Hall, Murray G. und Christina Köstner:
"... allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern ...": eine österreichische Institution in der NS-Zeit


- Wien; Köln; Weimar: Böhlau, 2006. XII, 617 S.
ISBN: 978-3-205-77504-1. € 59,00

Erst über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes beschloss das österreichische Parlament ein längst überfälliges Gesetz zur Rückgabe von Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen an die rechtmäßigen Besitzer. "Verschlamptes, Verschwiegenes, Vergessenes, ja begangenes Unrecht wurden dadurch enttabuisiert. Das Gesetz verpflichtete die Sammlungen, Museen und Bibliotheken des Bundes, ihre Erwerbungen in der Zeit der NS-Herrschaft, also von 1938 bis 1945, einer Prüfung zu unterziehen." (S. 13)

Dieses Kunstrückgabegesetz von 1998 verpflichtet auch die Österreichische Nationalbibliothek (im Folgenden NB genannt) zur Provenienzforschung und Restitution unredlich erworbener Objekte und damit auch zu einer neuen Bewertung ihrer Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus und in den Nachkriegsjahren. Nach 1945 kam es nur marginal zu einer Aufarbeitung. Hausintern und in offiziellen Veröffentlichungen der NB wurde geglättet oder verschwiegen, die Opfer spielten nur selten eine Rolle. Sogar der Provenienzbericht der NB aus dem Jahr 2003 bietet nach Auffassung von Hall und Köstner immer noch ein verzerrtes Bild der Bibliotheksgeschichte. Die ein Jahr später erfolgte Ausstellung "Geraubte Bücher" mit ihrem ausgezeichneten Katalog1 ging einen Schritt weiter und wurde so auch eine wichtige Vorarbeit zu dem vorliegenden Werk, das unabhängig von dem erwähnten Provenienzbericht recherchiert und geschrieben wurde.

Einer Einleitung (Kapitel I) zu den Zielen und Grundlagen der Veröffentlichung folgen 13 Kapitel zur Geschichte der NB in der NS-Zeit, ein Schlusswort (Kap. XIV.) und ein umfangreicher Anhang (Kap. XV.) zur Vertiefung und Erschließung des Werkes (1629 Anmerkungen, ein Verzeichnis der im Text verwendeten Abkürzungen, ein Abbildungsnachweis, Danksagungen, eine Bibliographie sowie je ein Personen- und ein Sachregister).

Die Geschichte der NB beginnt mit einer Beschreibung der Jahre 1933 bis März 1938, ohne die die folgenden Ausführungen nicht zu verstehen wären: Das Vorspiel (Kapitel II) mit einer Neuformulierung der Aufgaben der NB und der "Säuberung" vorwiegend sozialdemokratischer Büchereien mit Direktor Josef Bick an der Spitze. Innerhalb von 24 Stunden nach dem Anschluss, am 16. März 1938, erfolgte Die Absetzung Josef Bicks (Kap. III) und die Einsetzung Paul Heigls, bis zu diesem Zeitpunkt Bibliothekar an der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin2, ein früher und fanatischer österreichischer Nationalsozialist, der für die aggressive und repressive Expansionspolitik der NB der kommenden Jahre hauptverantwortlich ist.

Heigl wurde zur zentralen Person, seine Taten sind nachzulesen in den Kapiteln Paul Heigl - Generaldirektor der NB (Kap. IV.), Die Personalpolitik Heigls (Kap. V), die eng mit seinem Namen verbundenen Institutionen und Aktionen wie Die NB und die Bücherverwertungsstelle Wien (Kap. VI), die NB und die "Führerbibliothek" in Linz (Kap. VII), Heigl und das Schicksal der österreichischen Amtsbibliotheken (Kap. IX), Die Klosterbibliotheken (Kap. X) sowie Die NB und der Bücherraub in Triest (Kap. XII). Über ein Drittel des Buches beschäftigt sich mit dem Thema Die Sammlungen der Nationalbibliothek (Kap. VIII). Die Autoren zeigen die quantitativen und qualitativen Veränderungen durch den Zugang von Beständen aus Privatbesitz3 - von Juden (wie Oscar Bondy, Fritz Brukner, Gottried und Brigitte Bermann Fischer, Siegfried Fuchs, Heinrich Schnitzler) und jüdischen Institutionen (wie das Jüdische Museum Wien), von Freimaurerlogen (wie die Großloge Wien), von der Wehrmacht überfallenen und ausgeraubten Institutionen (wie die Universitätsbibliothek Belgrad, die Werschetzer Bischofsbibliothek und der Verlag Geca Kon). Über eine halbe Million Bücher wurden bis Kriegsende der NB aus Raubzügen einverleibt!

Ein kurzes Kapitel behandelt Die Nationalbibliothek während des Krieges (Kap. XI), insbesondere den Bibliotheksbetrieb und das Personal.

Im Kapitel Das nationalsozialistische Erbe (Kap. XIII) werden "Geschichten zu Ende" (S. 459) erzählt, um den Zusammenhang mit den hier behandelten Gebieten herzustellen.

Über vieles wird zum ersten Mal aus den Quellen4 umfassend berichtet, z.B. über die Bereicherung einzelner Sammlungen der NB, die "Führerbibliothek" in Linz5 (S. 125-165) sowie den massenhaften Bücherraub in Triest in den Jahren 1944 und 1945 (S. 427-457). Das Buch ist wunderbar geschrieben, so dass Ermüdungserscheinungen bei diesem kompaktem Text und großem Umfang nicht eintreten können. Die 142 Abbildungen von Personen, Gebäuden und Gebäudeteilen, Arbeitsvorgängen und Titelblättern dienen der Veranschaulichung.

Fazit: "Die Geschichte der Nationalbibliothek zeigt deutlich die enge Verbindung einer staatlichen Bibliothek mit den jeweiligen Machthabern." (S. 500) Die Autoren stellen beeindruckend die Raubzüge der Nationalsozialisten durch Europa am Beispiel einer großen bedeutenden Bibliothek dar. Sie zeigen die Skrupellosigkeit der betreffenden Leiter und Mitarbeiter der NB, die der festen Überzeugung waren, Gutes zu tun und zum Nutzen des Hauses zu handeln.

Mit dieser ausgezeichneten Arbeit ist bewiesen, dass die NS-Zeit das dunkelste Kapitel in der über 600jährigen Geschichte der NB ist. Durch diese Veröffentlichung ist die Mauer des kollektiven Schweigens gebrochen, eine Verdrängung der Ereignisse ist nicht mehr möglich. Dies ist ein Standardwerk für Historiker, die sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges beschäftigen und für Bibliothekshistoriker, die sich mit der Geschichte europäischer Bibliotheken im 20. Jahrhundert beschäftigen. Es regt an, die bibliothekarischen Aktivitäten im Bereich der Provenienzforschung bei Büchern zu intensivieren. In Österreich sind den Autoren außer bei zwei Wiener Bibliotheken solche Forschungen bislang unbekannt geblieben. (vgl. S. 14)

1 Geraubte Bücher: Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit / Hrsg. Murray G. Hall; Christina Köstner; Margot Werner. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, 2004. 190 S. - Vgl. auch die ausführliche Rez. in: Mitt. der Ges. für Buchforschung in Österreich (2005) 2, S. 50-55.

2 zu Heigls Tätigkeit in der Preußischen Staatsbibliothek s. auch: Happel, Hans-Gerd: Das wissenschaftliche Bibliothekswesen im Nationalsozialismus. München, 1989. S. 49-50; Schochow, Werner: Die Preußische Staatsbibliothek 1918-1945: ein geschichtlicher Überblick. Köln, 1989. S. 39, 67.

3 zu den persönlichen Bereicherungen der Wiener Bevölkerung s. Walzer, Tina; Templ, Stephan: Unser Wien: "Arisierung" auf österreichisch. Berlin, 2001. 292 S.

4 die Quellenlage ist äußerst günstig (S. 18); die Autoren konnten sich auf umfangreiche Quellen aus Österreich (insbesondere die Akten der Nationalbibliothek und des Staatsarchivs) und Deutschland (insbesondere die Akten der Deutschen Bücherei Leipzig und der Bayerischen Staatsbibliothek München) stützen

5 das Kapitel ist auch eine vorzügliche Ergänzung zu Petropoulos, Jonathan: Kunstraub und Sammelwahn: Kunst und Politik im Dritten Reich. Berlin, 1999. 510 S.


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Prof. em. Dr. Dieter Schmidmaier

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