Nicholson Baker: Der Eckenknick oder
wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen
Im Mittelpunkt des lesenswerten, informativen, teilweise recht bissig geschriebenen Buches steht der Umgang mit historischen Sammlungen von Tageszeitungen und Büchern in Bibliotheken. Dabei geht der Autor insbesondere auf die Praxis in der Library of Congress und in der New York Public Library ein. Bakers Kernthese lautet - verkürzt: Der Papierzerfall, der durch "akzelerierten Alterungstest und Arrhenius-Gleichung" (S. 22) wissenschaftlich bewiesen scheint, führt dazu, dass voreilig Sammlungen ausgesondert werden.
Baker beschreibt, welche zweifelhaften und zum Teil gefährlichen Experimente zur Prüfung der Brüchigkeit oder zur Erhaltung durchgeführt wurden/werden. Der "Eckenknicktest" ("Double Fold") war insofern eine Verbesserung zur Bestimmung der Brüchigkeit von Zeitungen/Büchern, weil nunmehr keine "Streifen aus den eigenen Bibliotheksbüchern" herausgeschnitten werden mussten. (S. 205) Dagegen erwiesen sich die Experimente mit Diäthylzink als höchst gefährlich (S. 151-158).
Von den drei Praktiken der Aussonderung - Mikrosurrogat, Versteigerung und Müll - hält Baker nichts. Die Mikrosurrogate sind dem Original nicht ebenbürtig, was Farbgebung, Abbildung und andere Merkmale eines benutzerfreundlichen Layouts angeht. Von der Versteigerung hält er ebenfalls nichts, da die Sammlungen dann überwiegend an die "Bücherschlächter" (S. 28) gingen/gehen, die dann die wertvollen Teile herausschneiden und diese dann zu den verschiedensten Anlässen teuer verkaufen. Wie zu erwarten, findet auch die Entsorgung auf einer Mülldeponie keinen Zuspruch.
Anhand von überzeugenden Quellen (der Anhang umfasst 93 Seiten mit kleinen Lettern), belegt Baker, dass die Zeitungs- und Buchbestände eher durch die Bibliothekare selbst als durch Säure verschwinden. Die Mikroverfilmung von Sammlungen ist, wie Baker eindruckvoll belegt (insbesondere auf den Seiten 59-71), eine Pseudo-Rechtfertigung. Denn die Mikrofilme erweisen sich offensichtlich als viel anfälliger als Zeitungspapier. Das Vorhandensein eines Mikrofilms an sich bedeutet noch lange nicht, dass auch tatsächlich eine 1:1-Abbildung vorliegt. Da wird auch schon einmal eine Seite bei der Verfilmung vergessen. Darüber hinaus kann es keine lückenlose Dokumentation geben, wenn manche Zeitungen als Morgen-, Mittags- und Abendausgabe erscheinen, und nur die Ausgabe verfilmt wird, die gerade vorhanden ist, oder es fehlen einfach Ausgaben.(S. 72-80).
Nachdem die Mikroverfilmungs-Maschinerie in Gang gekommen war, mussten Technik und Mitarbeiter ausgelastet werden. Die Library of Congress "besaß 1973 vierundzwanzig Mikrofilmkameras; sie belichten pro Tag über zweitausend Meter Film" (S. 134). Ein Abteilungsleiter der LoC bringt das mit "Sie müssen das Biest füttern" (ebd.) auf den Punkt, um das Ausmaß der Vernichtung von Kulturgütern1 zu verdeutlichen. Beim Preservation Microfilming Office (PMO) "… wurden zwischen 1968 und 1984 dreiundneunzig Millionen Seiten (dreihunderttausend Bände, bei denen es sich nicht um Zeitungen handelte) auf Film aufgenommen" (S. 136). Und vermeintlich "brüchige" ("brittle") Zeitungen und Bücher werden aus dem Einband herausgeschnitten und verstümmelt, was Baker an verschiedenen Stellen als "Guillotinierung" bezeichnet (z.B. S. 136).
Dass es auch anders geht zeigt das Beispiel der Ohio State Library: "Nach einer Schätzung werden dort nur noch fünf bis zehn Prozent dessen, was gegenwärtig an der Ohio State Library auf Film aufgenommen wird, weggeworfen...." (S. 150).
Vor diesem Hintergrund sind einige Fragen erlaubt:
Nicholson Bakers "Der Eckenknick oder wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen" ist ein Muss für alle, die ein Interesse daran haben, dass es auch in Zukunft noch (physische) Bibliotheken mit echten Büchern, Zeitungen und Zeitschriften geben soll.
Anschrift des Rezensenten
Prof. Dr. Wolfgang Ratzek
Hochschule der Medien
Fachbereich Information und Kommunikation
Wolframstraße 32
D-70191 Stuttgart
E-Mail: ratzek@hdm-stuttgart.de
Anmerkung
1. Die Mikroverfilmung (aber auch die Digitalisierung) einer (gedruckten) Zeitung oder eines (gedruckten) Buches kann m.E. das Original nicht vollständig ersetzen, da das Original als Print-Medium rezipientengerecht konzipiert wurde. Das gilt selbstverständlich nicht für genuine E-Produkte, die rezipientengerecht als digitales Produkt konzipiert wurden.