Plassmann, Engelbert; Rösch, Hermann; Seefeldt, Jürgen; Umlauf, Konrad: Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland: eine Einführung


- Wiesbaden: Harrassowitz Verl., 2006. X, 333 S.
ISBN 3-447-05230-9 Euro 39.80

Der Rezensent versucht in gebotener Kürze auf eine mit Informationen prall gefüllte, sehr kompakte und nicht immer leicht zu lesende Einführung zum Thema "Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland" hinzuweisen.

Die Autoren gehen davon aus, dass professionelles Informationsmanagement in der Informationsgesellschaft immer wichtiger wird, und sie wollen beweisen, dass sich Bibliotheken und bibliothekarische Techniken und Arbeitsweisen genau dafür eignen, vorausgesetzt, die dafür benötigten Innovationen werden weitergeführt und konsequent praktiziert. Also beschreiben sie die mögliche Rolle der Bibliotheken in der Informationsgesellschaft interdisziplinär. Das unterscheidet sich wohltuend von dem noch vor einem Dezennium vorherrschenden engen institutionenbezogenen Ansatz der Behandlung bibliotheksspezifischer Aspekte. Neben originär bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Bestandteilen sind die einzelnen Kapitel durch Anleihen aus anderen Disziplinen wie der Informatik, Soziologie, Betriebswirtschaft und Geschichtswissenschaft geprägt.

Die Autoren weisen eingangs darauf hin, dass es nicht ohne Risiko ist, in Phasen beschleunigten Umbruchs und Wandels ein Werk vorzulegen, das Aussagen von längerfristiger Gültigkeit zu treffen beansprucht. "Erfolgreich kann ein solcher Versuch nur dann sein, wenn die Vermittlung instrumentellen Könnens nicht im Vordergrund steht." (S. 1). Wer instrumentelle Anleitungen und Übersichten zum heutigen Stand erwartet, für den ist diese Veröffentlichung eine Fehlinvestition.

Die Autoren zeigen, dass die Bibliotheks- und Informationswissenschaft einerseits ein Eigengewicht besitzt, andererseits aber auch eine Querschnittswissenschaft im Gefüge der Geisteswissenschaften ist. "Die Erweiterung der Betrachtung um historische und soziologische Kontexte stellt unter Beweis, dass Bibliotheken und das Bibliothekssystem über erhebliches Veränderungspotential verfügen, welches ihnen auch in der Informationsgesellschaft nicht nur das Überleben sichern, sondern darüber hinaus eine noch gewichtigere Rolle als in der Vergangenheit verschaffen kann." (S. 3) Das wird für die meisten Leser nicht gewöhnungsbedürftig sein, weil es dem Duktus der Wissenschaftswissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts entspricht. Und so klingen die nachfolgenden Sätze am Schluss der ausgezeichneten Einleitung ermutigend: "Die Absicht der Verfasser ist es, mit diesem Werk neue Wege zu gehen und neue Wege aufzuzeigen. Schon der Plural "Wege" deutet darauf hin, dass es sich dabei weder um eine Einbahnstraße handelt, noch um eine feststehende Route." (S. 5) Die Autoren halten das gegebene Versprechen erfreulicherweise ein.

Übrigens ist das Lesen der Einleitung ein Muss, und zwar bevor der Leser in die Materie einsteigt, weil in ihr wichtige Hinweise über die Vorgehensweise der Autoren und den Inhalt des Buches gegeben werden.

Die Autoren beschreiben unter acht Aspekten Entwicklung, Stand und Perspektiven des Bibliothekswesens und verzahnen dabei aufs engste Theorie und Praxis entsprechen dem Motto "Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie" (S. 287).

Zu Beginn des Werkes werden die globalen, allgemeinen Zusammenhänge behandelt. Kapitel 1 beschreibt die begrifflichen Grundlagen und die historischen und soziologischen Entwicklungslinien, Kapitel 2 die innere Entwicklung des Funktionssystems Bibliothekswesen. In den folgenden Kapiteln wird diese Gedankenführung schärfer konturiert und konkretisiert. Kapitel 3 beschäftigt sich mit dem deutschen Bibliothekswesen unter typologischen, institutionellen und rechtlichen Aspekten (z.B. Träger bibliothekarischer Einrichtungen, Bibliotheksförderung, Bibliothekstypologie). Kapitel 4 untersucht die als Folge der funktionalen Differenzierung notwendigen Formen und Modi von Netzen und Kooperationen, Innovationen und Projekten (z.B. Kooperation in Verbänden, Förderer und Partner des Bibliothekswesens, Dienstleistungen und Projekte im Bereich Erwerbung, Erschließung und Benutzung). Kapitel 5 nennt und erläutert die für den Prozess der fortschreitenden Arbeitsteilung erforderlichen Normen und Standards, Richtlinien und Empfehlungen (z.B. Normen und Standards für Leistungsmessung, Formalerschließung und Inhaltserschließung). Kapitel 6 beschäftigt sich mit den Dienstleistungen der Bibliotheken (z.B. Informationsdienstleistungen, Benutzungsdienst, Informationsdienst). Kapitel 7 erläutert die Aufgaben des Bibliotheksmanagements (z.B. strategische Planung, Kosten- und Leistungsrechnung, Bestandsmanagement). Kapitel 8 widmet sich dem Beruf, der Ausbildung und dem Studium. Kapitel 9 fasst die Ergebnisse zusammen und zeigt Perspektiven auf. Den Abschluss bildet ein Anhang mit Literaturverzeichnis, Internet-Adressen, Abkürzungen und Register (Tabellen- und Kartenverzeichnis befinden sich vor dem Vorwort).

Die Darstellung moderner Arbeitsweisen in den Bibliotheken wird überall sichtbar, z.B. im Bibliotheksmanagement das Controlling (S. 228-230), im Bestandsmanagement die Collection Depth Indicators (S. 244-245) sowie im Dienstleistungsbereich die digitale Auskunft (S. 210-219) und die Lehre von der Informationskompetenz (S. 173, 204-208).

Diese Einführung ist eine Bereicherung der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Literatur: Das seit langem vergriffene Handbuch "Das Bibliothekswesen der Bundesrepublik Deutschland"1 ist tot, es lebe der Nachfolger "Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland"!

Trotz des rapiden Wandels im Bibliotheks- und Informationswesen ist es den Autoren gelungen, eine auf dem neuesten Stand befindliche und - im doppelten Sinne des Wortes - fassliche Einführung vorzulegen. Wie schnell sich auch in Deutschland rechtliche Regelungen für das Bibliothekswesen ändern, zeigt das am 29.6.2006 in Kraft getretene "Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek", das die Ausführungen über "Die Deutsche Bibliothek" und die deutsche Nationalbibliographie auf den Seiten 67-73 korrigiert.

"Von der Professionalität, der Flexibilität und der Kreativität der Bibliothekare wird es abhängen, ob das Bibliothekssystem in der Informationsgesellschaft zur zentralen Infrastruktur wird oder ob es einen Marginalisierungsprozess durchläuft." (S. 286) Das vorliegende Buch dient den Studierenden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft als wichtige Einführung und all jenen zur Orientierung, die in den Bibliotheken und Informationseinrichtungen tätig sind. Eine Neuauflage ist angesichts der ständigen Weiterentwicklung des Bibliothekswesens und der Bibliotheks- und Informationswissenschaft in regelmäßigen Abständen erforderlich.

Abschließend einige Wünsche des Rezensenten:

Es mangelt an einer interdisziplinäreren Betrachtungsweise zur Geschichte der Bibliotheken. Mit der Absichtserklärung "In die historische Betrachtung fließt eine deutlich soziologisch geprägte Perspektive ein, die Anleihen bei der Systemtheorie Luhmannscher Prägung nicht verleugnet" (S. 2) wird der Leser nicht viel anfangen können, zumal auch in das Literaturverzeichnis keine Veröffentlichung von Luhmann aufgenommen wurde.2 Den interdisziplinären Ansatz befolgen z.B. Hans-Michael Schäfer, der die Kulturwissenschaftliche Bibliothek des Kunsthistorikers und passionierten Büchersammlers Aby Moritz Warburg (1866-1929) als Vorgriff auf die Entwicklung der Bibliothek im 21. Jahrhundert sieht3, und Nikolaus Wegmann in seinen Studien zum Verhältnis von Bibliothek und literarischer Literatur4.

Schmerzlich wird ein Kapitel zum Bau und zur Einrichtung von Bibliotheken vermisst. Nicht nur Aufgaben und Arbeitsweise der Bibliotheken haben sich stark verändert, sondern auch ihre "Hülle" und ihre Einrichtung. In den letzten zwanzig Jahren sind in Deutschland zahlreiche Bibliotheken geplant und gebaut worden. Architekten, Ingenieure und Bibliothekare mussten sich mit der Bibliothek im 21. Jahrhundert intensiv auseinandersetzen. Davon zeugen die vielen interessanten Beiträge in Fachzeitschriften und Festschriften.5

Die Stellung der Bibliographie und der Buchwissenschaft im System der Bibliotheks- und Informationswissenschaft wird ausgeblendet, obwohl gerade in beiden Disziplinen wichtige Veröffentlichungen erschienen sind, die sich auch mit der Beziehung Bibliothek - Bibliographie und Bibliothek - Buchwissenschaft beschäftigen.6


Anmerkungen

1 Plassmann, Engelbert: Das Bibliothekswesen der Bundesrepublik Deutschland: ein Handbuch / Engelbert Plassmann;; Jürgen Seefeldt. 3., völlig neue bearb. Aufl. des durch Gisela von Busse und Horst Ernestus begründeten Werkes. Wiesbaden, 1999. XII, 510 S.

2 Eine wunderbare Einführung sind die im Verlag Zweitausendeins erschienenen Interviews und Textstücke u.d.T. Luhmann, Niklas: Short cuts. Frankfurt am Main, 2000. 156 S. Verch, Ulrike: Sonntags in die Bibliothek: die Wiederbelebung des Bibliothekssonntags in Deutschland. Berlin, 2006. 148 S.

3 Schäfer stellt dazu fest: "Die Symbiose aus diversen Medientypen und individuell frei systematisierbaren Inhalten, die Medienkonvergenz, wie sie durch das Internet und dank aktueller Informations- und Kommunikationstechnologien heute möglich ist" hat in dieser Bibliothek einen Vorgänger. In: Schäfer, Hans-Michael: Die kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg: Geschichte und Persönlichkeiten der Bibliothek Warburg mit Berücksichtigung der Bibliothekslandschaft und der Stadtsituation der Freien und Hansestadt Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin, Logos, 2003. S. 293.

4 Wegmann, Klaus: Bücherlabyrinthe: Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter. Köln, 2000. 368 S.

5 U.a. berichten die Zeitschriften B.I.T.online und Bibliothek. Forschung und Praxis regelmäßig über neue Bibliotheksbauten; interessante Beiträge finden sich auch in den zahlreich erschienenen Festschriften, z.B. für Jürgen Hering, Peter Vodosek, Rudolf Frankenberger und Konrad Marwinski.

6 Für die Bibliographie seien genannt: Nestler, Friedrich: Einführung in die Bibliographie: auf der Grundlage des Werkes von Georg Schneider völlig neu bearbeitet von Friedrich Nestler. Stuttgart, 2005. XI, 231 S. - Die Regionalbibliographie im digitalen Zeitalter: Deutschland und seine Nachbarländer / Hrsg. Ludger Syré; Heidrun Wiesenmüller. Frankfurt am Main, 2006. 426 S.


Anschrift des Rezensenten

Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier

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