Unsre Phonographzeitung wird das Blatt der Zukunft sein

Prognosen über die Zukunft von Zeitungen und Büchern in der Science Fiction


Abstract

Hören besiegt Lesen
Das Ende des Buches
Zeitung hat Zukunft
Zeitungen im kommunistischen Amerika
Zusammenfassung und Ausblick

von Georg Ruppelt

Hören besiegt Lesen

Folgendes Zitat kommt dem heutigen Leser vielleicht scheinbar bekannt und aktuell vor: "Das zu fixierende Wort, einst in Tontäfelchen geritzt, dann auf Papyrusrollen geschrieben, schließlich auf Papier gedruckt, bewahren und erhalten wir nach keinem dieser Verfahren, sondern uns ersetzen die Mikrophotographien der Zentralbibliothek, welche durch Fernseher übertragen werden und beliebig vielen Lesern gleichzeitig zugänglich sind, die Bücher. - Eine Sintflut von Papier überschwemmte einst, hunderttausend menschliche Hände beschäftigend, Millionen Kilowatt an Energie erfordernd und ganze Wälder zur Herstellung des Zellstoffes verbrauchend, die Menschheit. Eine Milliarde von Bänden, manche Werke in Hunderttausenden von Exemplaren, füllte einst Bücherschränke und Bibliotheken, und doch war dieser Schatz an Wissen den meisten nicht zugänglich. Wir ersparen diesen ganzen Aufwand und das, was heutzutage dem Wissbegierigen zuströmt, der Zeitungen oder Bücher lesen, Bilder oder Karten betrachten will, das ist nicht bedrucktes Papier, sondern reine Energie vermittels unserer ferntechnischen Apparate, der Fernsprecher, der Fernschreiber, Fernseher und Fernkinos." 1

Dieser Text stammt aber nicht etwa aus einem kulturpessimistischen Beitrag unserer Tage, sondern aus dem prognostischen Roman "Das Automatenzeitalter" von 1931. Der Roman selbst spielt im Jahr 2500. Dieses Zitat ist in seiner negativen Aussage hinsichtlich der Zukunft des Papierdruckes Vorläufer vieler anderer vom letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Texte prophezeiten damals das baldige Ende der Papiermedien. So sagte beispielsweise der amerikanische Medienwissenschaftler Marshal McLuhan in den 70er Jahren ihren baldigen Tod voraus. Nun starb bedauerlicherweise Marshal McLuhan 1980, während die Buchproduktion zum Ende des Jahrhunderts um ein Beträchtliches anstieg.

Auch Zeitungen gibt es im 21. Jahrhundert noch, obwohl deren Ende bereits um 1900 u.a. von Theodor Herzl und Jules Verne vorausgesagt wurde. Die technischen Grundlagen unserer Radio- und TV-Geräte entstammen dem 19. Jahrhundert; in Prognosen und Zukunftsgeschichten spielen sie seit dieser Zeit eine Rolle, auch als Konkurrenz oder gar Ersatz für Zeitungen. So glaubte man, dass die sogenannte Telefonzeitung, mit der in Ungarn Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich experimentiert wurde, die herkömmliche papierne Zeitung ersetzen würde. Bei dieser besonderen Spielart der Nachrichten-Fernübermittlung wird der Zeitungsleser zum Zeitungshörer, indem er die neuesten Nachrichten direkt von der Zeitungsredaktion mit dem Fernsprecher abruft.

Ein wahres Paradies der Phonozeitung entwarf Jules Verne 1889 für die Zukunft mit seiner Kurzgeschichte "In the year 2889":

"Seit 30 Generationen ist der New York Herald ein reines Familienunternehmen. Als die Unionsregierung vor 200 Jahren von Washington nach Centropolis verlegte wurde, folgte die Zeitung der Regierung nach - vielleicht war es auch umgekehrt, vielleicht folgte auch die Regierung der Zeitung. [... Der gegenwärtige Verlagschef] war es auch, der den telefonischen Journalismus einführte, [...].

Das System dürfte ja bekannt sein: jeden Morgen wird der Earth Herald [so heißt die Zeitung seit dem Umzug] gesprochen statt gedruckt. In kurzen Gesprächen mit Reportern, Politikern oder Wissenschaftlern erfährt der Abonnent, was er wissen will. Der Straßenverkauf spielt sich dementsprechend ab: der Zeitungskäufer alter Prägung geht jetzt in eine der zahllosen Telefonkabinen und lässt sich das Gewünschte phonografisch durchgeben.

Diese Erfindung wies dem Zeitungswesen neue Wege und Möglichkeiten. Innerhalb weniger Monate steigerte er die Zahl der Abonnenten auf 85 000000, sein Vermögen vergrößerte sich auf runde 30 000 000 000; heute beträgt es bereits ein Vielfaches dieser Summe."

Verdient wird dieses Geld, tägliche Einnahmen drei Mio. Dollar, nicht nur mit Hilfe der 1500 Reporter die die Meldungen an die Abonnenten und Käufer durchgeben, sondern auch durch die Werbeabteilung, die in einem 500 m langen Saal sitzt und mit Hilfe von Spezialapparaten gigantische Plakate auf Wolken projiziert. Die Zeitung sinnt darüber nach, bei schönem Wetter künstliche Wolken zu erzeugen. Die Erfindung des Fernsehens ist nach Verne erst im 29. Jahrhundert gelungen.2

1895 erschien in der Zeitschrift Vom Fels zum Meer ein Artikel, der den schaurigen Titel "Das Ende des Buches" trug. Der Verfasser, ein O. Jerum - wohl ein aus dem Studentenlied "O alte Burschenherrlichkeit" hergeleitetes Pseudonym -, beschreibt darin, wie im 20. Jahrhundert das auf Papier gedruckte Buch und auch die Zeitungen aufhören zu existieren. Bücher würden nämlich abgelöst durch das Hörbuch, papierne Zeitungen durch die Telefonzeitung. Der Text, vergleicht man ihn mit unserer Realität im 21. Jahrhundert, überrascht an einigen Stellen ob seiner Hellsichtigkeit im Hinblick auf die Erfolgsgeschichte des Hörbuches in unserer Zeit.

"Mit der Benutzung des Phonographen ändert sich die ganze Art der sogenannten 'Lektüre'. Bequem auf einen Diwan hingestreckt, den Blick auf die lieben Erinnerungsgegenstände im Zimmer oder durch das Fenster auf die stets wechselvollen Erscheinungen der Natur schweifen lassend, hören wir der Erzählung zu, die aus dem Worterzeuger hervortönt, in der charakteristischen Sprache des Autors, mit all den Merkmalen einer geistig bedeutenden Individualität, bald im Flüsterlaut der Liebe sanft ertönend, bald wie Donner grollend, wenn die Leidenschaft sich entfesselt. [...]

Nicht besser als dem Buch wird es der Zeitung ergehen. In Paris hatte man bereits vor einigen Jahren das 'gesprochene Journal' eingeführt, eine Einrichtung, die sich auf das Vorlesen von Leitartikeln, Lokalplaudereien u. dergl. vor einem zahlenden Publikum beschränkte und bald wieder verschwand; unsre Phonographzeitung wird dagegen das Blatt der Zukunft sein. Abgesehen von den Glücklichen, die durch Telephonleitungen mit der Redaktion verbunden sind, haben die Abonnenten Anspruch auf Zusendung der Phonograph- und Kinetographcylinder. Man wird die aufgefangene Stimme des Interviewten zugleich mit dem Porträt auf sich einwirken lassen, man kann Kunstausstellungen und Theateraufführungen genießen, ohne sich von seinem Platze zu rühren, der Hinrichtung eines Verbrechers beiwohnen, während man behaglich eine Upmann schmaucht und was dergleichen Annehmlichkeiten des Lebens mehr sind. Dem Wissensdurst und der Schaulust wird in jeder Weise Befriedigung geboten werden können, ohne dass der Mensch sich mit dem Entziffern gedruckter Buchstaben die Augen zu verderben braucht.

So dürfte mit der Entthronung des Buches und der Zeitung zu Gunsten des gesprochenen Wortes ein neues Zeitalter geistiger Erhebung hereinbrechen. Die Augen, die bisher so schwere Dienste leisten mußten, werden klar und heiter blicken und eine neue Welt der Schönheit im Reiche der Natur erstehen sehen.".3

"Richtig" in seiner Zukunftsprognose, nämlich im Hinblick auf die Mikroverfilmungen von Zeitungen zwecks Archivierung lag auch 1911 der von einigen Literaturhistorikern als Vater der modernen Science Fiction bezeichnete Luxemburg-Amerikaner Hugo Gernsback mit seinem Roman "Ralph 124 C 41+". Der Titelheld fährt darin im Jahre 2660 in eine Bibliothek, wo er nach guter alter Thekenbibliotheksart von einem Bibliothekar mit der Nachmittagsausgabe einer Zeitung bedient wird:

"Der Bibliothekar händigte ihm ein Stück biegsamer Plastik aus, das nicht größer war als eine Briefmarke. 'Die 5-Uhr-Ausgabe, Sir.' Ralph nahm das Mikrofoto und klemmte es in den Seitenteil eines zuklappbaren Metallbehälters. Er schloß ihn und drückte auf den Empfangsknopf. Sofort erschien auf der gegenüberliegenden weißen Wand ein vergrößertes Zeitungsblatt, das aus 12 Spalten bestand." 4

Das Ende des Buches

Wirklich rabenschwarz wurden die Prognosen der Literatur im Hinblick auf Buch und Zeitung aber, als sich um 1970 die gesamte Druckindustrie auf neue Techniken einzurichten begann. Im engeren Sinn schien tatsächlich das Ende des Gutenberg-Zeitalters gekommen. Typisch für diese Zeit ist ein Text von Marie Luise Kaschnitz mit dem Titel "Das letzte Buch":

"Das Kind kam heute spät aus der Schule heim. Wir waren im Museum, sagte es. Wir haben das letzte Buch gesehen. Unwillkürlich blickte ich auf die lange Wand unseres Wohnzimmers, die früher einmal mehrere Regale voller Bücher verdeckt haben, die aber jetzt leer ist und weiß getüncht, damit das neue plastische Fernsehen darauf erscheinen kann. Ja und, sagte ich erschrocken, was war das für ein Buch? Eben ein Buch, sagte das Kind. Es hat einen Deckel und einen Rücken und Seiten, die man umblättern kann. Und was war darin gedruckt, fragte ich. Das kann ich doch nicht wissen, sagte das Kind. Wir durften es nicht anfassen. Es liegt unter Glas. [...]"5

In einer Kurzgeschichte von Isaac Asimov sind im 22. Jahrhundert den Kindern Bücher nur noch aus den Erzählungen ihrer Großeltern bekannt:

"Es war ein sehr altes Buch. Margies Großvater hatte einmal gesagt, als er ein kleiner Junge war, hätte ihm sein Großvater erzählt, dass es eine Zeit gegeben habe, in der alle Geschichten auf Papier gedruckt wurden.

Sie blätterten die Seiten um, die gelb und zerknittert waren, und es war schrecklich komisch, Wörter zu lesen, die stillstanden, anstatt sich zu bewegen, wie sie es hätten tun sollen. Du weißt schon, auf einem Bildschirm. Und als sie dann wieder zur vorhergehenden Seite zurückblätterte, standen dort immer noch die gleichen Worte, die sie beim ersten Lesen schon gesehen hatte. 'Meine Güte!' sagte Tommy. 'Was für eine Verschwendung. Wenn man mit dem Buch fertig ist, wirft man es einfach weg, glaube ich. Auf unserem Fernsehschirm sind sicher schon eine Million Bücher gewesen, und noch viel mehr haben drauf Platz. Den würde ich nicht wegwerfen."6

Den raschen Fortschritt der Computer- und Video-, CD-, DVD- etc. -Technik, mit der man auch auf dem Bildschirm "vor- und zurückblättern" kann, hat Asimov 1966 aber offenbar noch nicht vorausgesehen.

Auch in dem im Jahre 2794 spielenden Roman "Tausend Milliarden glückliche Menschen" von James Blish und Norman L. Knight liest man Texte via Fernsehen:

"Die meisten haben nichts zu tun und sind damit auch noch zufrieden. Jedermann sitzt in seiner Wohnung herum und sieht fern, unterhält sich per Funktelefon mit Freunden, [...]. Wenn sie sich einbilden Intellektuelle zu sein, schauen sie sich auf Bibtek-Zentral dreidimensionale Romane an." 7

Sehr viel früher als diese technisch begründeten Prognosen der Bücher- und Periodika-Zukunft taucht in der Literatur dagegen das Motiv einer konsequenten Zensur auf: Im Zukunftsstaat wird nur mehr das an Druckwerken produziert, gilt nur das als archivwürdig, was den Interessen der jeweils herrschenden Ideologie nützt. Einen der schwersten Angriffe gegen Bücher und Journale, die eine ihm nicht genehme Weltanschauung vertraten, exekutierte im 18. Jahrhundert nun ausgerechnet ein Autor, der sich ganz der Aufklärung verschrieben hatte: Louis-Sébastien Mercier in seinem Roman "Das Jahr 2440" von 1770/71.

Der Autor träumt sich darin in die Königliche Bibliothek im Paris der Zukunft. Diese umfasst nur mehr ein kleines Kabinett mit wenigen Büchern. Auf die Frage des Erzählers, was denn mit den anderen Büchern geschehen sei, gibt der Bibliothekar eine entlarvende Antwort. Sie zeigt, dass auch angeblich von Vernunft und Toleranz geleitete Ideologien dadurch, dass sie sich für Emanationen der allein seligmachenden Wahrheit halten, unvernünftig und intolerant zu handeln bereit sind, wenn sie denn die Macht erlangt haben. Der Bibliothekar führt aus:

"Mit dem Einverständnis aller haben wir alle Bücher, die wir als seicht, nutzlos oder gefährlich erachteten, auf einem weiträumigen, ebenen Platz zusammengetragen; wir haben daraus eine Pyramide aufgeschichtet, die an Höhe und Masse einem gewaltigen Turme glich: ganz gewiß war das ein neuer Turm von Babel. Die Journale bildeten die Spitze dieses absonderlichen Gebäudes, das seitlich von bischöflichen Verordnungen, parlamentarischen Eingaben, von Gerichtsplädoyers und Leichenreden gestützt wurde. Es bestand aus fünf- oder sechshunderttausend Wörterbüchern, hunderttausend juristischen Bänden, aus hunderttausend Gedichten, einer Million sechshunderttausend Reisebeschreibungen und aus einer Milliarde Romanen. Diesen ungeheuren Haufen haben wir angezündet, als ein Sühneopfer, das wir der Wahrheit, dem guten Geschmack und dem gesunden Verstande brachten. Die Flammen haben Sturzbächen gleich die Dummheiten der Menschen, alte und moderne, verschlungen. Die Verbrennung dauerte lang. Einige Schriftsteller haben sich noch zu Lebzeiten brennen gesehen, aber ihr Geschrei hat uns nicht zurückgehalten."8

Zeitung hat Zukunft

Doch es gab auch sehr positive Prognosen für die Zukunft des Lesens von Büchern und Zeitungen. Der Großvater der deutschen Science Fiction, Kurd Laßwitz, schrieb 1887 über die Lesegewohnheiten in der den Erdenmenschen sittlich wie technisch weit überlegenen marsianischen Gesellschaft u. a., dass ihre Bücher multimediale Eigenschaften hätten: man "brauchte nur die Empfangsplatte des Grammophons auf die betreffende Stelle des Buches zu legen, um den Laut selbst zu hören." Im übrigen ist für Martier aber dieses selbstverständlich:

"Bücher gehören bei den Martiern zur unentbehrlichen Ausstattung jedes Zimmers, eher würde man die Fenster entbehren als die Bibliothek".

Auf dem Mars selbst gibt es komfortable Lesehallen, die stark frequentiert werden. Auf dem Planeten existiert nämlich eine offizielle Zeitungslesepflicht: "jeder Martier war verpflichtet, bei Verlust seines Wahlrechts, aus zwei Blättern, von denen eines ein oppositionelles sein mußte, täglich über die wichtigsten politischen und technischen Neuigkeiten sich zu unterrichten."9

In seinem Blick in die Zukunft des Deutschen Reiches lässt 1891 ein G. Erman, wohl ein Pseudonym, die "Deutsche National=Zeitung" vom 10. Februar 2000 aus dem Reichstag mit Hilfe einer "Tondruckmaschine" berichten. Nach Erman ist es dem Deutschen Reich gelungen, die Sahara fruchtbar zu machen; so findet sich unter den recht kuriosen Anzeigen auch folgende:

"Ein vereidigter Zeitungsmann

mit Zeugniß ersten Grades sucht zur Begründung eines 'Sahara-Tageblattes' einen leistungsfähigen Verleger. Meldungen unter K. C. an diese Zeitung."10

Von einer glänzenden Zeitungsverleger-Zukunft weiß Albert Daiber im Jahr 1905 für 2222 zu berichten. In seinem "Zukunftstraum" ist Europa politisch geeint. In Europas Metropole Berlin ist ein Presse-Imperium entstanden, das die einflussreichste und meistgelesene Zeitung Europas verlegt. Das Verlagshaus wird so beschrieben:

"In dem Hause selbst wird sie [die Zeitung] verlegt und redigiert, gleich daneben auch das hiezu nötige Papier nach modernster Technik fabriziert. Sechsmal in 24 Stunden erscheint das Blatt. Hunderte von Redakteuren, erfahren in allen Disziplinen der zu imposantem Umfang angeschwollenen Wissenschaft der Presse, lösen sich Tag und Nacht in ihrer Arbeit ab. Himmelan strebt über dem Gebäude bis zur Höhe von 500 Metern ein schlankes Eisengerippe empor, dessen Spitze sich in eine Unmenge von meterlangen, kupfernen Nadeln auflöst. Hier werden die von allen Seiten des Weltteiles dem Blatte durch die tadellos funktionierende Luftelektrizitätstelegraphie zuströmenden Depeschen aufgefangen und direkt durch kleine Kabel in die verschiedenen Zimmer der Chefredakteure geleitet."11

Zeitungen im kommunistischen Amerika

Die bisher zitierten Zukunftsautoren gingen in ihren literarischen Prognosen von einer Gesellschaft aus, die sich in ihrer kapitalistischen Wirtschaftsordnung kaum von derjenigen in der Gegenwart des Autors unterscheidet. Völlig anders gestaltet sich die Welt der Zeitungsverleger in der kommunistischen Utopie des Amerikaners Edward Bellamy von 1887. Seine Roman "Rückblick auf das Jahr 1887" spielt im Jahr 2000. Darin widmet er eine längere Passage den Zeitungen des zukünftigen kommunistischen Amerika.

"'Wie verhält es sich mit den Zeitschriften und Zeitungen?' fragte ich [das ist Julian West, Ich-Erzähler und Besucher aus der Vergangenheit des 19. Jahrhunderts]. 'Ich will nicht leugnen, daß Ihr System des Buchverlages vor dem unsrigen beträchtliche Vorzüge voraushat, sowohl in seiner Tendenz, die wahren Talente zu ermutigen, als auch, was ebenso wichtig ist, solche Leute zu entmutigen, die nur elende Skribenten werden könnten. Aber ich sehe nicht ein, wie dasselbe auch auf Magazine und Zeitungen Anwendung finden kann. Man kann wohl jemanden zwingen, für die Veröffentlichung eines Buches zu zahlen, weil eine solche Ausgabe nur einmal vorkommt; niemand jedoch würde imstande sein, die Kosten für die Veröffentlichung einer täglich erscheinenden Zeitung aufzubringen. Das zu tun, erforderte die tiefen Taschen unsrer Privatkapitalisten, und es erschöpfte sogar oft selbst diese, ehe sich das Unternehmen bezahlt machte. Wenn Sie überhaupt Zeitungen haben, so müssen diese, denke ich mir, durch die Regierung auf allgemein Kosten veröffentlicht werden, mit einem von der Regierung angestellten Redakteur, der die Meinung der Regierung wiedergibt. Wenn Ihr System nun so vollkommen ist, daß nie das Geringste in der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten zu tadeln ist, so mag eine solche Einrichtung gut sein; ist dies jedoch nicht der Fall, so muß, sollte ich meinen, er Mangel eines unabhängigen, nichtamtlichen Organs für den Ausdruck der öffentlichen Meinung höchst unglückliche Folgen haben. Gestehen Sie es nur, Herr Doktor [Dr. Leete ist der Gesprächspartner Julian West im Jahr 2000], daß die freie Presse [des 19. Jahrhunderts] mit allem, was sie enthielt, etwas recht Gutes in dem alten System war, als das Kapital sich in Privathänden befand, und daß Sie den Verlust dieses Gutes von dem Gewinn, den Sie in anderer Hinsicht gehabt haben, in Abzug bringen müssen.'

'Ich bedauere', erwiderte Dr. Leete lachend, 'daß ich Ihnen auch diesen Trost nicht lassen kann. Zunächst, Herr West, ist die periodische Presse keineswegs das einzige und, wie es uns scheint, auch nicht das beste Mittel, öffentliche Angelegenheiten mit Ernst zu besprechen. Uns erscheint das Urteil Ihrer Zeitungen über solche Gegenstände im allgemeinen unreif und leichtfertig sowohl wie stark durch Vorurteile und Bitterkeit gefärbt. Sofern man sie für den Ausdruck der öffentlichen Meinung hält, geben sie eine ungünstige Vorstellung von der Intelligenz des Volkes; während, sofern sie die öffentliche Meinung selbst geschaffen haben mögen, die Nation nicht zu beglückwünschen war. Wenn heutzutage ein Bürger in bezug auf irgendeine öffentliche Angelegenheit einen ernsthaften Einfluß auf die öffentliche Meinung auszuüben wünscht, so gibt er ein Buch oder eine Broschüre heraus, die wie andere Bücher verlegt werden. Es geschieht dies aber nicht darum, weil uns Zeitungen oder Zeitschriften fehlten oder weil sie der absolutesten Freiheit ermangelten. Die Tagespresse ist so organisiert, daß sie die öffentliche Meinung in weit vollkommnerer Weise zum Ausdruck bringt, als dies zu Ihrer Zeit der Fall sein konnte, wo das Kapital sie kontrollierte und sie in erster Linie als Geldgeschäft und erst in zweiter Linie als Mundstück für das Volk dienen ließ.'

'Aber', sagte ich, 'wenn die Regierung eine Zeitung auf öffentliche Kosten druckt, so muß sie doch notwendig deren Tendenz kontrollieren? Wer anders ernennt denn die Redakteure als die Regierung?'

'Die Regierung zahlt weder die Ausgaben einer Zeitung noch ernennt sie deren Redakteure, noch übt sie den geringsten Einfluß auf ihre Tendenz aus', erwiderte Dr. Leete. 'Die Leute, welche die Zeitung lesen, tragen die Kosten des Blattes, wählen ihren Redakteur und entlassen ihn, wenn er ihnen nicht zusagt. Sie werden, denke ich, schwerlich sagen, daß solch eine Presse nicht ein freies Organ der öffentlichen Meinung ist.'

'Entschieden nicht', erwiderte ich, 'aber wie ist das ausführbar?'

'Nichts kann einfacher sein. Gesetzt, einige meiner Nachbarn und ich selbst wünschen eine Zeitung zu haben, die unsere Ansichten widergibt und im besondern das Interesse unseres Ortes, unseres Gewerbes oder Berufes im Auge hat, so sammeln wir Unterschriften, bis wir so viel Teilnehmer haben, daß ihr jährlicher Beitrag die Kosten der Zeitung deckt, welche geringer oder größer ausfallen, je nach der Zahl der Teilnehmer. Der Subskriptionsbeitrag eines jeden wird von dessen Kredit abgezogen, und demnach kann die Nation bei der Herausgabe der Zeitung niemals einen Verlust erleiden, wie es ja auch sein muß, da sie lediglich das Amt eines Verlegers übernimmt, der keine Wahl hat, die verlangte Leistung abzulehnen. Die Subskribenten erwählen alsdann jemanden zum Redakteur, der, wenn er das Amt annimmt, während der Zeit dieser seiner Obliegenheit von anderen Diensten entbunden wird. Anstatt ihm einen Gehalt zu zahlen, wie zu Ihrer Zeit, zahlen die Subskribenten der Nation eine dem Preise für seinen Unterhalt gleichkommende Entschädigung dafür, daß sie ihn dem allgemeinen Dienste entziehen. Er leitet die Zeitung gerade wie es die Redakteure Ihrer Zeit taten, nur daß er sich nicht finanziellen Rücksichten zu unterwerfen, noch die Interessen des privaten Kapitals dem öffentlichen Wohle gegenüber zu verteidigen hat. Am Ende des ersten Jahres erwählen die Subskribenten entweder den früheren Redakteur für das kommende Jahr wieder oder besetzen seine Stelle mit einem anderen. Ein tüchtiger Redakteur behält natürlich seine Stelle fortwährend. Wenn die Subskriptionsliste größer wird und dadurch die Einnahmen der Zeitung sich steigern, so wird dieselbe dadurch vervollkommnet, daß bessere Mitarbeiter geworben werden, geradeso, wie dies zu Ihrer Zeit geschah.'

'Wie werden die Mitarbeiter belohnt, da sie doch nicht mit Geld bezahlt werden können?'

'Der Redakteur kommt mit ihnen über den Preis ihrer Ware überein. Der Betrag wird von dem garantierten Kredit der Zeitung auf ihren individuellen Kredit übertragen, und dem Mitarbeiter wird für einen Zeitraum Dienstbefreiung gewährt, welcher dem ihm zugeschriebenen Betrage entspricht, geradeso wie anderen Autoren. Bei Zeitschriften befolgen wir dasselbe System. Diejenigen, bei welchen der Prospekt einer neuen Zeitschrift Interesse erregt, zeichnen einen Beitrag, welcher ausreicht, um dieselbe ein Jahr lang erscheinen zu lassen, erwählen einen Redakteur, der seine Mitarbeiter, ganz wie in dem andern Falle, bezahlt; während, wie sich von selbst versteht, die Staatsdruckerei die nötige Arbeitskraft und das nötige Material für die Veröffentlichung besorgt. Wenn die Dienste eines Redakteurs nicht mehr gewünscht werden und er das Anrecht auf freie Verwendung seiner Zeit nicht durch andere literarische Arbeiten erringen kann, so tritt er einfach wieder in die industrielle Armee zurück. Ich sollte noch hinzufügen, daß, obgleich gewöhnlich ein Redakteur für ein volles Jahr gewählt wird und in der Regel jahrelang im Dienste bleibt, dennoch dafür gesorgt ist, daß die Subskribenten ihn sofort entlassen können, wenn er den Ton der Zeitung plötzlich ändern und dieselbe nicht mehr im Sinne seiner Auftraggeber leiten sollte.'"12

Zusammenfassung und Ausblick

Von einer vollkommenen Ablösung des Buches durch elektronische Mittel spricht oder schreibt auch in der Literatur seit einigen Jahren kaum noch jemand. Vielmehr wird weithin die Ansicht vertreten, dass eine Grundregel besteht, nach der alles, was gelesen wird, auf Papier bleibt, alles was nachgeschlagen wird, in elektronischem Format angeboten wird. Und gegebenenfalls steht ja der Drucker zur Verfügung ... Auch Bibliotheken werden bestehen bleiben in ihrer Doppelfunktion als Informationsvermittler und Schatzkammern des Geistes, unabhängig davon, auf welchem Vehikel dieser Geist transportiert wird, ob auf Papier, auf elektronischer oder in Zukunft vielleicht auch auf biochemischer Basis.

Die Horrorvisionen vom letzten Buch oder dem Verschwinden der Zeitung sind bisher jedenfalls nicht Wirklichkeit geworden. Der Tod herkömmlicher Medien wurde offensichtlich immer dann in Aussicht gestellt, wenn sich jeweils neue Medien ihren Platz eroberten. Und meist trafen die Prophezeiungen von totaler Verdrängung nicht ein: das Telefon ließ nicht die Zeitung verschwinden, das Kino nicht die Theater, das Radio nicht das Buch, das Fernsehen nicht das Radio, der Computer nicht die Papiermedien.

Wie lautet noch die bekannte Lebensweisheit?

Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie der Zukunft gelten.13


Zum Autor

Dr. Georg Ruppelt ist Direktor der

Leibniz Bibliothek
Niedersächsische Landesbibliothek
Waterloostraße 8
D-30169 Hannover
E-Mail: georg.ruppelt@gwlb.de


Anmerkungen

1. Ri Tokko [d. i. Ludwig Dexheimer]: Das Automatenzeitalter. Ein prognostischer Roman. Zürich; Leipzig; Wien: Amalthea-Verlag, 1931. - S. 99.

2. Vgl. Theodor Herzl: Altneuland. Roman. Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. 9. Aufl. - Berlin; Wien: Harz, 1919. (Erste Ausgabe: 1902.); Jules Verne: Ein Tag aus dem Leben eines amerikanischen Journalisten im Jahre 2889.Übersetzt von Wolf Wondratschek. In: Jules Verne: Das Karpatenschloß. Die Propellerinsel. Ein Tag aus dem Leben eines amerikanischen Journalisten im Jahre 2889. Frankfurt a. M.. Bärmeier & Nikel, 1968. (Zuerst veröffentlicht in amerikanischer Übers. unter dem Titel "In the year 2889" 1889 in der Zeitschrift "The Forum".) S. 303 - 327, hier S. 308/309.

3. O. Jerum: Das Ende des Buches. In: Vom Fels zum Meer. 14. 1894/95. S. 357 - 359; hier S. 359.

4. Hugo Gernsback: Ralph 124 C 41+. Dt. Übers. von Eugen Müller Frantz. - München: Heyne, 1973. (Heyne-Buch; 3343). (Zuerst erschienen als Fortsetzungsroman 1911 in "Modern Electrics"; 1925 als Buch.) - S.20.

5. Marie Luise Kaschnitz: Das letzte Buch. In: M.L.K.: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Christian Büttrich u. Norbert Miller. 3. Bd. Die autobiographische Prosa II. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag, 1982. - S.408.

6. Isaac Asimov: Spaß beim Lernen. Aus dem Amerikan. übers. von Peter Ullmer. - In: Brennpunkt Zukunft. Bd. 2. Hrsg. von Walter Spiegl. Frankfurt/M.; Berlin; Wien: Ullstein, 1982. S. 80-83. (Zuerst veröffentlicht 1966 unter dem Titel "The Fun They Had" in "Galaxy Science Fiction".) - S. 80.

7. James Blish u. Norman L(ouis) Knight: Tausend Milliarden glückliche Menschen. Roman. Aus d. Amerikan. übers. von Helga Wingert-Uhde. - Hamburg; Düsseldorf: von Schröder, 1969. (Originaltitel: A torrent of faces. 1967.) - S. 142/143.

8. Louis-Sébastien Mercier: Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume. Dt. von Christian Felix Weiße (1772). Hrsg., mit Erl. u. e. Nachw. versehen von Herbert Jaumann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982. (Suhrkamp Taschenbuch; 676. Phantastische Bibliothek; 50. - Originaltitel: L'an deux mille quatre cent quarante. 1770 oder 1771.) - S. 113/114.

9. Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern. 3. Aufl., 5. und 6. Tausend. Berlin: Felber, 1900. 2 Bde. (Zuerst erschienen 1897). Bd. 1: S.65, 64, 80.

10. G. Erman: Deutschland im Jahre 2000. Kiel: Lipsius &Tischer, 1891. (Deutsche Schriften für nationales Leben; Reihe 1, Heft 4.) S. 7.

11. Albert Daiber: Anno 2222. Ein Zukunftstraum. Stuttgart: Strecker & Schröder, 1905. S. 5/6.

12. Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887. In der Übers. von Georg von Gizycki. Hrsg. von Wolfgang Biesterfeld. Stuttgart: Reclam, 1983. (Universal-Bibliothek; 2660 [4.].- Originaltitel: Looking backward. 2000 - 1887. 1888.) - S. 131 - 134.