Russischer Bibliothekartag 2006 - Eindrücke von einer Reise nach Ekaterinburg

von Ludger Syré und Jürgen Seefeldt

Als im August 2003 der Weltkongress der IFLA in Berlin stattfand, gab die Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheken das Buch "Portale zu Vergangenheit und Gegenwart - Bibliotheken in Deutschland" heraus, das alle Berliner Gäste - es waren über 4.500 - wahlweise in deutscher oder englischer Sprache als Geschenk erhielten. Mit der von Jürgen Seefeldt und Ludger Syré verfassten, im Verlag Olms (Hildesheim) erschienenen Darstellung sollte das Bibliothekswesen des Gastgeberlandes den Teilnehmern der IFLA-Jahrestagung vorgestellt werden. Das Buch wandte sich also in erster Linie an ausländische Bibliothekare, welche die Grundzüge des deutschen Bibliothekswesens kennen lernen wollten.

Abbildung 1: Titelblatt der 2005 von Galina Isajewa ins Russische übersetzten Ausgabe des Portale-Buches.

Inzwischen ist das Buch zu einer weit verbreiteten Publikation geworden, die auch Nichtbibliothekaren einen lesbaren und anschaulichen Überblick über das deutsche Bibliothekswesen ermöglicht. Durch zahlreiche farbige Fotos vermittelt es zudem einen optischen Eindruck von den deutschen Bibliotheken und stellt insoweit eine Ausnahme unter der ansonsten reichen Zahl bibliothekarischer Veröffentlichungen dar. Da sich das Bibliothekswesen stetig wandelt, sind von Zeit zu Zeit Neuauflagen geplant.

Sogleich nach seinem Erscheinen wurden die "Portale" auf Initiative des Goethe-Instituts in mehrere Sprachen übersetzt. Nach der 2003 veröffentlichten deutschen und englischen Ausgabe erschienen im Jahr darauf eine spanische und eine türkische Ausgabe; 2005 folgten eine arabische und eine russische Ausgabe (Abb.1). Über die Homepage des Goethe-Instituts können gegenwärtig Textfassungen (ohne Bildmaterial) in Spanisch, Französisch, Griechisch, Russisch, Chinesisch, Arabisch und Türkisch kostenlos herunter geladen werden (URL: http://www.goethe.de/wis/bib/prj/ifl/deindex.htm).

Auf Einladung von Andrea Bach, Leiterin der Abteilung Informations- und Bibliotheksarbeit im Goethe-Institut Moskau, erhielten die beiden Autoren, Jürgen Seefeldt und Ludger Syré, im Mai diesen Jahres die Gelegenheit, die russische Version des Buches auf dem 11. Allrussischen Bibliothekartag in Eketarinburg im Ural persönlich vorzustellen. Dieser besondere Anlass bildet den Hintergrund für den folgenden Reisebericht.

Der Russische Bibliotheksverband

Genauso wie die deutschen finden auch die russischen Bibliothekartage an wechselnden Orten statt. Sie werden von der 1994 (neu) gegründeten Russischen Bibliothekarischen Assoziation (Rossijskaja Bibliotetschnaja Associacija, RBA) (www.rba.ru) organisiert, die unter ihrem Dach die Interessenvertretungen der Bibliotheksmitarbeiter und die einzelnen Bibliotheken der Russischen Föderation vereinigt. Die Vereinsarbeit findet in Sektionen und Round Tables statt: Jedes Mitglied muss mindestens einem dieser Gremien angehören; die Mitarbeit in weiteren Gremien hängt von der Höhe des jährlich gezahlten Mitgliedsbeitrags ab.

Seit ihrer ersten Tagung 1996 in Moskau hält die RBA jedes Jahr eine Konferenz ab, die der Diskussion fachlicher Fragen ebenso dient wie dem Rechenschaftsbericht der Vereinsführung und der Rechnungslegung und Finanzplanung. Zur inzwischen 11. Jahresversammlung trafen sich vom 15. bis 20. Mai 2006 rund 800 Bibliothekarinnen und Bibliothekare in Ekaterinburg, einer Millionenstadt im Ural. Der nächste Kongress wird 2007 in der südwestlich von Moskau und unweit der weißrussischen Grenze gelegenen Stadt Brjansk stattfinden.

Abbildung 2: Blick von einem Hochhaus auf die Millionenstadt Ekaterinburg.

Die Stadt Ekaterinburg

Die zu Ehren der Zarin Katharina I. Ekaterinburg getaufte Stadt wurde 1924 nach einem bolschewistischen Revolutionär in Swerdlowsk umbenannt, erhielt aber 1991 ihren alten Namen zurück. Sehr anschaulich ist die Geschichte der Stadt auf 12 großformatigen Gemälden festgehalten, die die Wände der Wartesäle des jüngst restaurierten Bahnhofs von Ekaterinburg schmücken.

Die recht junge, nämlich erst 1723 gegründete Stadt, die heute 1,5 Millionen Einwohner zählt und damit die viertgrößte Stadt Russlands ist (Abb.2), verdankt ihr Wachstum und ihren Wohlstand einerseits den Bodenschätzen des Urals und der unter Peter dem Großen einsetzenden Eisengewinnung, andererseits ihrer Lage an der Transsibirischen Eisenbahn, die hier die Grenze nach Asien überfährt. Während des Zweiten Weltkriegs wurden zahlreiche Fabriken aus dem Westen Russlands vor den Deutschen in Sicherheit gebracht und mitsamt der Belegschaft hinter den Ural evakuiert, was zu einem weiteren wirtschaftlichen Aufschwung der Region führte. Nach Moskau gilt Ekaterinburg heute als zweitwichtigste Industriemetropole Russlands. Im Kalten Krieg geriet die Stadt in die Schlagzeilen, als 1960 über ihr ein amerikanisches Spionageflugzeug vom Typ U-2 abgeschossen wurde.

Abbildung 3: Die beiden Autoren mit Vertreterinnen des Goethe-Instituts vor der sog. "Blutkirche".

Zu den herausragenden, auch in Westeuropa bekannten Daten der Stadtgeschichte gehört die Ermordung der Zarenfamilie im Juli 1918. Die Tat geschah in einem Haus, das 1977 vom Swerdlowsker Parteichef Boris Jelzin auf Weisung Moskaus abgerissen wurde und an dessen Stelle sich heute eine monumentale, aus privaten Spenden finanzierte Kathedrale erhebt (Abb.3), die dem Gedenken an Zar Nikolaus II., seine Frau Alexandra, den Thronfolger Aleksej und den vier Töchtern gewidmet ist, die allesamt seitens der Orthodoxen Kirche inzwischen zu Heiligen erklärt worden sind.

In einem Birkenwald 40 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums, an der Stelle, an der erst Anfang der 1990er Jahre die Überreste der Ermordeten entdeckt wurden (welche 1998 in St. Petersburg beigesetzt wurden), errichten vor wenigen Jahren orthodoxe Mönche ein Kloster, dessen sieben Kirchen je einem Mitglied der Zarenfamilie Romanow geweiht sind. Zu diesem Ort führte eine abendliche Exkursion mit vier Reisebussen, die als Begleitprogramm zum Bibliothekartag angeboten wurde und bei den Teilnehmern auf reges Interesse stieß. Beide Erinnerungsstätten dokumentieren die enge historische Verbindung von russischer Kirche und Autokratie. Inwieweit sie sich auch für eine aktuelle Deutung eignen, zum Beispiel für die gegenwärtige Suche nach neuer Sinnstiftung für die russische Gesellschaft nach der Wende, mag dahingestellt bleiben.

Der 11. Allrussische Bibliothekartag

Die Veranstaltungen des Bibliothekskongresses verteilten sich auf verschiedene Gebäude innerhalb der Stadt. Die Bibliotheksausstellung, auf der Verlage ebenso präsent waren wie Softwareanbieter und Zubehörfirmen und die sich insofern von den Messen deutscher Bibliothekartage nur in Bezug auf die Zahl der Aussteller (über 60) unterschied, fand in einem modernen Veranstaltungsgebäude am Ufer des Iset statt (Kino- und Konzerthaus "Kosmos"), weithin sichtbar durch das Transparent des Russischen Bibliotheksverbandes (Abb.4). Hier wurde auch der Kongress durch den Präsidenten der RBA und die Kulturministerin des Oblast (Gebiet) Swerdlowsk eröffnet (die Gebiete behielten nach der "Wende" ihre Namen). Und hier präsentierten sich die öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken des Gebiets in einer mitreißenden Mischung aus Information und Unterhaltungsshow. Moderiert von drei agilen Schauspielern des städtischen Theaters, bot das zweistündige Programm einen Querschnitt aus folkloristischen und modernen Tanz- und Musikdarbietungen auf hohem Niveau, unterbrochen von kurzen Interviews mit Bibliotheksleitern und Bibliotheksbenutzern, Kurzfilmen und Power-Point-Präsentationen der Uraler Bibliotheken und kabarettistischen Einlagen. Damit entsprach es voll und ganz dem Motto des Kongresses, das lautete: "Bibliotheken sind das Wichtigste in der Kultur".

Abbildung 4: Transparent des 11. Allrussischen Bibliothekartags an der Fassade des Kino- und Konzerthauses "Kosmos" in Ekaterinburg.

Fast alle Fachveranstaltungen des Kongresses wurden von einer Sektion der RBA gestaltet, wobei das Programm so umfangreich ausfiel, dass Parallelveranstaltungen unvermeidlich waren. Der russische Bibliotheksverband kennt zwei Sorten von Sektionen: Die einen sind einem speziellen Bibliothekstyp gewidmet; so gibt es unter den gegenwärtig 13 Sektionen beispielsweise solche für Kunst-, Musik-, Kinder-, Schul-, Dorf-, Regional- und Nationalbibliotheken. Die anderen Sektionen, über 20 an der Zahl, dienen der bibliotheksübergreifenden Sacharbeit wie zum Beispiel Bibliotheksgeschichte, Bestandsaufbau, Elektronische Ressourcen, Leseförderung, Management und Marketing, Dokumentlieferung, Mitarbeit in der IFLA, Pflege internationaler Kontakte, "neue Generation von Bibliothekaren".

Dass die Mitgliedschaft in der IFLA eine wichtige Rolle spielt, kam in mehreren Sektionssitzungen zum Ausdruck; intensiv wurden die Teilnehmer über die Mitarbeit der russischen Delegierten in den IFLA-Gremien informiert. Kontakte pflegt der Russische Bibliotheksverband auch zu den bibliothekarischen Vereinen der Nachbarländer (GUS-Staaten, baltische Staaten, Polen) und der angelsächsischen Länder (ALA, LA). Zu den deutschen Bibliotheksvereinen wie DBV, BIB und VDB scheinen hingegen keine engen Beziehungen zu bestehen.

Auch die Vorträge, die Ludger Syré und Jürgen Seefeldt in Ekaterinburg hielten, fanden im Rahmen von Sektionssitzungen statt. In der gemeinsamen Sitzung der Sektion für Bibliotheksautomatisierung, Formatfragen und Katalogisierung und des Überregionalen Komitees für Katalogisierung referierte Ludger Syré über Ansätze zur "Langzeitarchivierung elektronischer Publikationen in Deutschland". Ausgehend von dem Aufruf der UNESCO, elektronische Publikationen als Teil des kulturellen Erbes zu betrachten und sich für die dauerhafte Archivierung einzusetzen, zeigte Syré, wie das Problem in einem föderativen Staat wie der Bundesrepublik Deutschland auf nationaler Ebene, durch Die Deutsche Bibliothek, und auf regionaler Ebene, durch die regionalen Pflichtexemplarbibliotheken, diskutiert und angegangen wird. An der Reaktion auf den Vortrag war abzulesen, dass die meisten Zuhörer das Problem der Langzeitarchivierung eher als Aufgabe der Nationalbibliotheken begreifen, dass es mithin zu den eigenen Alltagsproblemen in weiter Ferne liegt. Hier stehen derzeit noch andere Fragen auf der Tagesordnung wie beispielsweise der Aufbau von (bislang nur rudimentär vorhandenen) Verbundkatalogen, mit allen seinen Konsequenzen für Fragen der Datenformate und Regelwerke.

Jürgen Seefeldts Referat, vorgetragen in einer Sitzung der Sektion für öffentliche Bibliotheken, antwortete auf die Frage nach "Qualitätsmanagement, Standards und Bewertungskriterien in deutschen Bibliotheken" und ging damit auf ein momentan in Russland diskutiertes Thema ein. Allerdings gibt es für Deutschland keine gesetzlich festgeschriebenen oder in anderer Form verbindlich geregelten Standards, so dass vor allem auf die Suche nach entsprechenden Ersatzlösungen seitens der Bibliothekare und Bibliotheken zu verweisen war, angefangen beim Bibliotheksplan ´73 mit Aussagen zum Etat-, Raum- und Personalbedarf über den Bibliotheksindex (BIX) als Betriebsvergleich bis hin zur Einführung moderner betriebswirtschaftlich ausgerichteter Führungsstrategien und -instrumente (der Vortrag ist in diesem Heft nachzulesen).

Beide Vorträge fanden vor jeweils rund 80 Zuhörern statt und wurden von den Autoren in deutscher Sprache gehalten und abschnittsweise von der Mitarbeiterin des Goethe-Instituts Irina Spirowa in Russisch vorgelesen; die kurz vor Kongressbeginn eingereichten Vorträge waren zuvor von der Übersetzerin des Portale-Buchs, Galina Isaejwa, ins Russische übertragen worden. Anschließend erhielten alle Sitzungsteilnehmer die vom Goethe-Institut fotokopierten Vortragsübersetzungen in schriftlicher Form.

Die Belinskij-Bibliothek

Abbildung 5: Außenansicht und Eingangsbereich der Belinskij-Bibliothek in Ekaterinburg.

Schauplatz der beiden deutschen Beiträge wie überhaupt der meisten Veranstaltungen des Bibliothekartags war die zentral gelegene Allgemeinwissenschaftliche Bibliothek des Swerdlowsker Gebiets, benannt nach dem Schriftsteller und Philosophen Wissarion Grigorjewitsch Belinskij (http://book.uraic.ru). Die 1899 gegründete Swerdlowskaja oblastnaja nautschnaja biblioteka imeni Belinskogo änderte im Laufe der Jahrzehnte mehrmals ihren Status und Namen, blieb aber immer eine der allgemeinen Bevölkerung offen stehende wissenschaftliche Gebietsbibliothek, zuständig für die Einwohner des Gebiets Swerdlowsk mit der Hauptstadt Ekaterinburg/Swerdlowsk.

Unter der großen Zahl der Medieneinheiten, die mit über zwei Millionen angegeben wird, sind mehr als eine Million Bücher aller Fachgebiete. Jährlich kommen 25.000 neue Bände hinzu. Die Zahl der Abonnements von Zeitschriften und Zeitungen liegt bei 1.500.

Pro Jahr kommen 250.000 Menschen in die Bibliothek, pro Tag etwa eintausend: Schüler, Studenten, Rentner, Berufstätige, Firmenangehörige u.a., wobei zu erwähnen ist, dass die Belinskij-Bibliothek ihre Bestände, soweit sie nicht zum "Abonnementsbestand" zählen, nur vor Ort nutzen lässt. Dazu stehen den Besuchern mehrere Lesesäle zur Verfügung. Die besonders ansprechend gestalteten Räume befinden sich im Altbau der Bibliothek, einem 1960 bezogenen Gebäude (Abb.5). Diesem wurde 2003 ein moderner Anbau hinzugefügt, in dem sich die internationalen Lesesäle befinden, die organisatorisch zur Abteilung für Fremdsprachige Literatur zählen. Die Bibliothek hat werktags von 9.00 bis 20.00 Uhr, sonntags von 10.00 bis 18.00 Uhr geöffnet; samstags ist geschlossen.

Hinsichtlich der technischen Ausstattung präsentiert sich die Belinskij-Bibliothek als durchaus konkurrenzfähig mit deutschen Bibliotheken; den Benutzern stehen seit 1997 ein Internetzentrum und seit 2003 ein Raum für elektronische Informationsmittel offen. Die neueren Monographien und alle Zeitschriften sind in einem elektronischen Katalog verzeichnet, daneben gibt es aber auch noch Zettelkataloge für den Buchbestand vor 1993. Auch die Ausstattung mit Bürogeräten und mit Konferenztechnik entspricht dem heutigen Standard.

Der Deutsche Lesesaal

Das Ende der Sowjetunion brachte für das Goethe-Institut die Möglichkeit, nun auch in den Nachfolgestaaten der UdSSR tätig zu werden. Da in der Regel in jedem Land nur ein Goethe-Institut vorhanden ist, auf der anderen Seite in den neuen Regionen aber neben der jeweiligen Hauptstadt mehrere Millionenstädte existieren, entstand die Idee, Deutsche Lesesäle einzurichten und auf diese Weise ein Netzwerk aufzubauen. Nur so kann es gelingen, die große Nachfrage nach deutscher Literatur und nach aktuellen Informationen über Deutschland zu befriedigen.

Abbildung 6: Deutscher Lesesaal in der dritten Etage der Belinskij-Bibliothek in Ekaterinburg.

Der Aufbau Deutscher Lesesäle geschieht in Kooperation mit örtlichen Partnern: die "gastgebende" Bibliothek stellt geeignete Räumlichkeiten, die bibliotheksspezifische Infrastruktur sowie deutschsprachiges Fachpersonal zur Verfügung. Das Goethe-Institut sorgt für eine laufend aktualisierte Grundausstattung an Medien, für technische Geräte sowie für die Weiterbildung des Personals.

Heute gibt es in Osteuropa, von A wie Albanien bis W wie Weißrussland, insgesamt 57 Deutsche Lesesäle. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der Goethe-Region Osteuropa/Zentralasien, bestehen 27 Lesesäle, davon alleine 16 in der Russischen Föderation, von A wie Archangelsk bis W wie Wladiwostock. Fachlich werden diese von den Instituten in Moskau und St. Petersburg aus betreut. Da in Russland die Hochschulbibliotheken in der Regel nur Angehörige der eigenen Hochschule zulassen, werden die internationalen Lesesäle bevorzugt in den Gebietsbibliotheken eingerichtet. Diese sind, ähnlich wie die deutschen Regionalbibliotheken, allgemein zugängliche wissenschaftliche Bibliotheken.

Neben dem 1993 eröffneten Deutschen Lesesaal (Abb.6) beherbergt die Belinskij-Bibliothek einen französischen und einen englischsprachigen Lesesaal. Sowohl der British Council als auch die Alliance Française sind vor Ort präsent. Während in den französischen Lesesälen einheitliche Bestände stehen, die zentral vom Pariser Außenministerium aus aufgebaut werden, legt das Goethe-Institut Wert darauf, die Medienausstattung den jeweiligen lokalen Interessen und Bedürfnissen anzupassen. Wichtiger als die Zahl der Medien ist dem Goethe-Institut die Aktualität des Bestandes, weshalb die britischen und französischen Lesesäle, aus denen weniger ausgesondert wird, meist umfangreicher ausfallen.

Unterschiede gibt es auch hinsichtlich der übrigen Kulturarbeit. Sprachkurse und kulturelle Veranstaltungen sind beim Goethe-Institut nicht Teil der Bibliothekarbeit, sondern werden von eigenen Abteilungen des Instituts organisiert. Franzosen und Briten bieten über ihre Lesesäle Sprachkurse und Übersetzungstätigkeiten an. Der British Council betreibt eine intensive Werbung für das Studium in den angelsächsischen Ländern und offeriert entsprechende Beratungsmöglichkeiten. Aber auch der DAAD (Deutscher Akademischer Austausch-Dienst) hält regelmäßig im Deutschen Lesesaal Beratungsstunden ab, um Studenten und Wissenschaftler über Studienmöglichkeiten, Forschungsaufenthalte und Stipendienprogramme in Deutschland zu informieren.

Der Deutsche Lesesaal in der Belinskij-Bibliothek wird von zwei Bibliothekarinnen betreut, die ihren Besuchern ungefähr 6.500 Medien zur Verfügung stellen können: Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, audiovisuelle und elektronische Medien, die - anders als es in der gastgebenden Bibliothek gebräuchlich ist - in vielen Fällen auch nach Hause entliehen werden dürfen. Ein Teil des Neuzugangs wird über Spendenmittel finanziert: Dem Goethe-Institut ist es gelungen, die Firma Bayer Russland für drei Jahre als Sponsor zu gewinnen. Angrenzend an den deutschen Lesesaal sind die übrigen deutschsprachigen Bestände der Belinskij-Bibliothek untergebracht, die überwiegend aus DDR-Zeiten stammen und heute nur noch wenig benutzt werden.

Präsentation der "Portale"

Abbildung 7: Die Autoren und die russische Dolmetscherin Irina Spirowa während der Präsentation des Portale-Buches im Kammertheater von Ekaterinburg.

Nicht in den Räumen der Bibliothek, sondern im Kammertheater, einem kleinen, etwas nostalgisch anmutendem Theater mit 120 Sitzplätzen, die auch nahezu vollständig belegt waren, fand die Präsentation des Buches "Dweri w proschloe i buduschtschee" statt. Die Autoren (Abb.7) des Buches gingen nur kurz auf die Grundzüge der deutschen Bibliotheksgeschichte und auf den kulturpolitischen Hintergrund des deutschen Bibliothekswesens ein, um dann umso ausführlicher das breite Panorama bibliothekarischer Einrichtungen vorzuführen. Der wiederum in deutscher Sprache gehaltene Vortrag, der abschnittsweise ins Russische übersetzt wurde und zudem in schriftlicher Form vorlag, wurde von einer Power-Point-Präsentation ergänzt, die den Teilnehmern ein anschauliches Bild von der Vielfalt der deutschen Bibliotheken vermitteln sollte. Natürlich konnten die einzelnen Bibliothekstypen, von der Nationalbibliothek bis zur Gemeindebücherei, nur in bescheidener Auswahl in Wort und Bild vorgestellt werden.

Die zahlreichen Fragen im Anschluss an den rund eineinhalbstündigen Vortrag zeigten das rege Interesse, das dem deutschen Bibliothekswesen in Russland entgegengebracht wird. Dieses war sicherlich bei den Teilnehmern des Bibliothekskongresses schon deshalb geweckt, weil sie in ihren Tagungsunterlagen ein Exemplar des vorgestellten Buches vorgefunden hatten - als Geschenk des Goethe-Instituts, wie dessen Vertreterin, Andrea Bach, in ihrem Grußwort an die Versammlungsteilnehmer ausführte. Sie freute sich darüber, dass der deutsche Generalkonsul in Ekaterinburg, Dr. Tilo Klinner, anwesend war, der in seiner Grußadresse auf die Rolle der deutschen Bibliotheken einging. Mit einem von Goethe-Institut und Generalkonsulat (www.ekaterinburg.diplo.de/de/Startseite.html) gemeinsamen ausgerichteten Empfang mit Sekt und Früchten im Foyer des Theaters klang die Veranstaltung aus.

Exkursionen

Mit der Buchpräsentation war der fachliche Teil des russischen Bibliothekartages für die beiden deutschen Gäste beendet. Es folgte auf Einladung der Leiterin der Fremdsprachenabteilung der Belinskij-Bibliothek eine kleine Exkursion vor die Tore der Stadt. Etwa 20 km westlich Ekaterinburgs und 3500 km östlich Berlins verläuft die europäisch-asiatische Grenze, geographisch bestimmt durch die Wasserscheide des Urals. Eine unmittelbar an der Schnellstraße Richtung Moskau aufgestellte moderne Plastik, die ein stilisiertes "E" und "A" zeigt, symbolisiert den Grenzverlauf zwischen beiden Erdteilen (Abb.8)

Abbildung 8: Grenzmarkierung Europa/Asien im Ural.

Ein paar Kilometer weiter erinnert eine Gedenkstätte an die Opfer der stalinistischen Verbrechen, für die sich die Bezeichnung "Stalins Repressionen" eingebürgert hat. Auf langen Steinwänden sind die Namen von nicht weniger als 12.000 Sowjetbürgern festgehalten, die zwischen 1930 und 1950 die Herrschaft Stalins mit dem Leben bezahlen mussten. Die Skelette der Opfer wurden entdeckt, als Mitte der achtziger Jahre die Autobahn gebaut wurde; rund zehn Jahre später ist dann die Gedenkstätte errichtet worden.

Das heutige Russland, so scheint es, ist sehr geschichtsbewusst. Auf der einen Seite mag das Nebeneinander von Denkmälern der alten Sowjetunion und des neuen Russland widersprüchlich erscheinen. Auf der anderen Seite deutet es auf einen behutsamen Umgang mit der eigenen Geschichte und ihren politischen Symbolen hin. Als Beispiel dafür kann das Lenin-Mausoleum dienen, dessen Schließung zwar immer wieder diskutiert wird, die aber bis heute nicht erfolgt ist; die langen Besucherschlangen vor dem Mausoleum mögen ein Grund dafür sein. Darüber hinaus gibt es gemeinsame historische Erfahrungen, die in der Erinnerung der Menschen tief verankert sind. Dazu gehört der Zweite Weltkrieg, der seitens der Sowjetunion als Großer Vaterländischer Krieg geführt wurde. Das eindrucksvolle Reiterstandbild Georgij Schukows vor dem Moskauer Historischen Museum, auf der Rückseite des Roten Platzes, vermittelt den Eindruck, als sei es nach dem Krieg zu Ehren des siegreichen Marschalls der Roten Armee aufgestellt worden. In Wirklichkeit ist es erst 1995 errichtet worden, in der Amtszeit von Präsident Boris Jelzin.

Das Goethe-Institut Moskau

Das Goethe-Institut unterhält in der Russischen Föderation zwei Filialen, in Moskau und in St. Petersburg. Wie alle Goethe-Institute haben diese die Aufgabe, die Kenntnis der deutschen Sprache im Ausland zu fördern und die internationale kulturelle Zusammenarbeit zu pflegen. Ziel ist es, durch Information über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben ein umfassendes, aktuelles Deutschlandbild zu vermitteln. "Impulse für die Informationsgesellschaft - weltweit" lautet das Motto, unter dem die I&B-Arbeit der Goethe-Institute heute steht. Das Goethe-Institut will mit seinen vielfältigen Angeboten dazu beitragen, diese Informationsgesellschaft demokratischer zu machen.

Im Moskauer Goethe-Institut organisieren rund 90 Mitarbeiter, davon 80 sog. Ortskräfte, das umfangreiche Kulturprogramm, Sprach- und Bibliotheksangebot (http://www.goethe.de/ins/ru/mos/deindex.htm). Mit modernen didaktischen Methoden des Deutschunterrichts werden das Erlernen und die Vermittlung der deutschen Sprache als dem wichtigsten kulturellen Verständigungsmittel und Sympathieträger für Deutschland besonders gefördert. Dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland auch am Goethe-Institut nicht spurlos vorbei gehen kann, versteht sich fast von selbst: Wer derzeit in Moskau einen Sprachkurs besucht, kennt hinterher die deutschen Fachausdrücke der Fußballsprache.

Abbildung 9: Ein Blick in die Bibliothek des Goethe-Instituts Moskau auf dem Campus der ehemaligen DDR-Botschaft.

Ebenso bedeutsam ist die Wissensvermittlung, an der auch die Bibliothek aktiv beteiligt ist. Das Moskauer Institut hat sein Domizil im Gebäude der ehemaligen DDR-Botschaft, in der auch der DAAD ein Büro unterhält und in dessen zweiter Haushälfte die Rechts- und Konsularabteilung der Deutschen Botschaft mit der Visastelle residiert. Da das Gebäude asbestbelastet ist, musste die Institutsbibliothek in einen provisorisch im Park errichteten Behelfsbau umziehen.

In diesem Bibliothekscontainer bietet die Bibliothek eine breite Palette an Büchern, Zeitschriften und Zeitungen aus Deutschland an, Nachschlagewerke und Datenbanken, Hörbücher und Filme. Die rund 12.000 Medieneinheiten sind nach Fachgebieten als Freihandbestand (Abb.9) aufgestellt; der größte Teil davon kann ausgeliehen werden. Dazu ist eine Leserkarte erforderlich, die gegen eine geringe Jahresgebühr (ca. 7 Euro) ausgestellt wird; die Präsenznutzung ist kostenlos. Der Medienbestand kann online recherchiert werden. Die Besucher haben Zugang zu Lexis Nexis, das den Zugriff auf über 30.000 Nachschlagewerke, Artikelsammlungen und andere Informationsquellen erlaubt. Die Bibliothek ist von Dienstag bis Freitag jeweils nachmittags, am Samstag von 10.00 bis 16.00 Uhr geöffnet.

Insgesamt haben die Goethe-Institute weltweit einen Bestand von 600.000 Bänden, die in 93 Bibliotheks- und Informationszentren angeboten und in einem Online-Gesamtkatalog nachgewiesen werden. Der Schwerpunkt liegt im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften (Geschichte, Geographie, Kunst, Literatur, Deutsch als Fremdsprache, deutschsprachige Belletristik).

Mit der Besichtigung des Moskauer Goethe-Instituts sowie einem ausgedehnten Stadtrundgang, der die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der russischen Hauptstadt einschloss, ging die knapp einwöchige Reise zu Ende. Für die nicht alltägliche Gelegenheit, an einem russischen Bibliothekartag teilnehmen zu können, dort referieren und ein Buch vorstellen zu dürfen, möchten die Autoren dem Goethe-Institut Moskau ihren großen Dank aussprechen. Ein ganz herzliches Dankeschön richtet sich an die beiden Institutsmitarbeiterinnen Andrea Bach und Irina Spirowa für die umsichtige Organisation und hervorragende Betreuung, die besonders in einem Land mit Sprachbarriere nicht hoch genug zu veranschlagen ist.


Zu den Autoren

Jürgen Seefeldt

Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz
Büchereistelle Koblenz
Bahnhofstraße 14
D-56068 Koblenz
E-Mail: seefeldt@lbz-rlp.de

Dr. Ludger Syré

Badische Landesbibliothek
Erbprinzenstraße 15
D-76133 Karlsruhe
E-Mail: syre@blb-karlsruhe.de