 2).

An der Spitze des Bandes steht eine umfangreiche Darstellung der "Begründung und Sicherung des bibliothekarischen Berufsstandes in der Ära Althoff-Milkau". Hier beeindruckt besonders der chronologische Teil (S. 19-30), der Jahr für Jahr in dichter Folge die mit Klarheit des Zieles und Entschiedenheit des Handeln durchgesetzten Reformen aufzählt, durch die nicht nur der Beruf des Bibliothekars und sein Umfeld (Ausbildung, Fachzeitschrift) geschaffen, sondern auch das Katalogwesen (Preußische Instruktionen) auf eine neue Grundlage gestellt und andere organisatorisch überfällige Maßnahmen verwirklicht wurden. Dieser Abschnitt führt gerade in seiner Kompaktheit die Überlegenheit der preußischen Bibliothekspolitik und -organisation und ihre führende Stellung im Reich unwiderlegbar vor Augen, der die meisten der anderen Länder nichts Vergleichbares oder Alternatives entgegenzusetzen hatten. Einzig in Bayern gab es entsprechende Maßnahmen zur Nachwuchsförderung (S. 33). Der historische Rang des damals in Preußen Geleisteten und bis heute Fortwirkenden sollte nach dieser Darstellung nicht mehr in Zweifel gezogen werden.

Die "Lebensbilder" sind angeordnet nach solchen aus der Staatsbibliothek und aus ihrem Umfeld. Sieben große Porträtstudien zu Fritz Milkau, Hugo Andres Krüß, Paul Schwenke, Emil Jacobs, Emil Gratzl, Wieland Schmidt und Rudolf Blum bilden unbezweifelbar den Höhepunkt des Bandes und stellen nicht nur eine historiographische, sondern darüber hinausgehend auch eine literarische Meisterleistung dar. Dass der erfahrene Historiker aus Nachlässen (am ergiebigsten: Georg Leyh) und Briefwechseln reiches Material zu schöpfen weiß, mag zu seinem Handwerk gehören, die Abgewogenheit der Darstellung aber, die Verdienste und Schwächen gerecht zu benennen, Licht und Schatten maßvoll zu verteilen weiß und am Ende das lebendige Abbild eines Menschen erstehen lässt, ist eine Kunstleistung hohen Ranges. Schochows Porträtreihe nimmt nach Kenntnis des Rezensenten in der deutschsprachigen Bibliotheksgeschichtsschreibung eine Sonder- und Ausnahmestellung ein, denn etwas Vergleichbares gab es bisher nicht. Sie sollte jedem jungen Berufskollegen als Pflichtlektüre gelten.

Sechs der genannten Lebensbilder sind zuvor schon in bibliothekarischen Fachzeitschriften erschienen, ein siebtes, Rudolf Blum gewidmetes, kommt hier neu hinzu. Wegen seiner jüdischen Abstammung erhielt er in Deutschland keinen Zugang zum Beruf, ging nach Italien, arbeitete nach dem Krieg vier Jahre in der damals "Öffentliche Wissenschaftliche Bibliothek" genannten Staatsbibliothek und wechselte danach wegen des zunehmenden politischen Drucks nach Frankfurt an die neugegründete Deutsche Bibliothek. Er ist vor allem durch seine Arbeiten zur Geschichte der Bibliographie bekannt geworden. Schochow würdigt ihn als seinen fachlichen und menschlichen Mentor, was der Darstellung besondere Wärme und Authentizität verleiht. Das größte Vergnügen hat dem Rezensenten das Lebensbild Emil Gratzls bereitet, des Leiters der Erwerbungsabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek und intensiven Briefpartners von Georg Leyh. Gegenüber respektgebietenden Autoritäten wie Fritz Milkau oder Paul Schwenke, die in preußisch-protestantischer Strenge gewaltige Arbeiter waren, verkörpert er einen natur- und weltverbundenen Katholizismus altbayerischer Prägung, dem "die heroische Tugend des Fleißes" (S. 260) Raum schaffen sollte für Kunst- und Lebensgenuss. "Mensch und Bibliothekar" - so lautet treffend der Untertitel von Schochows Studie. Gratzl schöpfte seinen Stolz daraus, ein "lesender Bibliothekar" (S. 276) zu sein (wer kann das heute von sich behaupten!), verfügte über eine große und wertvolle Privatbibliothek, konsumierte in seiner Freizeit stapelweise Kriminalromane und legte eine Sammlung von Katzenbüchern an (S. 278, Anm. 53).

Den Abschluss der Lebensbilder bildet die Darstellung des Schicksals dreier jüdischer Bibliothekare der Staatsbibliothek, von denen zwei nach langen Dienstjahren entlassen wurden und im Konzentrationslager umkamen, während die dritte nach glänzend bestandenem Examen erst gar keine Anstellung erhielt, auch im Ausland schwer Fuß fassen konnte und unter diesen Belastungen gesundheitlich zerbrach. Es handelt sich bei allen dreien nicht um Prominente, sondern um stille Arbeiter der zweiten Reihe oder eben um eine zu hohen Erwartungen berechtigende Anfängerin. Schochow hat ihre Schicksale in kriminalistischer Recherche ermittelt und stellt sie dar, um "unser selbst willen" und um den Opfern Namen und Gesicht wiederzugeben. Die bürokratischen Spuren der Ausplünderung des persönlichen Besitzes, die der physischen Vernichtung vorausging, hier einmal konkret (in Faksimiles) vor sich zu sehen, ist erschreckend.

Der Band ist nobel gedruckt und enthält zahlreiche Abbildungen und Faksimiles.

Die geringe Zahl der Druckfehler liegt unterhalb der Grenze des Erwähnenswerten. Der Vorderdeckel trägt das Supralibros der Preußischen Staatsbibliothek. Nachdem Werner Schochow 1990 noch als "Haushistoriograph" und seine Arbeit als "Glücksfall" gefeiert wurde (4), ist es, wie Peter Vodosek in seinem Geleitwort ausführt, ganz unverständlich, dass die Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz diesen Band ebenso wenig wie die "Bücherschicksale" hat unter ihre Fittiche nehmen wollen. Es gibt keine andere deutsche, erst recht keine ausländische Bibliothek, die die Gelegenheit versäumt hätte, zwei so zentrale und grundgelehrte Werke zur Geschichte des eigenen Hauses in ihrer Schriftenreihe erscheinen zu lassen oder auf andere Weise mit ihrem Namen zu verbinden.


Anschrift des Rezensenten

Dr. Wolfgang Dittrich
Knüppelsdorfer Weg 17a
D-31275 Lehrte


Anmerkungen

(1) 325 Jahre Staatsbibliothek in Berlin: das Haus und seine Leute; Buch und Ausstellungskatalog / Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz ; [Text: Werner Schochow]. - Wiesbaden: Reichert, 1986. - 206 S. mit 220 Abb. - (Ausstellungskataloge / Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz; 27).

(2) Die Preußische Staatsbibliothek 1918 - 1945: ein geschichtlicher Überblick; mit einem Quellenteil / von Werner Schochow. - Köln; Wien: Böhlau, 1989. - XII, 170 S. - (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz; Bd. 29).

Bücherschicksale: die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek; Auslagerung, Zerstörung, Entfremdung, Rückführung; dargestellt aus den Quellen / Werner Schochow. Mit einem Geleitwort von Werner Knoop. - Berlin [u.a.]: de Gruyter, 2003. - XV, 328 S.: Ill., graph. Darst., Kt. - (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 102).

(3) Vgl. das Schriftenverzeichnis in der Werner Schochow gewidmeten Festschrift "Bibliographie und Berichte". - München [u.a.]: Saur, 1990, S. 9-14, dazu die Ergänzungen von Hartmut Walravens in: Mitteilungen / Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. - N. F. 5. 1996, Nr. 1, S. 71-73, sowie im vorliegenden Band S. 377-379.

(4) Richard Landwehrmeyer im Geleitwort zu "Bibliographie und Berichte" (Anm. 3).