Editorial
Informationskompetenz und Soziale Software - oder Auswirkungen des Sputnikschocks von vor 50 Jahren

Informationskompetenz und Soziale Software sind zwei Begriffe oder Phänomene, die in jüngerer Zeit Eingang in das Bibliothekswesen gefunden haben. Während die Vermittlung der Informationskompetenz seit einigen Jahren schon wesentlicher Bestandteil der sog. Teaching Library - warum nur diese Anglizismen? - und damit auch wesentlich für die Bibliotheksarbeit geworden ist, drängen sich Dienste der Sozialen Software wie Web 2.0, Wikis, Weblogs, Podcasts, RSS u.ä. gerade jetzt und verstärkt ins Bibliothekswesen ein. Deshalb wollen wir beide Phänomene in diesem Heft schwerpunktmäßig näher betrachten.

Wie hat alles angefangen? Es begann nicht allmählich oder evolutionär, sondern mit einem Paukenschlag, einem Urknall gleich, als vor fast 50 Jahren am 4. Oktober 1957 die damalige UdSSR erstmals einen Erdsatelliten namens Sputnik zur Überraschung der gesamten westlichen Welt ins Weltall schickte und sich somit technologisch ebenbürtig oder gar überlegen zeigte und damit den Überlegenheitsanspruch der USA und Westeuropas in Frage stellte.

Dieser sog. "Sputnikschock" löste schnell eine Ursachenforschung über das westliche Nachhinken aus, und ebenso schnell wurde der Grund dafür im mangelhaften Bildungssystem gefunden. In Deutschland löste Prof. Georg Picht mit seiner Bestandsanalyse "Die deutsche Bildungskatastrophe" 1964 heftigste Diskussionen aus. Der Sputnikschock führte dann schnell zu einer umfassenden Reformierung des gesamten Bildungssystems in den westlichen Ländern. Ungeheuere Mittel wurden von den US-Präsidenten Eisenhower und danach Kennedy und Johnson für den Bau und Ausbau von Schulen, Hochschulen und Bibliotheken freigesetzt. Der Atomwissenschaftler und Wissenschaftsorganisator Alvin Martin Weinberg machte bereits 1963 in dem nach ihm benannten Weinberg-Report "Science, Government, and Information" umfassende Vorschläge an die US-Regierung zur Verbesserung von Bildung und Information, die weltweit Beachtung fanden und verwirklicht wurden.

Danach sollten Bibliotheken nicht nur ausgebaut, sondern auch reformiert und vernetzt werden. Als erster Schritt dieser Reformierung setzte eine Abkehr vom alten Prinzip der Magazinbibliothek ein, hin zu freizugänglichen Beständen in Freihandbibliotheken; Open Access hieß das neue Schlagwort. Dies löste einen Bauboom zu größeren Flächen und Neubauten aus, die jetzt nach neuerstellten Regeln und Normen geplant wurden. Neue Universitäten und Bibliotheken wurden z.T. auf der grünen Wiese errichtet, und in Innenstädten oder auf dem historischen Campus, wo der Platz für die größeren Flächen nicht ausreichte, ging man in die Höhe und baute Turmbibliotheken oder in die Tiefe, wo unterirdische Bibliotheken entstanden. Vor allem aber der Benutzer, besonders der potentielle, geriet jetzt mehr und mehr in den Blickpunkt des Bibliotheksinteresses. Zahlreiche Benutzer-Studien führten zu dem neuen Gebiet der Benutzerforschung, wodurch ermittelt werden sollte, welche Bedürfnisse der Benutzer hinsichtlich der Bibliotheken hat und auf welchen Wegen er, und besonders der Wissenschaftler, zu seinen Informationen gelangt. Benutzerschulungen waren dann die konsequente Folge.

Für die ebenfalls geforderte Vernetzung der Bibliotheken wurden entsprechende Entwürfe und Programme entwickelt, die allmählich zu einer verstärkten Kooperation der Bibliotheken untereinander führten. Anstoß zu grundlegenden Veränderungen in Deutschland gaben von verschiedenen Gremien entwickelte Bibliothekspläne: 1969 der Bibliotheksplan I für die Öffentlichen Bibliotheken, dem 1973 der "Entwurf für ein umfassendes Bibliotheksnetz für die Bundesrepublik Deutschland" folgte sowie im gleichen Jahr der "Bibliotheksplan Baden-Württemberg" und schließlich der Bibliotheksplan für die neugegründeten Gesamthochschulen.

Erste Kooperationen fanden schon zuvor in der Katalogisierung der Bestände statt; statt auf Katalogkarten wurden Titelaufnahmen zunächst auf Lochstreifen, dann auf Magnetbändern aufgenommen und schließlich mit Hilfe der neueingeführten Computer hergestellt, um so austauschbar und vernetzbar zu sein. So entstanden Verbundsysteme, zunächst regional, später national und schließlich international.

Zum Nachweis der Literatur entstanden neben den bereits bestehenden Fachbibliographien spezielle Fachdokumentationen und später Fachdatenbanken, die meist außerhalb der Bibliotheken in Dokumentationsstellen und Fachinformationszentren erstellt wurden. Ungeahnte Informationsmöglichkeiten entwickelten sich schließlich durch das aus dem US-Programm zur "Vernetzung der Kommunikation" entstandene Internet. Dieser Bereich, der sich nicht mehr nur auf die Literaturvermittlung erstreckte, sondern zunehmend die gesamte Informationsvermittlung umfasste, ist inzwischen zu einem eigenen Markt geworden, auf dem sich alle möglichen Hosts, Content- und Informationsanbieter tummeln, die alles vermitteln, meist ohne Struktur und Unterscheidung zwischen gut und schlecht, sinnvoll und nicht sinnvoll, nutzbar oder nicht nutzbar. Beispiele dafür sind die zahlreichen Suchmaschinen, wie z.B. Google u.a., mit denen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Studenten, Schüler, ja jedermann inzwischen umgeht. Die so gelieferten Informationen führten zu einer wahren Flut, die schon in den 60er Jahren erkennbar war und mit den Schlagworten Informationslawine oder gar Informationsexplosion charakterisiert wurde, vor der bereits damals der Karlsruher Informatiker Karl Steinbuch mit seinen Büchern "Die informierte Gesellschaft" (1966) und "Falsch programmiert" (1968) warnte. Diese Flut oder Lawine hält bekanntermaßen bis heute an oder ist sogar noch größer geworden, und kaum ein Nutzer kann hier alleine durchfinden.

Hier haben inzwischen auch die Bibliotheken erkannt, wie wichtig es ist, Hilfestellung zu geben, nicht mehr nur in der Art der früheren Benutzerschulung, sondern mit der erwähnten Vermittlung von Informationskompetenz als neue Kernaufgabe der Bibliotheken in der sog. "Teaching Library" durch vielfältige Einführungs-, Schulungs- und Kursangebote, die fest in die Curricula der Studiengänge integriert werden. Beispiele dieser Art, wie auch neue Informationsvermittlungssysteme, sollen daher in diesem Heft vorgestellt werden.

Wilfried Sühl-Strohmenger, Mitautor des Buches "Teaching Library" (Bd. 9 B.I.T.online-Innovativ) schildert uns in seinem Beitrag über die Vermittlung dieser Schlüsselqualifikation Ziele, Anforderungen und Konzepte am Beispiel ausgewählter Hochschulbibliotheken.

Luzian Weisel setzt berechtigterweise schon früher an, nachdem mit Projekten wie "Schulen ans Netz" auch Schüler bereits munter und kritiklos "googeln". Er macht sich in seinem Beitrag stark für die Vermittlung von Informationskompetenz an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen in Zusammenarbeit mit Öffentlichen Bibliotheken und beleuchtet den Stand derartiger Initiativen in Deutschland. Gabriela Blum schließlich stellt mit ihrem Beitrag einen Vergleich der Kompetenzvermittlungsinitiativen zwischen Deutschland und den USA dar.

Zu den eben erwähnten neuesten Informationssystemen gehört mit Sicherheit die Soziale Software, die zur Zeit in alle Bereiche eindringt und die es ermöglicht, statt viel Zeit mit Suchmaschinen auf einer Fülle von www-homepages zu verbringen und eine Flut von z.T. unbrauchbaren und/oder irrelevanten Informationen zu erhalten, jetzt zeitsparend und gut strukturiert eine an den Interessen der Suchenden orientierte Sammlung von Neuigkeiten, Newslettern, Weblogs u.ä. zu erhalten, die mit Hilfe von RSS-Feeds erstellt und aktuell gehalten werden. Nicht mehr wenige erstellen die Informationen für viele, sondern viele Gleichgesinnte für alle; also eine Umkehr des Prinzips der Mächtigen one-to-many hin zu many-to-many. So entsteht gleichsam eine Kultur der Zusammenarbeit Vieler durch die Soziale Software.

Jürgen Plieninger erläutert mit seinen Kollegen Lambert Heller und Edlef Stebenau die Grundlagen dieses neuen Systems und die Chancen seines Einsatzes in der Bibliotheksarbeit. Auch rezensiert er zwei entsprechende Werke zu diesem Thema. H. Peter Ohly wirft mit seinen Vorbemerkungen zur WissKom 2007 in Jülich einen Blick in die Zukunft der wissenschaftlichen Kommunikation. Als eine Anwendung des neuen Systems im Bibliothekswesen und darüber hinaus schildert uns Wolfgang Ratzek mit seinen Studenten/Innen von der Stuttgarter Hochschule der Medien die Einrichtung eines Bibliotheks-Wikis, genannt B.I.T.Wiki, und dessen Möglichkeiten.

So schließt sich der Kreis von Schwerpunkten in diesem Heft, von dem wir hoffen, dass es Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, wieder viele Anregungen gibt und Sie vielleicht auch motiviert, sich in diese Social-Software-Plattform im Mitmach-Web einzubringen und an dem Gemeinschaftswerk Vieler, dem neuen und von uns mitinitiierten B.I.T.Wiki, mitzuwirken. Dafür sagt Ihnen besten Dank im Voraus

Ihr Dr. Rolf Fuhlrott
Chefredakteur