Zum Thema Lesen


Walther, Klaus: Was soll man lesen? Ein Leseverführer
- Leipzig: Faber & Faber, 2005. 218 S.
ISBN 3-93661867-4. Euro 18,00

Weidermann, Volker: Lichtjahre:
eine kurze Geschichte der Deutschen Literatur von 1945 bis heute. 4. Aufl.

- Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2006. 321 S.
ISBN 3-462-03693-9. Euro 19,90

Eco, Umberto: Die Bücher und das Paradies: über Literatur
- München: Deutscher Taschenbuch Verl., 2006. 347 S.
ISBN 3-423-34276-5. Euro 12,00

Manguel, Alberto: Tagebuch eines Lesers
- Frankfurt am Main: S. Fischer Verl., 2005. 231 S.
ISBN 3-10-048751-6. Euro 17,90

Hahn, Ulla: Dichter in der Welt. Mein Schreiben und Lesen
- München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2006. 218 S.
ISBN 3-421-05951-9. Euro 19,90

Anleitungen zum Lesen und autobiographische Notizen zum Umgang mit Literatur und Büchern gehören zum elementaren Handwerkszeug des Bibliothekars. Die fünf hier zu besprechenden Bücher, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Lesen auseinandersetzen, können dem Bibliothekar wärmstens empfohlen werden.

Klaus Walther: Was soll man lesen?1 ist ein wunderbarer Lese-Verführer (das ist die Schreibweise auf dem Schutzumschlag, und die ist angenehmer als der Leseverführer auf dem Titelblatt). Der Autor ist Verlagsberater, Autor, Herausgeber, Literaturkritiker und ein großer Büchersammler. Seine Erfahrung als Leseverführer ist unbestritten. Mit seinem Buch knüpft er an die Ratgeber für das Bücherlesen der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts an, etwa Klabunds "Literaturgeschichte in einer Stunde" (1922) oder Hermann Hesses heute noch gern zur Hand genommenes Vademekum "Eine Bibliothek der Weltliteratur" (1929). Belehren will er nicht: "Was soll man denn nun wirklich lesen? Und ich müsste ehrlicherweise antworten: Ich weiß es nicht. Doch es gibt Erfahrungen, eigene und andere, und da bin ich mir mit vielen Lesern einig: Der große Fundus der Weltliteratur ist in seinen meisten Teilen lesenswert. … Ich mache keine Vorschriften, was man lesen muss, ich biete keinen Kanon. Alles ist nur ein Beispiel, ein Gleichnis, das mein Leserleben betroffen hat und noch immer betrifft, die Bewunderung." (S. 11-12) Das Buch liest sich wie ein Roman, locker und flüssig geschrieben, gespickt mit vielen Hinweisen. Die 15 Kapitel sind ein Gang durch Jahrhunderte, Kulturen und einzelne Genres. Der Rezensent kann nur einen Tipp geben: Bitte selbst lesen und sich verführen lassen!

Volker Weidermanns Lichtjahre ist auch ein Lese-Verführer, wenn auch als Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute tituliert. Die Rezensionen zu den ersten Auflagen waren z.T. verheerend. Die Kritiker warfen dem Autor Überheblichkeit, fragwürdige Gewichtungen, weitgehende Ignorierungen der Texte der behandelten Autoren und Populismus vor. Dem kann der Rezensent nicht zustimmen. Auf der Suche nach einer anderen Stimme fand er auf der Rückseite des Buchdeckels zur vierten Auflage eine Einschätzung von Marcel Reich-Ranicki: "Das ist ein erfreuliches und erstaunliches Buch, mit Tempo und Temperament und doch gründlich und solide. Seine Qualität verdankt er einer Fülle von Informationen und klaren, entschiedenen Urteilen, seine Originalität einer Fülle von Pointen und Anekdoten. Es ist belehrend und amüsant zugleich."

Weidermanns Lichtjahre umfassen eine besonders interessante Epoche der deutschen Literatur, so "ist ein Buch entstanden, das die Geschichte der letzten sechzig Jahre der deutschsprachigen Literatur in vielen einzelnen Porträts beschreibt, in Lebens- und Werkporträts, die hoffentlich am Ende ein zusammenhängendes Bild ergeben." (S. 10)

Das Buch beginnt mit Kapiteln über den Beginn der deutschen Nachkriegsliteratur (unter der Überschrift "Wo waren sie am 8. Mai?"), die in Amerika Verbliebenen (Werfel, Feuchtwanger, Graf, Broch), die West-Heimkehrer (Polgar, Remarque, Döblin, Zuckmayer), die "traurige Geschichte der drei Manns" und den "Schriftstellerstaat (Becher, Fallada, Arnold Zweig, Seghers, Brecht). Es endet in der Gegenwart mit einem Kapitel "Hass und Tanz und Wirklichkeit und Liebe" mit Bemerkungen zu Goetz, Biller, Meinecke, von Stuckrad-Barre, Lentz, Zaimoglu, Schwab und Kracht. Auch hier kann der Rezensent nur einen Tipp geben: Bitte selbst lesen und sich verführen lassen!

Umberto Eco: Die Bücher und das Paradies2 enthält eine Sammlung von 17 Gelegenheitsschriften aus 15 Jahren, die sich mit Literatur, Lektüre und Lesen beschäftigen: Vorträge auf Konferenzen oder zu Jubiläen und Einführungen in Werkausgaben. Der Autor hat die Texte überarbeitet, manchmal gekürzt, gelegentlich erweitert und von situationsgebundenen Bezugnahmen bereinigt. Er beschäftigt sich u.a. mit einigen Funktionen der Literatur (insbesondere der immateriellen Macht der literarischen Überlieferung), der Definition des Begriffes Aphorismus, dem Stil, dem Symbol, den Charakteristika des sogenannten postmodernen Erzählens, Dantes "Divina Commedia" und Aristoteles` "Poetik". Entdeckungen sind vorprogrammiert wie

Ecos Fazit: Ohne Bücher ist kein Paradies, "und ich betrachte eine Bibliothek nicht nur als einen Ort zum Aufbewahren schon gelesener Bücher, sondern vor allem als ein Magazin für Bücher, die man eines Tages lesen will, wenn einem danach ist." (S. 141)

Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers wurde anlässlich seines Umzugs in ein Landhaus in Frankreich geschrieben. Der Essayist, Übersetzer und Lektor Manguel, der auf mehreren Kontinenten und in mehreren Sprachen zu Hause ist und als glühender Verehrer seines Landsmanns Jorge Luis Borges gilt (als Junge las er dem fast erblindeten Borges zwei Jahre lang Tag für Tag vor) hat ein Jahr lang jeden Monat - Juni 2002 bis Mai 2003 - eines seiner Lieblingsbücher wiedergelesen. Das Ergebnis ist ein wunderbares, eigenwilliges und einmaliges Büchlein. Es enthält keinen Kanon, keine Inhaltsangaben der betreffenden Bücher, sondern Manguel verbindet das Wiederlesen mit den täglichen Ereignissen, es wird so zu einem Handbuch zur Handhabung von Büchern und zur Verbindung mit gesellschaftlichem und politischem Zeitgeschehen - mit einem Leben unter den Bedingungen der Folgen des Attentats vom 11. September 2001 und der Vorbereitung auf einen Krieg im Irak (für den Rezensenten am interessantesten sind die Gedanken zum Terrorismus S. 72-78), mit vielen wunderbaren Aphorismen (S. 8: "Lesen ist eine bequeme, einsame, langsame und sinnliche Beschäftigung." S. 119: "Lesen ist oft ein doppelter Austausch von Bedeutungen zwischen unserem Wortschatz und dem Wortschatz des Buches. Lesen ist auch Gespräch. Im Türkischen bedeutet das Wort muhabbet sowohl >Gespräch< als auch >Liebe<."), mit der Aufstellung von Listen des "Listenfetischisten" Manguel (wie Listen der Lieblingskrimis, der Zettel, die beim Abstauben aus den Büchern gefallen sind sowie der Orte, die man nicht erreichen kann). Da treten die 12 wiedergelesenen Bücher wie "Kim" von Rudyard Kipling, "Erinnerungen vom jenseits des Grabens" von François-René de Chateaubriand, das extra für die deutsche Ausgabe geschriebene Kapitel über "Peter Schlemihls wundersame Geschichte" von Adelbert von Chamisso und "Don Quijote" von Miguel de Cervantes fast in den Hintergrund, sie bilden einen wunderbaren Rahmen und erweisen sich nicht als Wiedergelesenes, sondern als ein neues Lesen unter anderen gesellschaftlichen und familiären Bedingungen. Das Tagebuch erinnert in Ansätzen an die großartige, in viele Sprachen übersetzte "Geschichte des Lesens"5.

Ulla Hahn: Dichter in der Welt mit dem Untertitel Mein Schreiben und Lesen versammelt Essays, Reden und Kritiken der bedeutenden deutschen Schriftstellerin und Lyrikerin, die in einem Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren entstanden sind. Der Leser erhält in den 39 hier abgedruckten Beiträgen, deren Originalquellen leider nicht genannt werden, erstmals zusammenfassend einen Einblick in die "Schreibstube" der Autorin. "Es sind zum einen Überlegungen zum eigenen Verständnis des Handwerks … Warum schreiben sie? Und: Warum so und nicht anders? Wie halten Sie es mit der Tradition? Und überhaupt: Lesen? Und dazu noch Gedicht? Warum das denn?" (S. 11) Zu diesen allgemeinen Betrachtungen gehören die beiden großartigen Heidelberger Poetikvorlesungen "Vom Vergnügen und der Verantwortung beim Schreiben und Lesen von Gedichten" sowie "Zur Entwicklung meines Schreibens" und Bemerkungen zum Umgang mit der literarischen Tradition. "Ein weiterer Schwerpunkt meiner Auswahl liegt auf der Annäherung an Kolleginnen und Kollegen." (S. 11) Die gesunde Mischung von Sachlichem und Persönlichem macht uns u.a. näher mit dem Leben und Werk von Bertolt Brecht, Hilde Domin, Annette von Droste-Hülshoff, Ricarda Huch, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Guiseppe Ungaretti und Marina Zwetajewa bekannt. Ein Dank der Autorin für die Zusammenstellung und dem Verlag für ein ansprechend ausgestaltetes Buch. Zu den Lesern sollten neben Literaturwissenschaftlern, Freunden der Literatur und Bibliothekaren auch Deutschlehrer gehören.


Anmerkungen

1 Ein Jahr zuvor erschien von Klaus Walther: Bücher sammeln. München, 2004. 128 S. (dtv Kleine Philosophie der Passionen)

2 Der Titel erschien 2003 bei Hanser als gebundene Ausgabe.

3 Eco, Umberto: Die Bibliothek. München, Wien, 1987. 39 S. - Erstmals erschienen 1983, auf einem Vortrag aus dem Jahr 1981 fußend.

4 Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel. In: Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel. Erzählungen. Stuttgart, 1986. S. 47-57. (RUB; 9497) - Erstmals erschienen 1941. Borges war von 1955-1973 Direktor der argentinischen Nationalbibliothek in Buenos Aires.

5 Manguel, Alberto: Eine Geschichte des Lesens. Berlin, 1998. 428 S.


Anschrift des Rezensenten

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier

Ostendorfstraße 50
D-12557 Berlin
E-Mail: dieter.schmidmaier@schmidma.de