Küster, Marc Wilhelm:
Geordnetes Weltbild: die Tradition des alphabetischen Sortierens von der Keilschrift bis zur EDV. Eine Kulturgeschichte


- Tübingen: Max Niemeyer Verl., 2006. XV, 712 S.
ISBN 978-3-484-10899-8, € 74,00

Fast zeitgleich zum offiziellen Beginn des unter dem Motto ABC der Menschheit stehenden Jahres der Geisteswissenschaften erschien mit dem Titel Geordnetes Weltbild1 ein voluminöses Werk des Physikers, Literaturwissenschaftlers und Historikers Marc Wilhelm Küster, seit 2005 Professor für Informatik an der Fachhochschule Worms. Die Publikation erfasst fünfeinhalb Jahrtausende Kulturgeschichte, "immer der Spur folgend, die uns durch die Schrift und speziell durch die Anordnung ihrer Zeichen gelegt wurde" (S. 665) - zum ABC der Menschheit passend das ABC Europas.

Der Autor führt uns in einem großen Bogen von der sumerischen Listenkultur über die Entstehung des Alphabets bis zu den Wörterbüchern und Enzyklopädien der vergangenen zwei Jahrhunderte und den Codetabellen Anfang des 21. Jahrhunderts und damit auch durch die Entwicklung der Bibliographie und die vergleichsweise junge Geschichte der alphabetischen Katalogisierung in den Bibliotheken.

Das Buch enthält 18 Kapitel, ein Vorwort (leider nur in Form einer Danksagung, das eigentliche Vorwort im Sinne einer Einführung in den Gegenstand ist das letzte Kapitel u.d.T. Das geordnete Weltbild), einen Anhang (die Rede des Charon über Trissinos neue Buchstaben), eine umfangreiche Bibliographie, ein Personenregister und ein kombiniertes Orts- und Länderregister; ein Sachregister fehlt.

Die ersten drei Kapitel dienen der Einführung in die Grammatologie. Kapitel 1 beschäftigt sich mit dem Begriff Grammatologie, der neueren grammatologischen Literatur und der Methodik der Grammatologie. Grammatologie ist kurzgefasst die Wissenschaft von der Schrift im engeren Sinne und als Medium und Symbol des Wissens. Nach Küster beschäftigt sie sich mit (S. 20) den inneren Systematiken von Schriftsystemen, verstanden als konventionelle Zeichensysteme und -prozesse, mit dem komplexen Verhalten von Schrift und Sprache, mit anderen Wissenschaftsdisziplinen zusammen mit den kognitiven Prozessen von Denken und Schreiben sowie mit den verschiedenen Facetten von Schriftentstehung und -entwicklung, mit den Auswirkungen von Schrift und Schriftlichkeit auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Philosophie und Ökonomie. Nicht zu ihrem Gegenstand (S. 19-20) gehören u.a. Paläographie und Epigraphie, Typographie, Design, Graphik und ähnliche Bereiche, Schriftdidaktik im Primarunterricht sowie Graphologie.

Kapitel 2 Terminologie enthält Definitionen u.a. zu den Begriffen Buchstaben, Alphabet, Schriftzeichen, Schriftsysteme und semiotische Zeichen und Kapitel 3 Grammatologie der Anordnung Thesen zur Anordnung als sekundäre Eigenschaft vieler Schriftsysteme, zur Geschichte des Sortierens sowie zur Anordnung als linguistisches Phänomen.

Als besonders beeindruckend erweisen sich die Kapitel 4 bis 16, die der chronologischen Entwicklung des alphabetischen Sortierens gewidmet sind und auf die in dieser Rezension leider nur stichpunktartig eingegangen werden kann, z.B. die sumerische Listenkultur, die lexikalischen Listen in Ebla, die Alphabete auf Keilschriftbasis, die Entstehung des Alphabets, die Alphabete der Phönizier, Griechen, Etrusker und Römer, antike Enzyklopädien und Wörterbücher, mittelalterliche Glossare, sprachnormierende Wörterbücher in Italien, Frankreich und Deutschland (z.B. Zedlers Universal-Lexikon), die Encyclopédie Diderots und d`Alemberts als die Vernetzung des ganzen Wissens (S. 589) sowie die Wörterbücher und Enzyklopädien des 19. und 20. Jahrhunderts in Italien, Frankreich und Deutschland (z.B. der Brockhaus und der Meyer).

Kapitel 17 beschäftigt sich mit der Formalisierung der Sortierung im 20. und 21. Jahrhundert, ihren Gründen (Entstehung großer Archive, Aufkommen großer Forschungsbibliotheken, später dann der Fortschritt der elektronischen Datenverarbeitung) und den wichtigsten Arbeitsvorgängen und Regeln (Anordnung von Bibliothekskatalogen, Sortierung in Archiven, EDV in der Sortierung).

Kapitel 18 Das geordnete Weltbild ist eine sehr gelungene Einführung und Zusammenfassung der Untersuchungen.

Der Autor zeigt, dass die Phänomene Schrift und Sortierung zusammen entstanden sind und dass über die Jahrtausende trotz aller Wandlungen Anordnung und Wissen untrennbar miteinander verknüpft sind. In diesem Sinne ist seine Arbeit "eine grammatologische Studie zur Geschichte des Sortierens in seinen verschiedenen Facetten: als Instrument zum Wissenserwerb, als eigenständige Kultur- und Wissenstechnik und als immer wieder aktualisierter Mythos für die Ordnung der Welt" (S. 668) und somit auch eine wichtige Ergänzung zur bibliothekswissenschaftlichen Fachliteratur.

Küster hat eine fundierte, vielschichtige, äußerst aufwendig zu recherchierende Kulturgeschichte über elementare Grundlagen unseres Lebens geschrieben. Vor uns liegt ein über 700 Seiten umfassendes beeindruckendes Grundlagenwerk der jungen Grammatologie. Es ist insbesondere Kulturwissenschaftlern, Literaturwissenschaftlern, Linguisten, Vertretern der Semiotik und schließlich Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaftlern sehr zu empfehlen. Nach der Lektüre muss sich der Rezensent fragen, wie er bisher ohne eine solche zusammenfassende Betrachtung und wichtige Ergänzung zur Buch- und Schriftkunde ausgekommen ist.

Eine sehr interessante Ergänzung zu dem Buch von Küster ist die am 26. Juni 2007 eröffnete Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin anlässlich des Jahres der Geisteswissenschaften unter dem Motto Das abc der Bilder. Thema der Ausstellung ist die Magie der Sprache und der Schriftzeichen in der Bildenden Kunst von den frühen Hochkulturen bis in das 21. Jahrhundert.

Am Rande muss auf eine dieser exzellenten Arbeit nicht angemessenen Formulierung zu Fritz Prinzhorn, der Mitverfasser der 1926 erschienenen Einheits-ABC-Regeln war, hingewiesen werden: "Über ihn ist mir ansonsten nichts bekannt; seine weiteren Publikationen wie Die Aufgaben der Bibliotheken im nationalsozialistischen Deutschland bereits 1934 sprechen allerdings für sich." (S. 632) Leben und Werk von Prinzhorn sind in zahlreichen Veröffentlichungen gewertet und gewürdigt worden.2 Prinzhorn gehört zu den herausragenden deutschen Bibliothekaren des 20. Jahrhunderts. Der an der Berliner Königlichen Bibliothek/Staatsbibliothek ausgebildete Bibliothekar arbeitete an der Bibliothek der Technischen Hochschule Berlin, ehe er 1929 zum Direktor der Bibliothek der Technischen Hochschule Danzig und 1939 zum Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig berufen wurde. Nach der Gründung der Bundesrepublik war er bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden 1958 Direktor der Bibliothek des Auswärtigen Amtes in Bonn. Ihm in erster Linie ist es zu danken, dass die Dokumentation in Deutschland "hoffähig" geworden ist. Als einer der eifrigsten Verfechter der "Dokumentationsbewegung" und erster Leiter der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation beschäftigte er sich auch mit der Zukunft großer Fachbibliotheken; diese Gedanken führten in den 60er Jahren in Deutschland zur Gründung zentraler Fachbibliotheken. Prinzhorn, NSDAP-Mitglied seit dem 1. Mai 1933, hat sich zu Beginn des "Dritten Reiches" als Verfechter der nationalsozialistischen Bibliothekspolitik hervorgetan, sich danach aber nicht mehr als aktiver Nationalsozialist betätigt.3 Bei der von Küster erwähnten Publikation aus dem Jahr 1934 handelt es sich um einen Vortrag auf dem 30. Deutschen Bibliothekartag mit Vorgeschichte und Nachwirkung.4


Anschrift des Rezensenten

Prof. em Dr. Dieter Schmidmaier

Ostendorfstraße 50
D-12557 Berlin
E-Mail: dieter.schmidmaier@schmidma.de


Anmerkungen

1 Insofern ist das Erscheinungsjahr des Buches falsch, auf dem Handzettel und anderen Informationsmaterialien ist das Jahr 2007 ausgewiesen.

2 u.a. in Behrends, Elke: Technisch-wissenschaftliche Dokumentation in Deutschland von 1900 bis 1945. Wiesbaden, 1995. - Lohse, Gerhart: Die Bibliotheksdirektoren der ehemals preußischen Universitäten und Technischen Hochschulen: 1900-1985. Köln; Wien, 1985. - Buder, Marianne: Das Verhältnis von Dokumentation und Normung von 1927 bis 1945 in nationaler und internationaler Hinsicht. Berlin; Köln, 1976.

3 Hahn, Gerhard: Die Reichstagsbibliothek zu Berlin - ein Spiegel deutscher Geschichte. Düsseldorf, 1997. S. 573.

4 Verein Deutscher Bibliothekare. Festschrift / Hrsg. Engelbert Plassmann; Ludger Syré. Wiesbaden, 2000. S. 88.