Theoria cum praxi. Laudatio auf Paul Raabe

Verleihung der Karl-Preusker-Medaille durch die Deutsche Literaturkonferenz am 24. Oktober 2006 in der Landesbibliothek Oldenburg

von Georg Ruppelt

Eine Laudatio auf Paul Raabe zu halten, ist ungeheuer schwer. Ich will diese Schwierigkeit mit einer Anekdote umschreiben, für deren Wahrheitsgehalt ich mich verbürgen kann. Es war zu Beginn der achtziger Jahre, also ziemlich genau vor einem Vierteljahrhundert, als ich mit etwa 20 Hamburger Germanistik-Studenten auf Einladung Paul Raabes nach Wolfenbüttel fuhr, um an der Herzog August Bibliothek ein schönes Wochenende lang unsere Seminararbeit intensiv zu betreiben. In dem Arbeitsraum, der uns zur Verfügung gestellt wurde, lagen noch Papiere einer literarischen Gesellschaft aus, die vor uns hier getagt hatte. Die Studenten blätterten darin herum und riefen dann verblüfft aus: "Das ist ja ein Ding! Eine eigene Gesellschaft hat er jetzt auch schon!" Getagt hatte vor uns der Vorstand der Braunschweiger Raabe-Gesellschaft ... Damals war Paul Raabe gerade einmal 54 Jahre alt!

Die Tatsache, dass es sich hier um die Verleihung der Preusker-Medaille handelt, erleichtert mir die Sache etwas. Es geht heute also hauptsächlich um den Bibliothekar Paul Raabe, von dem der Gelehrte, der Kulturpolitiker, der Publizist, der Literaturförderer oder auch der geniale Geldbeschaffer Paul Raabe in Wirklichkeit aber natürlich gar nicht getrennt werden kann.

Der Beruf des Bibliothekars, der auch für mich zu einem der schönsten Berufe überhaupt zählt, hat Paul Raabe in den vergangenen sechs Jahrzehnten geprägt, und er hat ihn selbst mitgeprägt. Vor zehn Jahren bezeichnete ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung als "Deutschlands bekanntesten Bibliothekar", und das dürfte nach wie vor stimmen. Seine Bekanntheit ist begründet durch seinen Ideenreichtum, seine Visionen und deren konsequenter und nimmermüder Umsetzung in die Praxis. Es scheint, als hätte er sich das Lebensmotto seines großen Vorgängers Gottfried Wilhelm Leibniz zu eigen gemacht, der 40 Jahre lang die Fürstliche bzw. Königliche Bibliothek in Hannover und im Nebenamt 26 Jahre die Herzogliche Bibliothek in Wolfenbüttel leitete, das Motto nämlich: "Theoria cum praxi".

Seit 60 Jahren ist Paul Raabe also in und für Bibliotheken aktiv - das dürfte wohl in unserer Zeit einmalig sein! Sein Wirken an verantwortlicher Stelle in Marbach, Wolfenbüttel, Halle und jetzt wieder in Wolfenbüttel hat nicht nur vor Ort zu positiven Veränderungen, ja zum Aufblühen der Institutionen geführt, an denen er tätig war und ist, sondern es hat auch weit darüber hinaus die bibliothekarische wie die kulturelle Gegenwart befruchtet.

Angefangen hat alles hier in Oldenburg, wo Paul Raabe auch am 21. Februar 1927 geboren wurde. In einem Interview, das ich mit ihm vor neun Jahren führen konnte, sagte er: "[...] mein berufliches Vorleben [begann] als Diplombibliothekar in Oldenburg, wo ich seit 1946 zunächst als Praktikant tätig gewesen bin und dort die ersten Erfahrungen im Umgang mit Büchern, vor allem auch mit alten Büchern gewonnen habe. Hier hatte ich auch die erste Berührung mit der Wissenschaft durch meinen ersten Mentor, das war Dr. Fischer, der gerade aus dem Krieg zurückgekommen war - ein hervorragender Bibliothekar und guter Kunsthistoriker. Hinzu kommt dann meine Ausbildungszeit in Hamburg an der dortigen Bibliotheksschule, die Begegnung mit meinem zweiten Mentor, Dr. Kurt Otte, in dessen Kubin-Archiv ich gearbeitet habe und mein erstes Buch über Alfred Kubin habe zusammenstellen können. [...] Das ist die Vorgeschichte, und ich würde deshalb meinen, eine schönere Einführung in das berufliche Leben kann man sich nicht wünschen, zumal ich dann als Diplom-Bibliothekar auch noch die Chance hatte zu studieren, d.h. nebenher zu studieren, da ich immer sechs Stunden arbeiten musste."

1953 heiratete Raabe Mechthild Holthusen, für deren bibliothekarische Ausbildung er an der Landesbibliothek verantwortlich war. Über sie, die er im Juni 2005 verlor, schreibt er in seiner Autobiographie der Wolfenbütteler Jahre 1992: "Meine Frau hat meine Sorgen und Erfolge mit mir geteilt, sie hat sie mit kritischem Verstand und praktischer Unterstützung begleitet. Sie hat mir die Kümmernisse des Alltags abgenommen und alle Unbequemlichkeiten aus dem Weg geräumt. Sie hat ihren bleibenden Anteil an dem Werk, von dem ich erzählt habe."

Nach Jahren als Forschungsassistent an der Hamburger Universität und einer Promotion mit einer Studie zu den Briefen Hölderlins ging Raabe 1958 für zehn Jahre als Bibliothekar an das neu gegründete Deutsche Literaturarchiv am Schiller-National-Museum in Marbach. Gern erzählt er auch heute noch von den Katalog-Verhältnissen, die er dort antraf. Sein Bericht erinnert ein wenig an die berühmte Kleist-Anekdote - die mit den Gespenster-Romanen, Sie wissen schon ...

Das Schiller-National-Museum also hatte einen zweigeteilten Alphabetischen Katalog. Ein Alphabet war den schwäbischen Dichtern vorbehalten, das andere den nicht-schwäbischen. Folgerichtig fand man im zuletzt genannten etwa die Namen von Goethe, Shakespeare, Hemingway oder Dostojewskij ...

Paul Raabe nun machte sich daran, diese Schwaben-zentrierte Einrichtung in eine echte Bibliothek für die Forschung umzugestalten. Daneben war er mit der Konzeption der Ausstellungen im Schiller-Nationalmuseum betraut. Seine Expressionismus-Ausstellung wie die sie begleitenden Bücher wurden legendär und machten den literarischen Expressionismus in Deutschland eigentlich erst wirklich präsent. Man muss Paul Raabe in geselliger Runde auch unbedingt auf seine damaligen Kontakte zu zahlreichen lebenden Schriftstellern ansprechen, besonders aber zu Dichter-Witwen. Das Ergebnis wird lehrreich sein, aber auch Reaktionen auslösen, die vom Schmunzeln bis zu schallendem Gelächter reichen.

In dem schon erwähnten Interview hatte ich ihm die Frage gestellt: "Was halten Sie von der Ansicht, dass Bibliothekare nicht wissenschaftlich arbeiten sollten, um sich ganz dem Management der Bibliothek widmen zu können?" - Seine Antwort ist Programm für ein Berufsprofil oder sollte es doch (wieder) sein: "Ich kann mir den bibliothekarischen Beruf in leitenden Funktionen nicht vorstellen ohne eine wissenschaftliche Betätigung. Denn es ist ja die wissenschaftliche Neugier, die auch nötig ist, wenn man Wissenschaftler, die eine Bibliothek benutzen wollen, anleiten und zu den Büchern hinführen soll. [...] Deshalb habe ich die Bibliothek in Marbach aufgebaut, gleichzeitig auch als Wissenschaftler. [...] Das gehörte für mich zusammen, denn der Bibliothekar soll ja schließlich ein Partner des Wissenschaftlers sein, und dieses kann er nur sein, wenn er auch selbst wissenschaftlich tätig ist." Und er fährt fort:

"Die gleiche Erfahrung habe ich selbstverständlich in Wolfenbüttel gemacht. Ich musste ja in Göttingen habilitieren, da ich nicht die beamtenrechtlichen Voraussetzungen für den Höheren Bibliotheksdienst besaß und über fünf Ausnahmegenehmigungen von Beamten zu einem Beamten gemacht worden bin. Aber auch hier habe ich erlebt, dass der Umgang mit den Wissenschaftlern die Voraussetzung zur Neugestaltung der Bibliothek und zum Ausbau einer Forschungsbibliothek war."

Nun also Wolfenbüttel! Der Reformator der Herzog August Bibliothek betrat 1968 diese berühmte Bühne, die aber merkwürdigerweise lange Jahre mehr für sich selber zu spielen schien als für ihr Publikum. Ein anekdotenhafter, aber verbürgter Vorfall aus den fünfziger Jahre sagt mehr über den Zustand der Bibliothek in den ersten zwei Dritteln des letzten Jahrhunderts aus als jeder Bericht. Eines Mittags kam ein Bote der Bezirksregierung aus Braunschweig an die Pforte der Bibliothek und begehrte Einlass. Sein Begehr war, den Angestellten die Gehälter auszuzahlen. Trotz mehrfachen Klingelns aber blieb das Portal verschlossen, und unverrichteter Dinge musste der Geldbote zurückfahren. Auf seine telefonische Nachfrage am nächsten Tag wurde ihm geantwortet. "Ach, wenn wir gewusst hätten, dass Sie es sind Herr Lange, hätten wir Ihnen natürlich aufgemacht. Wir dachten, es sei ein Benutzer."

Als Paul Raabe die Bibliothek 1992 verließ, waren aus zwei Häusern, die bei seinem Amtsantritt zur Bibliothek gehörten, acht geworden; aus 30 Mitarbeitern über 200. Aus dem Bibliotheksdornröschen und der bibliotheca illustris, so wie sie sein Amtsvorgänger Erhart Kästner als Ideal gesehen hatte, war eine Institution mit Weltrenommee erwachsen; ihre Stellung in der internationalen Gelehrtenwelt wie im regionalen Kulturbetrieb war 1992 gesichert.

In Wolfenbüttel hatte Raabe zunächst den Umbau der Bibliotheca Augusta weiter zu betreiben und er legte Wert darauf, sie zu öffnen. Er sah sich dabei mit der Problematik konfrontiert, dass eine große alte Universalbibliothek wie die Herzog August Bibliothek in einer Stadt mit rund 50.000 Einwohnern kaum den Benutzerkreis finden konnte, der ihr gebührte.

Mit Hilfe der Volkswagenstiftung, einer neu gegründeten Freundesgesellschaft und vor allem des Landes Niedersachsen baute er die Bibliothek seit 1974 gezielt zu einem internationalen Forschungszentrum für die Geistes- und Kulturgeschichte Europas aus.

Daneben und zur Unterstützung des Forschungsprogramms entwickelte Raabe ein Kulturprogramm, das dazu beitrug, dass die Herzog August Bibliothek Akzeptanz als kulturelles Zentrum in der Region und in Niedersachsen bei einer breiten Öffentlichkeit fand.

Paul Raabe wusste, dass es in einer Position wie dem Wolfenbütteler Direktoriat nicht genügt, sich nur mit geistigen Konstrukten zu beschäftigen, losgelöst von jeglicher Praxis; er wusste, dass die geisteswissenschaftliche Forschung Grundlagen braucht. Und so waren es denn seine Katalogprojekte - zunächst noch in konventioneller Form mit Zetteln, ich erinnere besonders an die Titelblattkopien -, die auf verschiedene Weise die alten Bestände vor allem inhaltlich erschlossen. Ich erinnere auch an die großen Ausstellungen, deren Kataloge selbst wiederum Erschließungsmittel für die Bibliothek waren, vom wissenschaftlichen Gewinn und dem ästhetischen Genuss einmal ganz abgesehen.

Als Direktor einer alten Bibliothek hatte Paul Raabe sehr früh einen Sinn für die neuen Medien, die neue Technik, die in Gestalt der Computer schon Mitte der 80er Jahre Einzug in die Herzog August Bibliothek hielt. Gemeinsam mit seinem Stellvertreter gelang es ihm Anfang der 90er Jahre, das damals fortschrittlichste EDV-Programm für Bibliotheksverbünde zunächst nach Wolfenbüttel und später nach ganz Niedersachsen zu holen. Von dort aus migrierte es in sieben Bundesländer. Heute wissen nur noch wenige, dass der Siegeszug des niederländischen PICA-Systems in Deutschland von Wolfenbüttel ausging.

Unter Raabes Leitung erlebte die Herzog August Bibliothek eine Zeit der Blüte, die nicht auf die Bibliothek allein beschränkt blieb. Das von Raabe verwirklichte Konzept wurde Vorbild für viele andere Einrichtungen. So entstanden nach Wolfenbütteler Muster etwa in Augsburg, in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, in Göttingen, Eutin, Emden, Hildesheim, in Weimar und natürlich auch in Halle Institutionen, die als Forschungsbibliothek einen hohen Anspruch zu verwirklichen suchen.

1992 wurde die offizielle Pensionierung Raabes kräftig gefeiert. Das Wort vom Unruhestand ist heute in inflationärem Gebrauch; auf Raabe traf es zu, denn er machte sich nun mit ganzer Kraft daran, die Wiedergeburt der Franckeschen Stiftungen in Halle zu befördern, die er bereits seit einigen Jahren eingeleitet hatte. Hier stand das Wolfenbütteler Modell Pate, denn u. a. war es natürlich auch eine Bibliothek, die in den Stiftungen in jeder Hinsicht zu erneuern oder ganz neu einzurichten war. Nie ist mir die Bedeutung des Satzes aus Schillers Tell "Und neues Leben blüht aus den Ruinen" evidenter gewesen als bei einem wiederholten Besuch in Halle vor einigen Jahren.

Als Berater großer Bibliotheksprojekte blieb Raabe aber auch nach seinem Abschied aus Halle im Jahr 2000 bibliothekspolitisch aktiv. Immer auch galt seine besondere Sympathie den Öffentlichen Bibliotheken, von denen nach seiner Meinung auch wissenschaftliche Bibliotheken eine Menge lernen könnten. In dem schon mehrfach zitierten Interview von 1997 äußerte er sich vor dem Hintergrund der damals aktuellen Abwicklung des Deutschen Bibliotheksinstituts über Öffentliche Bibliotheken folgendermaßen: "Ich bin der Überzeugung, dass gerade auch die Öffentlichen Bibliotheken in der heutigen Informationsgesellschaft eine ganz entscheidende Rolle spielen in der Vermittlung von Wissen und Kenntnissen und auch zur Unterhaltung. Das Lesen als eine lebenslange Aufgabe zu verstehen, Lesen zu fördern, das kann man am besten in einer Öffentlichen Bibliothek, von der Kinderbibliothek an, tun. Bibliotheken dieser Art sollten auch die Heimstätte der Pensionäre sein und der Aufenthalt für diejenigen, die leider in unserer Gesellschaft keine Arbeit haben. Hier sind große soziale bibliothekarische Aufgaben zu erfüllen."

Natürlich war dies kein Lippenbekenntnis, wie sich seit 2001 in seinem Heimatort Wolfenbüttel zeigen sollte. Mit zäher Geduld und nimmermüder Überzeugungskraft gelang es Paul Raabe, den historisch wertvollen, aber gänzlich heruntergekommenen Bahnhof mit Hilfe von ihm ins Leben gerufener Kulturgremien in einen von einem privaten Investor finanzierten Kulturbahnhof umzuwidmen. In diesen aber zog vor wenigen Tagen die Stadtbücherei ein. Allein für diese Leistung hätte Paul Raabe die heute verliehene Preusker-Medaille verdient.

Das Phänomen Paul Raabe besteht für mich in einer seltenen Einheit von Gedanke und Tat, Theorie und Praxis, Reflexion und praktizierter Humanität. So wie Paul Raabe die angeblichen Gegensätze zwischen Wissenschaftler und Bibliothekar in sich vereinen konnte, so hat er in Wolfenbüttel, Marbach und Halle bewahrend und revolutionär zugleich gewirkt.

Paul Raabe hat viele Ehrungen für sein Lebenswerk erhalten, und das sehr zu Recht.

Mir will aber scheinen, dass die Ehrung durch die Preusker-Medaille seinem Wesen und seinen Ursprüngen ganz besonders nahe kommt.


Zum Autor

Dr. Georg Ruppelt ist Direktor der

Leibniz Bibliothek
Niedersächsische Landesbibliothek
Waterloostraße 8
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E-Mail: georg.ruppelt@gwlb.de