Jüdischer Buchbesitz als Raubgut: Zweites Hannoversches Symposium


Im Auftrag der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hrsg. von Regine Dehnel
- Frankfurt am Main: Klostermann, 2006. 435 S. (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie: Sonderhefte; 88)
ISBN 3-465-03448-1. 89,00 €

Gershom Scholem hat mit einer Äußerung in einem Brief aus dem Jahr 1947, im vorliegenden Band wiedergegeben am Anfang des Beitrages von Veronica Albrink und Bernd Reifenberg über eine Umfrage unter deutschen Bibliotheken zum Thema "NS-Raubgut" aus dem Jahr 2004 (S. 265), Recht behalten: "Es ist auch möglich, dass sie teilweise in öffentliche deutsche Bibliotheken eingeordnet wurden, und es wird nicht leicht sein, sie dort zu ermitteln … Um herauszufinden, was diese Bibliotheken illegal besitzen, wäre ein Arbeitsaufwand nötig, den kaum jemand auf sich nehmen und bewilligen wird."

58 Jahre später widmet sich eine Konferenz in bisher nicht gekanntem Umfang dem Thema "Jüdischer Buchbesitz als Raubgut". Am 11. und 12. Mai 2005 trafen sich unter Leitung der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz rund 130 Bibliothekare und Historiker aus neun Ländern zu einem zweiten Hannoverschen Symposium, um sich über Fortschritte in der Forschung und praktischen Handhabung der Buch-Restitution auszutauschen. Es war ein Folgetreffen einer gemeinsamen Veranstaltung des Niedersächsischen Landtages und der Niedersächsischen Landesbibliothek zum Thema "Jüdischer Buchbesitz als Beutegut" am 14. November 20021.

Nach Auffassung der Veranstalter sollten Bibliotheks- und Buchhistoriker aus möglichst vielen Ländern ihre Ergebnisse vortragen, "und es sollte dargestellt werden, wie insbesondere in den deutschen Bibliotheken an den Fragen der Bestandserforschung und der Umsetzung des Restitutionsauftrags gearbeitet wurde." (S. 9)

Das Ziel kann nach Ansicht der Veranstalter nur heißen: "Keine deutsche Bibliothek sollte Bücher aus jüdischem Besitz ihr eigen nennen, die unmittelbar oder mittelbar durch Erpressung, durch Raub und durch Mord in ihren Bestand gekommen sind." (S. 10)

Die Autoren der in vier Abteilungen eingeordneten 35 Beiträge berichten akribisch, in aller Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, um späte Gerechtigkeit bemüht, und belegen eindrucksvoll, dass das bisher Geleistete beachtlich ist.

Die Abteilung Der Raub der Bücher in Deutschland und im europäischen Ausland macht deutlich, auf welch existenzielle Weise der Bücherraub in das Leben von Personen und Personengruppen eingegriffen hat. Einführend dazu ist der Beitrag von Werner Schroeder über die Beschlagnahme und den Verbleib jüdischer Bibliotheken vor und nach dem Novemberpogrom 1938 gedacht. Die folgenden Beiträge berichten u.a. über die Bücherverwertungsstelle Wien, die "Stürmer-Bibliothek", die Bibliothek und das Archiv des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin, das Institut zur Erforschung der Judenfrage in Hungen Oberhessen, den Belgrader Verleger Geca Kon sowie die Bibliotheken des deutschen Bibliophilen Hans Fürstenberg und der französischen Journalistin Louise Weiss.

Im Mittelpunkt der Abteilung Jüdische Antworten auf die Zerstörung stehen Beiträge, die vor Beginn des eigentlichen Symposiums am Abend des 9. Mai 2005 im Rahmen der Ausstellung "AUF TRANSPORT! Deutsche Stationen ,sichergestellter' jüdischer und freimaurerischer Bibliotheken aus Frankreich und den Niederlanden (1940-1949)" vorgetragen und bewusst von den Herausgebern in diesen Tagungsband aufgenommen wurden.

Die Abteilung Auf der Suche nach den Büchern enthält Mitteilungen von Erfahrungen und Erkenntnissen aus der aktuellen Suche nach den geraubten Büchern wie zum jüdischen Buchbesitz in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, der Universitätsbibliothek Gießen, der Deutschen Bücherei Leipzig und der Universitätsbibliothek Tübingen.

Die Abteilung Vom Umgang mit den geraubten Büchern heute "widmet sich der Frage, was zu tun ist, wenn die Bücher gefunden, deren Herkunft im Zusammenhang mit den Raubzügen der Nationalsozialisten soweit geklärt ist, dass über eine Rückgabe nachgedacht werden kann." (S. 24) Erfahrungen steuern u.a. die Stadtbibliothek Nürnberg mit der Sammlung der Israelitischen Kultusgemeinde (früher "Stürmer-Bibliothek"), die Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden sowie die Stadtbibliothek Essen bei.

Umrahmt wird diese Sammlung von vier Vorbemerkungen (im Mittelpunkt steht hier Regine Dehnels exzellente Einführung), einer fundierten Auswahlbibliographie (über 275 Titel), Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren sowie einem Personenregister.

Der Tagungsband zeigt auf eindrucksvolle Weise am Beispiel des Verlustes ihrer Büchersammlungen das ungeheuerliche Ausmaß der Verfolgung und Zerstörung, das die jüdische Bevölkerung in Europa zwischen 1933 und 1945 betraf. Einerseits ist es die Sisyphusarbeit, der sich die Bibliothekare unterzogen haben, andererseits wird deutlich, dass wir offensichtlich erst am Anfang stehen.

Mit dieser Publikation, der ersten umfassenden und zum Teil auch zusammenfassenden Darstellung zum jüdischen Buchbesitz als Raubgut, legen die Veranstalter, Herausgeber und Autoren eine ausgezeichnete Grundlage für weitere Diskussionen und Arbeitsvorhaben.

Der Symposiumsbericht ist ein Meilenstein bei der Aufarbeitung der Geschichte des Bibliothekswesens in Deutschland von 1933-19452. Er ist eine unverzichtbare Lektüre für Mitarbeiter in den Bibliotheken, in denen sich illegal jüdischer Buchbesitz befindet oder befinden könnte, für die Aus- und Fortbildung der Bibliothekare3, für Bibliotheken und Bibliotheksverbände im Ausland, damit sie die Anstrengungen der Bibliothekare in deutschen Bibliotheken sehen und beurteilen und vielleicht auch Hilfe geben können, für jüdische Organisationen im In- und Ausland als Beleg für die Aufarbeitung der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus, für Historiker, die sich mit Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigen.

Der Wunsch der Veranstalter nach einem dritten Hannoverschen Symposium 2007 wird vom Rezensenten unterstützt.4


Anschrift des Rezensenten

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier

Ostendorfstraße 50
D-12557 Berlin
E-Mail: dieter.schmidmaier@schmidma.de


1 Jüdischer Buchbesitz als Beutegut. Symposium im Niedersächsischen Landtag am 14. November 2002 / hrsg. vom Präsidenten des Niedersächsischen Landtages. Hannover, 2003. 87 S.

2 Eine wichtige Ergänzung u.a. zu Happel, Hans-Gerd: Das wissenschaftliche Bibliothekswesen im Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Universitätsbibliotheken. München 1989. 190 S. - Koch, Christine: Das Bibliothekswesen im Nationalsozialismus: eine Forschungsstandanalyse. Marburg, 2003. 144 S.

3 Einige Beiträge enthalten auch Hinweise auf wichtige bibliothekshistorische Themen, z.B. zu den in der Zeit des Nationalsozialismus tätigen Bibliothekare wie den Münchener Bibliothekar und Schriftsteller Hermann Gerstner (1903-1993), den Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek Paul Heigl (1887-1945) und den in der Bücherverwertungsstelle tätigen Bibliothekar Albert Paust (1889-1964).

4 Es gibt immer wieder Berichte über neue Funde: Am 18.4.2006 meldete die taz neue Erfolge bei der Aufspürung eines von den Nazis "arisierten" Familienbesitzes in der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, am 16.5.2005 meldete die Lausitzer Rundschau die Rückgabe von Büchern aus der Privatbibliothek des deutschen Rabbiners Leo Baeck, die sich bisher in der Berliner Staatsbibliothek befanden, an dessen Enkelin usf. Am 12.6.2006 fand in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin ein Workshop "Projekte und Ergebnisse bei der Suche nach 'NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut' in Berliner Bibliotheken" statt.