Webometrie und der röhrende Hirsch
Bericht von der neunten internationalen Konferenz
"On Science and Technology Indicators" in Leuven, Belgien
Die Vermessung von Wissenschaft und die Evaluation von Institutionen und Personen beginnt seit einigen Jahren zu einer Konstante im Management von Wissenschaftseinrichtungen zu werden. Das reicht von der wissenschaftlich-strategischen Gesamtplanung über die Akquise von Forschungsgeldern bis zur Personalplanung, etwa bei Berufungen von Wissenschaftlern. Ein wichtiges Instrument für die Quantifizierung von Wissenschaftsleistungen ist die Bibliometrie. Gerade erst beginnt sich die Wissenschaftscommunity mit diesem Thema ernsthaft auseinander zusetzen, während sich Bibliometriker nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten mit dem Thema der Outputmessung von Wissenschaft befassen. Eine ganz spezielle Konferenz, die im zweijährigen Rhythmus stattfindet, ist die "INTERNATIONAL CONFERENCE ON SCIENCE AND TECHNOLOGY INDICATORS", die von einer Gruppe um die führenden Bibliometriker Wolfgang Glänzel (Katholische Universität Leuven, Belgien) und Anthony van Raan (Centre for Science and Technology Studies (CWTS) an der Universität Leiden, Niederlande) veranstaltet wird. Im internationalen Wechsel der Veranstaltungsorte fand die neunte "INTERNATIONAL CONFERENCE ON SCIENCE AND TECHNOLOGY INDICATORS" mit dem Konferenztitel "New Challenges in Quantitative Science and Technology Research" in diesem Jahr vom 7.-9. September in Leuven statt.
Rund 200 Teilnehmer aus der ganzen Welt bekamen ein spannendes Programm mit nahezu 50 Fachvorträgen und fast ebenso vielen Postern geboten. Hauptthemen der Bibliometriker waren in diesem Jahr die technischen Grundlagen und Möglichkeiten für bíbliometrische Analysen, mathematische Modelle zur Beschreibung von Indikatoren, Länder- und thematische Analysen, sowie die Integration neuer, auf der Basis der Webometrie erhobener Methoden zur Messung von wissenschaftlicher Qualität.
Im Eröffnungsvortrag von Glänzel, Debackere und Meyer1 wurde die Bedeutung der bislang unangefochtenen zur Weltspitze der Forschung zählenden "Triade" zur Diskussion gestellt und die Frage aufgeworfen, ob man nicht künftig von der "Tetrade" sprechen müsse. Bislang nämlich gelten als forschungsintensivste Länder und Regionen die USA, Europa und Japan. Im Wissenschafts- und Forschungsoutput waren diese drei Regionen im weiten Abstand zu den Nachfolgern bislang unangefochten an der Weltspitze. Nahezu unbemerkt schob sich in den vergangenen zwei Jahren China auf einen "stabilen" Platz hinter den drei Spitzenregionen und hat dabei den Abstand kontinuierlich verringert. Nicht nur in den Ausgaben für Forschung und Entwicklung hat China massiv aufgeholt, sondern auch im wissenschaftlichen Output. Im "Konzert" der großen Wissenschaftsregionen kann diese Macht nicht mehr länger ignoriert werden und muss in das künftige Spitzenranking der Wissenschaftswelt einbezogen werden; aus dem Spitzentrio ist ein Spitzenquartett geworden.
In einer von zwei thematischen Sondersessions wurde das Thema "Webometrics for science and technology indicators" diskutiert. Webometrie (so die wenig gelungene deutsche Übertragung) ist ein wichtiges Thema für die Wissenschaftsevaluation, seit relevante wissenschaftliche Veröffentlichungen im Netz zur Verfügung stehen und webometrisch erfasst werden können. So hat man mit der Webometrie die Möglichkeit, Nutzung und Relevanz von Netzpublikationen abzuschätzen und damit die traditionellen Indikatoren wie Zitierhäufigkeit und Zitierrate um Indikatoren aus dem Netz zu ergänzen. Eine internationale Studie von Ortega et al.2 etwa nutzt das WEB zur Analyse der internationalen Kooperation von Universitäten und Forschungseinrichtungen auf der Basis der gegenseitigen Verlinkung. Die Schlüsse, die aus einer solchen (visualisierten) Vernetzungskarte gezogen werden, basieren auf der Annahme, dass Verlinkungen zwischen Einrichtungen nur geschaltet werden, wenn wissenschaftliche Kooperationen bestehen. Konkret wurden anhand der Inlinks (das sind jene (fremden) Links, die eine Einrichtung auf die eigene Webpage setzt) untersucht, wie eng wissenschaftliche Einrichtungen in Europa zusammenarbeiten. Tatsächlich zeigen die Ergebnisse Cluster von Kooperationszentren, die sich alleine aus der Häufigkeit der Inlinks ergeben. Eine Erweiterung dieser Aussage könnte etwa durch die Ergänzung mit bibliometrischen Daten von kooperierenden Einrichtungen versucht werden.
Eine weitere Sondersession widmete sich ausschließlich dem Thema "Hirsch-Faktor" (siehe auch den Beitrag zum Hirsch-Faktor in diesem Heft), der bereits in aller Munde geführt wird. Dabei rankten sich die Vorträge um Fragen wie Gültigkeit des Hirsch-Faktors in unterschiedlichen Disziplinen, Übertragbarkeit dieses genuin auf Einzelpersonen zugeschnittenen Indikators auf Personengruppen oder Institutionen und gar der Etablierung eines "neuen" Hirsch-Faktors, des G-Faktors durch den Mathematiker Leo Egghe3.
Insgesamt zeigte die Konferenz in Leuven, dass die Bibliometriker das Feld der Science Indicators deutlich breiter fassen, seit Methoden der Webmessung einen neuen und erweiterten Zugang zur Analyse des wissenschaftlichen Outputs ermöglichen. Weitere neue Felder sind die Visualisierung von Kooperationen und die Erstellung von Skill- und Competencemaps auf der Basis bibliometrischer Messungen. Wir dürfen gespannt sein, wie die Bibliometriker das Spannungsfeld zwischen hochkomplexen Indikatoren und einfach zu er- und vermittelnden Parametern besetzen werden. Dass sie es besetzen wollen, daran haben sie auf dieser hervorragend organisierten Konferenz keinen Zweifel gelassen.
Interview mit Professor Dr. Wolfgang Glänzel, Katholische Universität Leuven
Zunächst möchte ich gerne darauf hinweisen, dass die Konferenzen über Science and Technology Indicators vom CWTS in Leiden (Niederlande) unter Leitung von Professor Anthony van Raan ins Leben gerufen wurde. Was 1988 als Workshop begann, hat sich schnell zu einer der bedeutendsten Konferenzreihen auf dem Gebiet der Bibliometrie und Technometrie entwickelt. Auch die Praxis, dass die Konferenzen abwechselnd in Leiden und in anderen Orten Europas ausgetragen werden, hat sich als erfolgreich erwiesen. Dieses Jahr konnten wir nun die Veranstaltung organisieren. Eigentlich ist das auf den Lorbeeren des CWTS und unserer Vorgänger geschehen. Darum ist es auch kein Wunder, dass die Resonanz auf den Call for Papers sehr gut war. Wir sind sowohl mit der Resonanz als auch mit der Zahl der Teilnehmer und Beiträge sehr zufrieden. Alles entsprach genau unseren Vorstellungen. Wir hatten die Tagung für etwa 150 Teilnehmer und höchstens 100 Beiträge geplant. Mit rund 150 Teilnehmern, 61 Vorträgen und 32 Postern haben wir diesen Rahmen tatsächlich ausgeschöpft. Auch das Niveau der Konferenz entsprach unseren Erwartungen.
Die drei "Special sessions" widerspiegeln vielleicht am besten die Präsenz solcher "hot topics". "Science-Technology linkage" ist sicherlich eines der gegenwärtig wichtigen Themen, auch die wachsende Rolle der E-Medien und der elektronischen Kommunikation hat Auswirkungen auf die Bibliometrie: "Webometrics für Wissenschafts- und Technikindikatoren" war das zweite Schwerpunktthema. Ein absolutes Novum war die Organisation einer theoretischen Sitzung über statistische Eigenschaften bibliometrischer Indikatoren durch Professor van Raan. Diese Sitzung zeigt den zunehmenden Bedarf an einem soliden theoretischen Fundament in der Bibliometrie. Das wird wahrscheinlich auch in den folgenden Konferenzen so bleiben; die gegenwärtige intensive Beschäftigung mit dem h-index nach J. E. Hirsch ist meines Erachtens eher eine temporäre Erscheinung.
Darüber hinaus standen selbstverständlich auch aktuelle Themen wie z.B. die sich verändernde globale Situation, die Herausforderungen der Europäischen Integration, die bibliometrischen Analysen von "emerging fields" oder methodische Themen wie die Nutzung qualitativer und quantitativer Methoden in der Evaluation, die Ausweitung der Bibliometrie auf Sozial- und Geisteswissenschaften auf dem Programm.
Das glaube ich eigentlich nicht. Es wäre schlechthin unmöglich, allen Ansprüchen eines sehr breiten Publikums gerecht zu werden. Eine wissenschaftliche Konferenz sollte in erster Linie der Kommunikation innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft dienen. Darauf ist auch das strenge Gutachtersystem für die Konferenzbeiträge und Proceedings ausgerichtet, was letztlich das hohe Niveau und die Innovatitivität der Beiträge garantiert.
Ich kann mir aber vorstellen, dass es in Zukunft Satellitveranstaltungen geben wird, die mit Beiträgen von Bibliometrikern/Technometrikern und Nutzern die Kommunikation anspornen und verbessern könnten. Ob die Entwicklung in diese Richtung gehen wird, bleibt allerdings den Organisatoren der Konferenzserie anheim gestellt.
Welches Publikum angesprochen werden kann, ist bereits aus den "Call for Papers" dieser und der vorangehenden Konferenzen ersichtlich. Neben Forschern auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Technikindikatoren waren u. a. auch Informationswissenschaftler, Wissenschaftspolitiker, R&D Manager, Fachjournalisten und Herausgeber und Redakteure von wissenschaftlichen Zeitschriften angesprochen. Vor allem Vertreter von Wissenschaftspolitik und R&D Management aus Belgien und der benachbarten Länder sind bei dieser Konferenz bereits dieser Einladung gefolgt.
Der Spagat zwischen Theorie/Methodik und dem Wunsch nach "einfachen", will sagen, leicht fasslichen und robusten Indikatoren ist gegenwärtig eines der schwierigsten Herausforderungen in der Bibliometrie.
Es geht bei der Forschung nicht so sehr um eine Mathematisierung in der Methodik; Bibliometrie ist ein wirklich interdisziplinäres Gebiet. Gegenwärtig sind zum Beispiel neben den Methoden und Herangehensweisen aus der Physik und der Wissenschaftssoziologie auch Einflüsse aus den Wirtschaftswissenschaften wahrnehmbar. Auf ein gewisses Auseinanderklaffen zwischen den wissenschaftlichen Ansprüchen in der Forschung und den Anforderungen an die "Dienstleistungen" haben wir bereits in unseren Diskussionsbeitrag "Little Scientometrics, Big Scientometrics - and beyond?" (mit U. Schoepflin) im Jahre 1994 hingewiesen. Die Folgen des "Perspektivwechsels" in der Bibliometrie und die zunehmende Anwendung in Wissenschaftspolitik und Forschungsmanagement können über Rückwirkungen auf das Forschungs- und Kommunikationsverhalten der Wissenschaftler letztendlich auch dem Image unseres Fachgebiets und dem Gebiet selbst Schaden zufügen. Die Bibliometriker müssen versuchen sowohl dem wissenschaftlichen Anspruch als auch den Wünschen der Anwender gerecht zu werden, ohne sich dabei von einer Seite vereinnahmen zu lassen. Im Lichte der gegenwärtigen Situation der Forschungsfinanzierung ist das sicher keine leichte Aufgabe.
Die Datenbanken von Thomson Scientific (ehem. Thomson ISI) gelten trotz mancher Kritik als Standarddatenquellen für bibliometrische Studien. Man sollte nicht vergessen, dass es sich bei diesen Produkten ebenso wie bei den Konkurenzprodukten um bibliographische, nicht um bibliometrische Datenbanken handelt und dass die Bibliometrie nur einen kleinen, wenn auch nicht unerheblichen Teil der Nutzung ausmacht. Deshalb wird der Einfluss der bibliometrischen Nutzung auch relativ begrenzt bleiben.
Ich erwarte neben einer gewissen Konvergenz (wesentliche Funktionen müssen einfach bei allen Produkten verfügbar sein) auch ein eigenes Profil, das das jeweilige Produkt für bestimmte Zielgruppen attraktiv macht. Die Bibliometriker könnten durchaus eine solche Zielgruppe sein ...
Die unterschiedliche Zeitschriftendeckung verschiedener Produkte (z.B. Web of Science und Scopus) stellt natürlich die Vergleichbarkeit der Ergebnisse in Frage. Nur die genaue Dokumentation und Beschreibung der Quellen und Methoden kann hierbei für Ordnung sorgen (s.a. Proceeding des Workshops über "Bibliometric Standards" in River Forest, Illinois, USA, 1995, veröffentlicht in Scientometrics, 35 (2), 1996). Dennoch ist nicht auszuschließen, dass ein Nutzer bewusst die Datenquelle wählen wird, deren Ergebnisse den eigenen Intentionen am ehesten entgegen kommt. Aber auch Kosten und Verfügbarkeit werden bei der Wahl der Datenbanken eine Rolle spielen. Ich erwarte sicherlich einige Diskussionen in der Zukunft. Zunächst ist es aber an den Bibliometrikern, Fachgebietsabdeckung, Vergleichbarkeit, Möglichkeiten und Beschränkungen, Vor- und Nachteile der einzelnen Produkte näher zu untersuchen.
Wolfgang Glänzel ist Professor für Ökonomie, Strategie und Innovation an der Katholischen Universität Leuven, Belgien. Gleichzeitig ist er Senior Researcher am Steunpunt O&O Statistieken (SOOS) , einer Einrichtung der flämischen Regierung für die Errichtung eines konsistenten Indikatorsystems für die Wissenschaften in Belgien. Er ist diplomierter Mathematiker an der Eötvös Loránd Universität in Budapest und hat seinen Ph.D. in Sozialwissenschaften an der Universität Leiden (NL) gemacht. Sein Lehr- und Forschungsschwerpunkt ist Bibliometrie in all ihren Formen. Weitere Informationen sind auf der persönlichen Homepage von Wolfgang Glänzel zu finden: http://www.steunpuntoos.be/wg/index.html |
Zum Autor
Dr. Rafael Ball ist Leiter der
Zentralbibliothek des Forschungszentrums Jülich GmbH
D-52425 Jülich
E-Mail: r.ball@fz-juelich.de
Anmerkungen
1. Glänzel, W., Debackere, K., Meyer, M.: Triad or Tetrad? On global changes in a dynamic world. In: 9th International Conference on Science and Technology Indicators, 7.-9. September 2006, Leuven, Belgium, Book of abstracts, S. 59-61
2. Ortega, J.L., Aguillo, I., Cothey, V., Scharnhorst, A.: Maps of the academic web in the European research Area: An exploration of visual web indicators. In: 9th International Conference on Science and Technology Indicators, 7.-9. September 2006, Leuven, Belgium, Book of abstracts, S. 107-110
3. Egghe,
L.: Theory, practise and improvements of the h-index: In: 9th
International Conference on Science and Technology Indicators, 7.-9.
September 2006, Leuven, Belgium, Book of abstracts, S.52-54